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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1179–1180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reformationsgeschichtliche Sozietät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spurenlese (2). Kulturelle Wirkungen der Reformation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 510 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 20. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03132-0.

Rezensent:

A. B.

Ein umfangreicher Sammelband ist anzuzeigen, der 23 in sich ge­schlossene Panoramen, Relationsanalysen und Fallstudien präsentiert, die allesamt interessierte Beachtung verdienen, ohne doch zu einem kohärenten oder auch nur anregenden Gesamtkonzept zusammenzufinden. Die daraus resultierende Beliebigkeit – ebenso gut hätten 100 andere Aufsätze in dem Band stehen können – ist der überaus vagen Leitidee der Herausgeber, die namenlos nur als die »Reformationsgeschichtliche Sozietät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg« in Erscheinung treten, geschuldet.
Der den Band eröffnende knappe Essay von Wolfgang Flügel, in seiner Funktion offenbar zugleich Vorwort und Einleitung, be­nennt als integratives Erkenntnisinteresse die Frage, welche »nicht intendierte[n] Wirkungen, die weit über den religiösen Bereich hinausgriffen« (9), die von Luther initiierte Reformation ausgelöst habe und inwiefern die dadurch angestoßenen Transformationsprozesse dann ihrerseits wieder, etwa durch »Rationalisierung, Pluralisierung und Privatisierung«, auf »den Protestantismus« (13) zurückschlugen. Wahrscheinlich wäre der Versuch einer Klärung, was unter »religiösem Bereich«, »unserer gegenwärtigen Kultur« (10), »protestantischen Prägekräften« (13) oder »Wirkungen der Reformation« (13) denn nun distinkt zu verstehen sei, durchaus hilfreich gewesen. Auch die Frage, ob der religiöse und theologische Rationalisierungs- und Pluralisierungsprozess, den die Frühe Neuzeit, freilich keinesfalls undialektisch, verzeichnet, tatsächlich nur dem Fremdeinfluss aus »nicht-religiösen Bereichen« geschuldet und nicht vielmehr auch, vielleicht sogar in erheblichem Maße, aus genuin reformatorischen Wurzeln erwachsen war, wäre der sachkundigen Erörterung wert.
Die Bedeutung der einzelnen Beiträge wird durch derlei konzeptionelle Unschärfen nicht im Geringsten gemindert. Brillante Analysen zur »Entstehung der Menschen- und Bürgerrechte« (Matthias Koenig), »The Victorian Leisure Revolution in English Protes­tantism« (Hugh McLeod) oder zur Lutherrezeption in Afrika, Asien und Lateinamerika (Frieder Ludwig) stehen neben minutiösen Detailstudien etwa zum Einfluss von Luthers Schrift De servo arbitrio auf Schelling und Schopenhauer (Lars-Thade Ulrichs), zu Johann Sebastian Bachs Umgang mit Bibel und Gesangbuch (Chris-toph Wolff) oder »Zum Verhältnis von deutscher Sozialdemokratie und Protestantismus im Kaiserreich« (Sebastian Kranich); höchst kompetente Übersichtsartikel ergründen das Verhältnis von »Protestantismus und Bildende[r] Kunst« (Jan Harasimowicz), von »Charismatische[n] Bewegungen und Protestantismus« (Peter Zimmerling) oder von »Luthertum und Marktwirtschaft« (Daniel Dietzfelbinger). Die abschließende Skizze »Modernisierung als kulturprotestantische Metaerzählung« des Religionssoziologen Hans Joas kann durchaus als die geistreiche, vielfältig anregende Krönung des Bandes gelesen werden.
Als kulturhistorisches Lese- und Studienbuch hat die Sammlung, sofern man das, was der Untertitel in Aussicht stellt, exemplarisch versteht, ihren unbestreitbaren Reiz.