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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

875–878

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Otto, Eckart

Titel/Untertitel:

Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament: Deuteronomium 1–11. Hrsg. u. übers. v. E. Otto.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2012. Erster Teilbd.: 1,1–4,43. 622 S. m. 10 Abb. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-451-26808-3. Zweiter Teilbd.: 4,44–11,32. XXII, 450 S. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-451-34145-8.

Rezensent:

Raik Heckl

Mit seinem Kommentar führt Eckart Otto über 20 Jahre eigener Forschung am Deuteronomium zu einer Synthese. Seine Arbeit daran nahm ihren Ausgangspunkt am Anfang der 90er Jahre, als er sich mit dem Verhältnis der alttestamentlichen Rechtskorpora zueinander und zu den altorientalischen Rechtstexten beschäftigte. Im Hintergrund der alttestamentlichen Korpora erkannte O. Rechtsrevisionen, die von theologischen Rechtsbegründungen be­gleitet waren. Entsprechend konnte er eine regelrechte Rechtsgeschichte des Alten Israel im Zeugnis der Hebräischen Bibel nachzeichnen. Die sozialen Prozesse und Absichten, die eine Veränderung der Rechtstexte notwendig machten, sind nach O. für das Verständnis der Texte entscheidend. An diesem Punkt scheint mir die Grundlage der wichtigsten methodischen Prämisse von O.s Kommentar zu liegen. Denn darin fragt O. niemals nur nach den Unterschieden zwischen diachron voneinander abzuhebenden Schichten, sondern immer auch nach der im Hintergrund stehenden Motivation und nach der in die Texte eingeschriebenen Hermeneutik, die auf die intendierten Adressaten abzielt.
Mit dem ersten Band des Kommentars, der in zwei Teilbänden erschienen ist, ist die Kommentierung Dtn 1–11 abgeschlossen. In der von E. Zenger begründeten Reihe »Herders theologischer Kommentar« versucht man, eine umfassende Kommentierung auf dem letzten Stand der Forschung in einem überschaubaren Zeitraum zu bewerkstelligen. Daher ist in nicht ferner Zukunft mit dem Abschluss des Deuteronomiumkommentars zu rechnen, womit ein seit Jahrzehnten bestehendes Desiderat im deutschsprachigen Bereich geschlossen wird.
Der Deuteronomiumkommentar von O. ist der historischen Kritik verpflichtet und sieht sich damit selbst in der Tradition jener Bibelkritik, die seit der Aufklärung mit den Texten des Pentateuchs gerungen hat, und seine Arbeit als deren »produktive Fortentwicklung« (15). Historische Kritik geht bei O. nicht darin auf, verschiedene literarische Schichten voneinander abzuheben. O. nimmt durchgängig den abgeschlossenen Endtext des Buches und seiner Teile in den Blick. Dies geschieht methodisch so, dass er seinen diachronen Überlegungen in jedem Einzelabschnitt eine synchrone Analyse voranstellt. Diese dient einerseits dazu, den Aufbau und die Funktion des Teiltextes zu erheben, andererseits dazu, Hinweise zusammenzutragen, die dann in der diachronen Analyse redak tionsgeschichtlich zugeordnet werden können. Die Kommentierung erfolgt auf dem Hintergrund dieser beiden Schritte. An sie schließt sich jeweils noch einmal eine Reflexion des Textes und seiner Schichten in der Theologie des Deuteronomiums und der Rechtshermeneutik des Pentateuchs an. In diesen synthetischen Arbeitsgängen wird geklärt, wo die rekonstruierten Teiltexte ihren inhaltlichen Horizont haben. Die beiden Aspekte »Theologie des Dtn« und »Rechtshermeneutik des Pentateuchs« sind nach O. die beiden bestimmenden Phasen der Genese des Deuteronomiums.
Die Kommentierung der beiden Teilbände umfasst mit Dtn 1,1–4,43 und Dtn 4,44–11,32 auf insgesamt zusammen nahezu 1100 Seiten die erste Moserede und den ersten Teil der zweiten Rede. Dem ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt. Das Buch hat dort eine umfassende Literaturliste, zudem ist jedem Haupt- und Unterabschnitt jeweils eine eigene Bibliographie beigegeben. Die Nennung der Sekundärliteratur entspricht damit dem Gang des Kommentars vom Allgemeinen zum Speziellen. Diese mehrstufige Literaturgabe erleichtert die Arbeit mit dem Buch beträchtlich, da man sehr schnell in die Lage versetzt wird, zitierte Literatur nachzulesen. Dadurch wird dieselbe Literatur in einigen Fällen mehrmals aufgeführt, was den Umfang des Werkes zwar unwesentlich vergrößert hat, doch die Nutzbarkeit verbessert.
Es folgt nach der ersten Literaturliste eine umfangreiche Forschungsgeschichte zum Buch Deuteronomium, wobei aus dieser Perspektive auch ein Blick auf den Pentateuch insgesamt und auf das sogenannte dtr Geschichtswerk geworfen wird, wo dies die referierten Thesen nötig machen. Die Punkte 2. »Die Literaturgeschichte des Buches Deuteronomium als Teil der Tora« und 3. »Das Deuteronomium in der Theologie und Rechtshermeneutik des Pentateuch in synchroner Perspektive« enthalten eine Zusammenfassung der Ergebnisse von O.s langjähriger Deuteronomiums- und Pentaeuchexegese und zugleich das Programm des Kommentars. Punkt 2 stellt die Thesen zur Literargeschichte des Deuteronomiums vor, während Punkt 3. den Blick auf das Deuteronomium im abgeschlossenen Pentateuch richtet. Die synchrone Perspektive ist als Synthese auch der literarhistorischen Arbeit zu verstehen. Unter 4. folgt ein kurzer Abschnitt mit dem Titel »Name und Stellung des Buches Deuteronomium im Kanon«.
Der Aufbau der Einleitung wiederholt sich bei den Hauptabschnitten. Diese werden ebenfalls mit einer forschungsgeschichtlichen Standortbestimmung inklusive einer vorangehenden Literaturliste eröffnet, an deren Ende eine knappe Zusammenfassung der Thesen steht. Am Ende folgt eine synthetische Evaluation der Ergebnisse von Kommentierung und erarbeiteter Literargeschichte, wobei nach den Konzepten des Endtextes im Blick auf seine Entstehungsgeschichte gefragt wird. Ähnlich geht O. auch bei den kommentierten Einheiten vor. Hier freilich stehen zunächst ganz klassisch Literatur, Übersetzung und Textkritik am Anfang. Es folgt exkursartig abgehoben jeweils eine »synchrone Analyse«, die dem Aufbau und Argumentationsgang sowie bereits bekannten Kohärenzproblemen nachgeht, und anschließend eine »diachrone Analyse«, die O.s literarkritische Entscheidungen vorwegnimmt. An die eigentliche Kommentierung schließt sich jeweils unter der Überschrift »Synchrone Analyse« »in der Theologie und Rechtshermeneutik des Buches Deuteronomium« ein Abschnitt an, in dem die Ergebnisse zum Einzelabschnitt in den Kontext des abgeschlossenen Deuteronomiums gestellt werden. Zu diesem Aufriss kommen sechs Exkurse hinzu, die traditionsgeschichtliche Fragen – darunter auch das Verhältnis von zentralen Texten des Deuteronomiums zu Texten des Tetrateuchs – in den Blick nehmen.
Bestechend ist an dem Werk bereits die einleitende Forschungsgeschichte. Diese ist nicht nur detailreich, sondern auch überaus pointiert und dabei gut lesbar gehalten. Das Ziel des Kommentars im Blick macht O. bereits an verschiedenen Stellen deutlich, wenn er sich einem Beitrag der Forschung im eigenen Konzept und Kommentar anschließt oder von ihm abgrenzt. Doch die Forschungsgeschichte ist nicht nur die Folie, sie bietet umfassend den Ertrag der Forschung bis in die Gegenwart und ist so nicht nur für Fachexegeten hilfreich, sondern lässt sich auch für den Einstieg in das Thema empfehlen. Die Überschrift des zweiten Abschnittes »Die Deuteronomiumsforschung jenseits der Literarkritik von Norbert Lohfink bis zur Gegenwart« (146) ist als Kompliment an Norbert Lohfink gerichtet, der eine Epoche der Diskussion um den Sinn einer bestimmten Form der Literarkritik eingeleitet hat. Doch bespricht O. danach noch eine ganze Reihe von literarkritischen Entwürfen. Die Forschungsübersicht ist auch in ihrem letzten Abschnitt (186 ff.) beispielgebend, wo synchrone und methodenkritische Positionen zu Wort kommen, die in der herkömmlichen redaktionsgeschichtlich orientierten Forschung oft außer Acht gelassen werden. Im ersten Moment überraschend ist, dass sich nach den Einleitungsabschnitten zur Literargeschichte und zum Verständnis des Buches im Rahmen des Pentateuchs ein Abschnitt anschließt, der Name und Stellung des Dtn im Kanon behandelt (280–282), doch handelt es sich dabei um die über die Grenze des Pentateuchs logisch erweiterte Frage nach der Sicht des Buches im Kontext der Hebräischen Bibel und in der Septuaginta.
Die Rezension eines Kommentars kann nicht der Ort einer intensiven Auseinandersetzung mit allen enthaltenen Thesen sein. Daher können exemplarisch nur einige Punkte erwähnt werden: Es war mir immer eine religionsgeschichtlich einleuchtende Interpretation von L. Perlitt, dass die Vermeidung von יניס im Dtn mit der auch in Palästina bekannten Verehrung des Mondgottes zu­sammenhängen dürfte. So korrekt die religionsgeschichtliche Fragestellung auch ist, so stellt O. doch überzeugend heraus (315 ff.), dass im vorpriesterlichen Pentateuch wohl noch gar nicht יניס gestanden haben dürfte. Es handelt sich eher um eine Stilfrage. Die Wüste Sin und der Berg Sinai in priesterlichen Texten stehen dem Horeb in dtn/dtr Texten gegenüber. Ich frage mich daher, ob die priesterlichen Autoren damit vielleicht auch wie an anderen Stellen versucht haben, die Geographie genauer zu erfassen. Die Frage stellt sich freilich, warum im Dtn an Textstellen, die postpriesterlich zu jenen Schichten gehören, die das Deuteronomium in den Pentateuch integriert haben (z. B. Dtn 4,15), nicht der Sinainame verwendet wird. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass der dtn Kontext die späteren Autoren stark beeinflusst hat.
Zur Redaktionsgeschichte seien mir zwei Anfragen erlaubt:
O. macht bei einigen Textbereichen deutlich, dass er diese für komplex gewachsene Abschnitte hält. Beispielsweise gehören in Dtn 5 f. abgesehen von Dtn 6,10–19 (786) alle Bestandteile zur Horebredaktion (241). Dtn 6,4 f. hat eine wesentliche Bedeutung für andere Teile des Deuteronomiums. So nimmt der Abschluss des Gesetzeskorpus in der Bundesformel Dtn 26,17 darauf als Teil der Horebredaktion Bezug. Dennoch hält O. daran fest, dass Dtn 6,4 f. ursprünglich die »Einleitung des spätvorexilisch-deuteronomischen Deuteronomiums« (796) war. Angesichts des großen Abstands zwischen Dtn 6,4 f. und dem Gesetzeskorpus und den mehrfachen Überarbeitungen im Kontext, kann man m. E. lediglich sagen, dass das Sch ema dort und an anderen Stellen als wesentlicher Text angesehen wird. Könnte es angesichts dessen nicht eher sein, dass mit Dtn 26,17–19 am Ende des Korpus, wo nicht so ein starkes Überarbeitungsinteresse existiert hat wie bei Textanfängen und gliedernden Überschriften, ein alter Verweis auf den Anfang von Dtn 6,4 f. in seinem ursprünglichen Kontext stehen geblieben ist? O. sieht einen sekundären Zusammenhang: Aufgrund der Betonung des םויה in Dtn 26,17 sieht er eine Verbindung zu Dtn 5,3. Doch kann dieses terminologische Argument die These tragen? Während םויה in Dtn 5,3 klar auf den Zeitpunkt der Moserede verweist, bezieht sich Dtn 26,17 pragmatisch wesentlich stärker auf die Rezeption der Moserede durch die intendierten Adressaten. An diesem Punkt ist zu erwähnen, dass O. solche Verfahren auch kritisiert: »Wenn ein neues Thema Hinweis auf einen neuen Autor sein soll, dann wird unterstellt, dass ein Autor nur ein Thema behandeln könne, was kaum als eine sinnvolle exegetische Voraussetzung gelten kann. Das Gleiche gilt für die Argumentation mit Leitworten […].« (535)
Die Unterscheidung einer Horeb- und einer Moabredaktion gehört zur redaktionsgeschichtlichen Basis der Kommentierung (vgl. 239–247). Einleuchtend werden in der Arbeit der Charakter der Texte und die unterschiedlichen Perspektiven in Dtn 1–11 und im Deuteronomiumsrahmen insgesamt entschlüsselt. Meine Frage an die Charakterisierung der Horebredaktion ist allerdings immer noch, ob es für die intendierten Adressaten im Exil nachvollziehbar gewesen ist, dass das Dtn durch eine Redaktion vom Sinai in das Land Moab verlagert werden konnte. Spricht nicht die Einbindung des Dekalogs, dessen Autorität festzustehen scheint, eher dafür, dass man sich auch in den der Horebredaktion zugerechneten Texten auf den Horeb als Geschehen der Vergangenheit zurückbezieht? Könnte man nicht eher von einer Wüsten- oder Auszugsperspektive im Gegenüber einer klaren Moabperspektive sprechen?
Als ein letztes Beispiel möchte ich die Kommentierung von Dtn 4 hervorheben, da an dieser Stelle die exegetische Methodik und ihre Effektivität besonders eindrücklich sind. Dort vermag O. exemplarisch zu zeigen, dass der Numeruswechsel »ein Mittel theologischer Strukturierung des Textes im Dienste seiner Hermeneutik ist« (261). Er dient in Dtn 4 der Perspektivabgrenzung von der überwiegend pluralischen »Unheilsankündigung« zur »prophetischen Heilsankündigung« (573 f.). Der Wechsel im Zitat aus Jer 29,13 f. entspricht einer theologischen Interpretation des Jeremiatextes, wonach das bereits von Jeremia angekündigte Heil einem Rest aus Israel gilt (576). Und möglicherweise – so kann man anschließen – soll der Jeremiatext kritisch im Lichte von Dtn 4 gelesen werden. Wenn damit in dem mehr oder minder einheitlichen späten Text der Numeruswechsel mit der Hermeneutik des Textes zusammenhängt, dann ist man gespannt, wie es sich im Einzelnen mit dem Numeruswechsel in den literarhistorisch aufzulösenden Passagen des Gesetzeskorpus (besonders Dtn 12) verhält.
Der Kommentar ist ein klar literarhistorisches und diachron ar­beitendes Werk. Die synchronen Analysen dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Manche rein synchron orientierte Exegeten, die den Charakter der biblischen Texte als Traditionsliteratur ausblenden, werden entsprechend enttäuscht sein oder sich bei der Lektüre auf die synchronen Analysen beschränken. Doch der Weg der Exe-gese kann es nicht sein, die literarische Geschichte der Texte zu vernachlässigen. Vielmehr muss die synchrone Exegese dem ge­schichtlichen Charakter der biblischen Texte dienen und die Grundlage der diachronen Fragestellungen bilden. O.s Ansatz zeigt, dass die literarischen Vorstufen nicht einfach nur taubes Material von Redaktoren waren. Vielmehr waren die Textvorlagen jeweils Teil einer Kommunikationskultur, mit der die Redaktoren im Austausch standen. Mit der Frage nach der Hermeneutik der späteren Fassungen gegenüber den Vorlagen geht O. in diese Richtung. Damit hat O. etwas angestoßen, was das Potential hat, die eingefahrenen Geleise der Literar- und Redaktionskritik gründlich zu überholen. O. ist sich methodisch dessen bewusst, wenn er beispielsweise die Probleme der Wellhausenschen Exegese hervorhebt (154).
Mit O.s Forderung, dass man in den redaktionsgeschichtlichen Phasen jeweils Anhaltspunkte finden muss, wie die neue Textgestalt bei den Adressaten plausibel gemacht wurde, wird außerdem die Pragmatik in die literarhistorische Arbeit eingeführt, die O. durchgehend im Blick behält. O. bezieht sich auf die kommunikative Funktion mit dem Begriff der Erzählzeit: »Eine jede Generation, die durch das Buch Deuteronomium angesprochen wird, ist mit der Zweiten Generation, die von Mose im Land Moab angesprochen und mit der der Bund geschlossen wird, identisch (Dtn 29, 9–14)« (274). Insgesamt ist die außerordentlich gründliche Kommentierung ein Werk, an dem in Zukunft niemand, der am Deuteronomium arbeitet, wird vorbeigehen können. In dieser Hinsicht wünsche ich O. gutes Gelingen bei der weiteren Arbeit am Ab­schluss des Kommentarwerkes.