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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1371–1373

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weber, Barbara

Titel/Untertitel:

Zwischen Vernunft und Mitgefühl. Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2013. 324 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48594-1.

Rezensent:

Stephan Jütte

Barbara Weber, Professorin für Philosophie und Psychologie am Departement für Human Development, Learning and Culture an der University of British Columbia in Kanada, legt mit dem zu besprechenden Titel einen Teil ihrer in drei Bänden erschienenen Habilitationsschrift vor.
Bisher haben Habermas und Rorty vor allem miteinander gesprochen: über den Wahrheitsbegriff, politische Aktualitäten und immer wieder über die Rolle der Philosophie in der Gesellschaft. Nachdem der Poet verstummt ist – unter anderem so be­zeichnete Habermas den 2007 verstorbenen Rorty in seinem Nachruf –, führt W. beide nochmals vor der Kulisse der ethischen Geltungsfrage für Begründungen sittlichen Handelns auf. Diese Be­gegnung kumuliert in der Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Menschenrechte unter Bedingungen von »Werteskeptizismus, Werterelativismus und Werteindifferenz« (15).
W. identifiziert die Positionen Habermas’ und Rortys innerhalb des Legitimierungsdiskurses der Menschenrechte unter Voraussetzung der Globalisierung als prototypische und zugleich konträre Positionen, zu denen sie keine Alternative zu erkennen vermag. Den Antagonismus beider, bei gleichzeitiger Einhelligkeit des praktisch-philosophischen Ziels, nämlich der Herstellung eines Minimalkonsenses, demonstriert sie anhand der theoriestrategisch unterschiedlich antizipierten Durchsetzung der Menschenrechte. Während Rorty durch Narrationen ein umfassendes Mitgefühl als Grundlage eines Miteinanders ohne Grausamkeit und Demütigung kultivieren wolle, suche Habermas das Heil einer in sich bedrohten Moderne in einer idealen Diskurssituation, welche auf rationalen Kriterien basiere.
W.s Untersuchung ist dreiteilig: Zunächst stellt sie Habermas’ Grundlagentheorie dar, welche sie eigenständig systematisiert, in einer ersten Zwischenbetrachtung bündelt und mit Anfragen konfrontiert. Da sie das Buch bereits Ende 2009 abgeschlossen hatte, findet keine (eingehende) Auseinandersetzung mit den Texten aus den Sammelbänden »Ach, Europa« (2008), »Philosophische Texte (I–V)« (2009) und »Nachmetaphysisches Denken II« (2012) statt. Fokussiert auf den Aufsatz »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie« (1998), rekonstruiert W. das deliberative Demokratieverständnis und die Rechtsphilosophie Habermas’. Diese schließt sie über die Verbindung mit dem Aufsatz »Menschenrechte – global und innerstaatlich« (1996) an die Menschenrechtsthematik als »Strategien der Einbeziehung des Anderen« (65) an.
Die Voraussetzungen der Rechtsphilosophie gründen in der Diskurstheorie, welche W. im folgenden Unterkapitel einführt und sich dabei am Aufsatzband »Nachmetaphysisches Denken« (1988) und den »Erläuterungen zur Diskursethik« (1991) orientiert, die sie über die genannten Strategien an das rechtsphilosophische Hauptwerk »Faktizität und Geltung« (1992) rückbindet. Als »Fundament« der Diskurstheorie fungiert die kommunikative Vernunft. W. macht diese unter dem Schlagwort »intersubjektive Wende« als Weg zwischen der Skylla des »privatime[n] Gedankenexperiments des kategorischen Imperativs« und der Charybdis der »Internalisierung des ›generalized other‹« (128) beliebt. Indem die Intersubjektivität der Öffentlichkeit zum Sitz der Vernunft werde, erreiche die Einbeziehung des Anderen eine weitere Stufe, insofern er als gleichberechtigter Anderer vorausgesetzt werden müsse. Diese Rekonstruktion, welche den Weg von der politischen und rechtsphilosophischen Theorie zum inneren Kern des Vernunftbegriffs geht, führt W. zu der These, dass die in der kommunikativen Vernunft verankerte, empirisch überprüfbare Einbeziehung des Anderen das vormoderne Mitgefühl ersetze (vgl. 129). Mit der Absicht, diese Theoriekonzeption »für die politische Bildung nutzbar zu machen« (142), konfrontiert sie sie kursorisch mit verschiedenen Anfragen. Dabei böten aus der Sicht des Rezensenten besonders die Kritiken der motivationalen Insuffizienz der Diskursethik und die Be­grenzt­heit der Möglichkeiten interkulturellen Verstehens An­knüpfungspunkte für Rorty.
Stattdessen schließt W. nun eine dreiteilige Darstellung der philosophischen Position Rortys an, welche diesen in der Debatte um die Legitimität und praktische Durchsetzbarkeit von Menschenrechten verortet, seine auf erkenntnis- und wahrheitsphilosophischen Grundlagen operierende Philosophiekritik darstellt und schließlich daraus eine »Schule des Mitgefühls« (158) ableitet. Im Gegensatz zu Habermas gehe es Rorty nicht um die normative Sicherung moralischen Verhaltens, sondern um die Gewährleistung des motivationalen Antriebs dazu. Menschenrechte müssen demnach nicht argumentativ verteidigt, sondern kulturell kultiviert werden. Der »Anti-Platonist« Rorty gebe das »ewige Wissen« auf, um andere Kulturen und Weltbilder unter einer hoffnungsvollen Zukunftsperspektive zur Mitarbeit an einer »weniger grausamen Zukunft« zu versammeln (171). Die Ausführungen zu Rortys Rechtfertigungsverständnis lassen, ungeachtet aller Differenzen in wahrheitstheoretischen Fragen, dessen Nähe zu Habermas aus praktisch-philosophischer Perspektive so deutlich hervortreten, dass W. mühevoll den Unterschied zwischen beiden betonen muss. Weil durch diese Darstellung deutlich wird, dass Rorty die Vision einer hoffnungsvollen Zukunft an die sprachliche Vermittelbarkeit – unter Absage an vorausgesetzte Wertesysteme – knüpft, also die »gemeinsame Sprache« (267) als Quelle solidaritätsstiftender und projektiv orientierender Semantiken identifiziert, entsteht der Eindruck, dass hier – bezogen auf die politische Philosophie – ein Scheingefecht oder bestenfalls ein Freundschaftsspiel aufgeführt wird. W. will denn auch – quasi als Konklusion der Untersuchun g– das Mitgefühl mit der kommunikativen Vernunft harmonisieren (vgl. 257).
Freilich zeigen sich markante Unterschiede, insbesondere in Fragen der Bestimmung der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie und der Operationalisierung von Menschenrechten: Rorty sieht in der Philosophie eine Gesprächspartnerin, die sich reflexiv-kritisch und selbstbescheidend zu ihrem eigenen Tra­ditions­bestand verhält (vgl. 207), während Habermas ihr die Moderationsrolle in praktischen und theoretischen Diskursen zumutet. Rorty will Menschenrechte durch eine Kultur des Mitgefühls praktisch zur Durchsetzung bringen, während Habermas dieses Mitgefühl mit der Bedingungsmöglichkeit von Diskursen, konkretisiert im Anspruch der wechselseitigen Perspektivübernahme, voraussetzt (vgl. 268).
W. leitet daraus eine Alternative ab: »Basiert Solidarität auf ­Mitgefühl oder auf rationalem Verstehen?« (270) Dabei ist für W. die These leitend, dass diese Differenz in der politischen Philosophie auf unterschiedlichen epistemologischen Voraussetzungen beruhe, welche sie in einem Exkurs zum Wahrheitsbegriff ausführt. Die darauffolgende Gegenüberstellung, welche Habermas als rationalen Kommunitaristen, Rorty als solidarischen Liberalisten typisiert (313), hätte es in den Augen des Rezensenten jedoch nahegelegt, die Protagonisten zwei unterschiedlichen Problemfeldern der praktischen Philosophie zuzuordnen, um sie dann aufeinander zu beziehen: Rorty nimmt das motivationale Problem moderner Individualethik in den Blick, Habermas die praktische Umsetzbarkeit ethischer Orientierung als soziale Praxis. Das Resultat dieser Untersuchung ist denn auch keine Vermittlung beider Positionen, sondern eine »phänomenologische Fußnote« (313), innerhalb deren W. die Bedingungsmöglichkeit des Perspektivenwechsels, nämlich das Mitgefühl, an die Empfindungsfähigkeit des Körpers zurückführen will und in Aussicht stellt, dieses Desiderat in einer weiteren Publikation zu bearbeiten.