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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1496–1497

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lienhard, Fritz, u. Adrian Bölle

Titel/Untertitel:

Zur Sprache befreit – Diakonische Christologie. Theologischer Umgang mit dem Leiden.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. IX, 232 S. = Theologische Anstöße, 5. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7887-2746-8.

Rezensent:

Thomas Zippert

Noch ein Buch über die Theodizee? Dieses Buch zeichnet zweierlei aus: Fritz Lienhard hat seine Gedanken mit denen eines Studenten zusammengedacht, weil ihm das »Ergänzungsverhältnis« beider aufgefallen ist – im Verlauf der Lektüre fallen Brüche nicht ins Gewicht – ein seltenes Beispiel gelungener theologischer Lehrerschaft, die sich den Gedanken der Studierenden öffnet! Zum anderen versuchen beide, nicht im akademischen Turm zu bleiben, sondern »das Leiden der Menschen, die Klagepsalmen sowie Kreuzestheologie und kirchliche Praxis miteinander zu verknüpfen« (V).
Die Verbindung von Exegese, Systematik, gelegentlicher Philosophie (Stoa, Kant, Camus) und Praktischer Theologie ist insgesamt zwar durchgehalten, aber sie scheint mir nicht voll gelungen, weil die in diesen Bereichen so vielfältige und unterschiedliche Praxis hinter der Fülle der zitierten und verarbeiteten Diskursstränge zum Leiden, zur Sprache der Klage, zur Theodizee, zu Christologie, Soteriologie und der Lehre vom Übel doch etwas zurückbleibt. Mit dem theologischen Begriff des »Leidens« wird sie mehr verdeckt als zur Sprache gebracht.
Gut für unsere deutsche Situation ist der häufige Verweis auf die nur selten wahrgenommenen französischsprachigen Diskurse. Die Verknüpfung all dieser Diskurse ist ein anregender Essay. Er kulminiert in der These, dass die Klage bzw. das Klagegebet – auch die ausführlich und vieldimensional analysierte Klage Jesu in Psalm 22 – den Menschen aus der Verzweiflung der Sprachlosigkeit zur Sprache befreit und so zwar nicht vom Leiden befreit, aber zu einem anderen Umgang mit ihm. Denn es geht weder darum, dass Gott gegen den Leidenden Recht behält (Anselm, Leibniz) oder der Mensch in seinem Leiden, und sei es in der Revolte à la Camus, sondern darum, dass der Mensch nicht vom Leiden bzw. auch vom Leiden am Leiden überwältigt wird. »Dabei zeigt sich, dass im Prozess der Klage die Tabuisierung von Tod und Leid durchbrochen wird, indem die Beter ihre sprachzerstörende Gewalt nicht akzeptieren, sondern sie zur Sprache bringen und damit in den Raum der – von Gott selbst geschenkten – Gottesbeziehung« (126). Das Übel von Leid und Tod bzw. ihre spezifischen Mächtigkeiten werden also sprachlich überwunden und überwältigt, zumindest eingedämmt, so dass deutlich wird, »dass das Übel eine falsche Wirklichkeitskonstruktion ist, in der die lebenserhaltende Anrede Gottes nicht mehr vernommen wird, was den Tod des Beters bedeutet« (114).
Besonders schön ist die elsässische Erdung dieser hochtheolo-gischen Gedanken: Kinder werden durch »Liebeszeichen« bzw. in einer haltenden Liebesbeziehung getröstet, die es erst ermöglichen, den Schmerz auszudrücken. Mitleid zeigt das elterliche Wort »Achele« (»Ach« im Diminutiv), das das Leiden ernst, aber nicht zu ernst nimmt und als überwindbar einschätzt. Diese Spannung von »Zuwendung und Horizonterweiterung, die aus der Fixierung auf das eigene Leiden herausführt, scheint doch eine Grundstruktur zu sein« (134). Dieses Beziehungsgeschehen hält die Spannung von Erfahrbarkeit und extra nos, übersieht aber, dass diese Beziehungen auch fehlgehen können, da es einer tatsächlichen Resonanz im Bewusstsein, im Gefühl, im Erleben (wo sonst?) bedarf. Die Polemiken gegen Bewusstseinstheologien im Gefolge Schleiermachers sind so nicht recht verständlich.
So erst kann das Leiden der »Praxis der Liebe« bzw. der diakonisch tatkräftigen Linderung zugeführt werden (vgl. 153 ff.). Ab dann aber wird es unklar: Sind die theologischen Ausführungen der beiden Autoren analytisch, deskriptiv, normativ, konstrukti-vistisch? Wer eine »Diakonische Christologie« entwirft, muss schon genauer begründen, was es heißt: »In der konkreten Praxis der Diakonie führen die christologischen Aussagen zu einer Nähe zum Leidenden« (166). Das widerspricht vielen Erfahrungen der in der Diakonie tätigen oder Dienstleistung suchenden Menschen. Es wird auch im gegenwärtigen, aber nicht wahrgenommenen diakonisch-theologischen Diskurs problematisiert (Sigrist/Rüegger, Horstmann u. a.).
Und dies führt zu einem systematisch schwer behebbaren Mangel: Die vielfältigen Selbstaussagen – also die schon vorhandene und nicht erst zu befreiende Sprache – der in Diakonie oder anderer kirchlicher Praxis Tätigen (Krankenhaus, Hospiz, Notfallseelsorge u. a.), werden beinah komplett ignoriert. Außer im Blick auf die religionspädagogische Praxis fehlt die Sprache der Betroffenen, wie sie sich im Bereich der Theologie der Behinderung entfaltet (U. Bach wird nur einmal zitiert). Ganz zu schweigen von den Überlegungen zur ambivalenten Rolle von Sprache im außertheologischen Kontext, z. B. der Psychotraumatologie, die es ja mit schwersten Formen von Leiden zu tun hat. Sie wird hier wie von der großen Menge der Seelsorgetheorie immer noch ignoriert.
So hilfreich sie sein kann: Klage ist auch für die Theologie mitnichten die einzig angemessene Kommunikation im oder über das Leiden. Da gibt es noch einiges zu entdecken, z. B. den selbst konzedierten Vorrang der Beziehungsgestaltung, des Mitaushaltens, des Beistands und der gemeinsamen Suche nach Wegen, »die dein Fuß gehen kann«.