Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

617-619

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ziche, Paul, u. Petr Rezvykh

Titel/Untertitel:

Sygkepleriazein – Schelling und die Kepler-Rezeption im 19. Jahrhundert. Unter Mitwirkung v. D. A. Di Liscia.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2013. 299 S. m. 6 Abb. = Schellingiana, 21. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-7728-2441-8.

Rezensent:

Christian Danz

»Ich glaube Ihnen meinen u. meines Schwagers Dank für Ihre Bemühungen nicht besser bezeugen zu können, als wenn ich aus einem eben an mich gekommenen Br[ief] m[eines] Schw[agers] dem ich das Verzeichniß der Keplerschen Handschriften mitgeteilt hatte; die darauf bezüglichen Stellen ab­schreibe. Unter anderm sagt er z[um] A[nfang]: ›Der Antheil, welchen Herr Sch[elling] an dem Unternehmen nimmt, ist f[ür] mich ein Sporn, von meiner Seite alles zu thun, was in meinen Kräften stehet, um solcher Unterstützung mich würdig zu zeigen, obgleich ich fürchte, diese Kräfte möchten in manchen Fällen nicht ausreichen, unserem alten Landsmanne die gebührende Ehre zu erweisen.‹« (201 f.)
Mit diesen Worten bedankte sich der Erlanger Philologe Joseph Kopp am 6. August 1839 bei dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling für dessen Unterstützung an dem Projekt einer Werkausgabe des Württembergischen Gelehrten Johannes Kepler. Die geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe der zwischen 1858 und 1871 erschienenen Edition der Werke des be­rühmten Astronomen thematisiert der hier anzuzeigende Band. Sowohl Paul Ziche als auch Petr Rezvykh haben wichtige Studien und Editionen zum Werk Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sowie zu wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen ausgearbeitet. Der Band schließt eine wichtige forschungsgeschichtlich Lücke, indem anhand von neuen Quellen der wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftspolitische Hintergrund der Kepler-Ausgabe im Spannungsfeld von spekulativer Naturphilosophie und empirischer Naturforschung minutiös rekonstruiert wird. »Daß bei der Planung der Kepler-Ausgabe derart unterschiedliche Traditionen konstruktiv zusammenwirken konnten, macht sie zu einem Indikator für eine komplexe, schulenübergreifende Diskussionslandschaft in der deutschen Philosophie und Wissenschaft dieser Zeit.« (3)
Die Untersuchung ist klar strukturiert und in vier Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt – »ins Gefilde tiefern Beschauns« – Kepler, Schelling und der schwäbische Blick auf den Himmel (13–93) – beleuchtet die Kepler-Rezeption zunächst im schwäbischen Kontext und die Inszenierung Keplers gegenüber Newton. Prägnant wird von Ziche Schellings Kepler-Rezeption im Zusammenhang seiner Identitätsphilosophie – vor allem im Hinblick auf dessen methodischen Leitbegriff der Konstruktion – herausgearbeitet (41–82) und die Linie zu seiner Spätphilosophie ausgezogen. Der zweite Abschnitt thematisiert unter der Überschrift Spekulation und Induktion – Schelling und die Kepler-Ausgabe von Christian Frisch (94–169) die Genese der Keplerausgabe im Spannungsfeld von Philosophie, Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Darauf folgt ein Epilog: »viel zu wenig beachtet« – Frischs Kepler-Edition in ihrer Vor- und Nachgeschichte (170–176), welcher der Kepler-Ausgabe von Christian Frisch nachgeht. Der vierte Abschnitt präsentiert wertvolle neue Quellenmaterialien zum Hintergrund des Editionsprojekts (177–270). Erklärende Anmerkungen zu den Archivalien (271–277), eine umfassende Bibliographie (278–294) sowie ein Personenregister (295–299) erschließen dem Leser den Band.
Für die weitere Forschung zur Wissenschaftsgeschichte im 19. Jh., zur Naturphilosophie Schellings sowie zur Kepler-Rezeption bietet der Band in mehrfacher Hinsicht wichtige und aufschlussreiche neue Erkenntnisse und Anregungen. Zunächst werden der Forschung zahlreiche bislang unbekannte oder nicht vollständig edierte Dokumente, vor allem auch aus der Korrespondenz und dem Nachlass Schellings, in einer mustergültigen Edition zur Verfügung gestellt. Insgesamt 30 Dokumente aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext des Editionsprojekts beleuchten das am­bitionierte Anliegen sowie dessen Protagonisten. Die Edition der Archivalien lehnt sich an die Editionsprinzipien der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings an. Ein nicht geringes Verdienst der vorliegenden Untersuchung besteht darin, dass sie die Einbettung von Schellings und Hegels naturphilosophischem Interesse an Kepler in die spezifisch Württembergische und Tübinger Kepler-Verehrung und Kepler-Forschung sehr viel detaillierter belegt, als das bislang möglich war.
Im Zusammenhang der Ausarbeitung seines Identitätssystems wendete sich Schelling seit 1802 erneut seinem Württembergischen Landsmann zu, insbesondere in seiner identitätsphilosophischen Deutung der Planetenbewegungen. Dokumentiert wird dies durch einen von den Autoren mitgeteilten Text aus dem Berliner Schelling-Nachlass mit dem Titel Ueber das erste keplerische Gesetz (91–93). Der methodische Leitbegriff von Schellings Identitätsphilosophie, die Methode der Konstruktion, erfährt durch die Studie ent­scheidende Präzessionen. Kenntnisreich und durchweg überzeugend werden von Ziche die Differenzen zwischen der ersten Darstellung des Identitätssystems von 1801 und den Ferneren Darstellungen aus dem Sys­tem der Philosophie (1802) anhand der Rezeption der Keplerschen Gesetze herausgearbeitet. Richtete sich die Untersuchung von Schellings Konstruktionsverständnis bislang vornehmlich auf die Mathematik sowie Immanuel Kants Begriff der Konstruktion, so werden durch die Einbeziehung seiner astronomischen Arbeiten im Gefolge Keplers ganz neue Perspektiven auf das methodische Verfahren der Identitätsphilosophie eröffnet, welche gewichtige Rückwirkungen auf deren Deutung insgesamt haben dürften. Die philosophische Konstruktion Schellings zielt nämlich nicht auf ein Deduktionsprogramm, demzufolge das Besondere aus dem Absoluten abgeleitet werden sollte. Vielmehr geht es um die Konstruktion des Besonderen im Horizont des Absoluten, welches selbst nur indirekt, eben als Medium, zur Darstellung kommt. »Eine Konstruktion, wie Schelling sie beabsichtigt, gibt also keine Gründe für ein Phänomen an. Wenn sie allgemeinere Strukturen einführt, dann nicht, um daraus deduktiv abzuleiten; sie ist in diesem Sinne wesentlich eine beschreibende Methode.« (57)
Die Untersuchung bietet über die Schellingforschung hinaus wichtige Perspektiven für die Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jh.s, indem die Überlagerungen empiristischer und idealistischer Traditionen in der Kepler-Rezeption herausarbeitet werden. Die Rekonstruktion der Quellen aus dem Kontext der Kepler-Edition sowie deren Einordnung in die Debattenlagen machen die Offenheit des Wissenschaftsdiskurses in der Mitte des 19. Jh.s deutlich. So unterschiedliche Forscher, wie der an Jakob Friedrich Fries geschulte Philologe Joseph Kopp, der spekulative Naturphilosoph Schelling, ein politisch fortschrittlicher Realgymnasiumslehrer wie Christian Frisch und ein aus der britischen Tradition stam mender Theoretiker und Historiker des induktiven Denkens wie William Whewell, bildeten ein »Personennetzwerk« (97) und arbeiten gemeinsam unter gleichlautenden Motivationen an Kepler als »virtuelle Kepler-Kommission« (8). Die Dokumentation der Entstehungsgeschichte der Kepler-Edition enthält eine wichtige kulturgeschichtliche Dimension. An der Kepler-Rezeption im 19. Jh. wird der Übergang von regionalen Interessen und Traditionen zu nationalen Angelegenheiten exemplarisch sichtbar. Das Projekt der Edition der Werke Keplers belegt die Verbindung von Universität und außeruniversitärer Forschung, da der federführende Herausgeber, Christian Frisch, an einem Gymnasium angestellt war, sowie die diplomatischen Strukturen im Hintergrund des Projekts. Insgesamt legt der Band anhand der konkreten Editionspraxis der Ausgabe der Werke Keplers eine Fallstudie zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Wissenschaftssystem in der ersten Hälfte des 19. Jh.s vor.
Die sorgfältig edierte Untersuchung bietet einen wichtigen Beitrag zur Naturphilosophie Schellings, zur Wissenschaftsgeschichte und Kepler-Rezeption des 19. Jh.s sowie zu den Hintergründen der Gesamtausgabe der Werke von Johannes Kepler.