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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

445–448

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht – sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014. 175 S. = Schriften der Hans-Böckler-Stiftung, 77. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-8487-1264-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Anlass des hier vorzustellenden Gutachtens sind die Kontroversen um das Streikverbot in evangelischen diakonischen Einrichtungen zwischen den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund einerseits und den Kirchen andererseits. Hierzu hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 20.11.2012 ein Urteil verkündet, das von den Kirchen Reformen des Arbeitsrechtes verlangt und gleichzeitig ihr korporatives Selbstbestimmungsrecht stärkt, da sie den Modus gewerkschaftlicher Beteiligung, die ihnen das Streikverbot sichert, selbst festlegen können. In diesem Urteil sieht ver.di eine Marginalisierung von Arbeitnehmerrechten und legte im April 2013 dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Gleichzeitig hat die Hans-Böckler-Stiftung den Bonner Sozialethiker Hartmut Kreß beauftragt, die Ausgestaltung des Arbeitsrechtes der Kirchen zu begutachten. Ausdrücklich werden die »großen Leistungen, die von den Kirchen getragene Einrichtungen für das Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland erbracht haben oder erbringen« (13), gewürdigt, das Gutachten aber ist auf das Arbeitsrecht fokussiert.
Im Staatskirchenrecht der Nachkriegszeit ist den Kirchen durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV das Selbstbestimmungsrecht zugestanden worden. Auf dieses berufen sie sich, um Abweichungen ihres Arbeitsrechtes von geltenden staatlichen Normen zu begründen, wie beim Betriebsverfassungsgesetz, der »Bindungswirkung der Grund- und Menschenrechte« (15) oder dem tarifrechtlichen »Dritten Weg«, bei dem die Tarifverträge nicht mit Gewerkschaften ausgehandelt werden, wie im »Zweiten Weg«, sondern in paritätisch besetzten innerkirchlichen Arbeitsrechtlichen Kommissionen konsensuell entschieden werden.
Außerdem berufen sich die Kirchen zur Wahrung ihrer Interessen auf Art. 4 GG, der die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses gewährleis­tet. Obwohl es in Art. 4 GG um die Rechte von Individuen geht, leiten die Kirchen daraus ihre korporative Religionsfreiheit ab, so dass ihnen »als Institutionen ein eigener Grundrechtsschutz« (16) zustehe, was aber dem Vorrang der individuellen Grundrechte zuwiderläuft.
Das Gutachten, das sich nur auf verkündigungsferne Beschäftigungsverhältnisse bezieht, setzt mit dem Streikverbot in kirch-lichen Einrichtungen ein (18–47), das vom evangelischen Kirchenrechtler Gerhard Robbers verteidigt wird, weil durch den Streik der »Dienst am Nächsten« […] suspendiert« (30) werde, der Heilsauftrag der Kirche nicht mehr ausgeführt werden könne, was den Glauben schädige und die Einheit der Dienstgemeinschaft aufkündige. Deshalb seien Tarifverträge mit Gewerkschaften aus dogmatischen Gründen abzulehnen. Dies sei für die Kirche eine Bekenntnisfrage, von der ihre Identität abhänge.
Diese Argumentation entkräftet K.: »Der Einwand der kirchlichen Arbeitgeber, ein hypothetischer Streik ›unterbreche‹ die Tätigkeit der Nächstenliebe, suggeriert unzutreffend, das Hochethos persönlicher Nächstenliebe lasse sich in einer Organisation permanent gewährleisten, und lenkt von konkreten Strukturproblemen ab« (35). Zudem lässt Luthers Herausstellung der »Gleichrangigkeit aller Arbeit« nicht zu, »die Arbeit, die speziell in kirchlich getragenen Einrichtungen stattfindet, theologisch zu über-höhen und sie in besonderer Weise als ›Heilsverkündigung‹ zu be­zeichnen« (39) – im Umkehrschluss würde anderenorts geleistete Arbeit abgewertet. Damit ist die dogmatische Immunisierung des Streikverbots zurückgewiesen. Mit der Ablehnung des Streikrechtes für den eigenen Bereich wenden sich die Kirchen vielmehr gegen die »Freiheits- und Grundrechte ihrer Beschäftigten sowie gegen das Selbstverständnis der Gewerkschaften« (46). Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Kirchen das Streikrecht als notwendiges Mittel legitimieren, wenn sich alle anderen Mittel der arbeitsrechtlichen Konfliktbewältigung als unwirksam erwiesen haben. Nur wenn sie als Arbeitgeber selbst betroffen sind, verneinen die Kirchen das Streikrecht.
Innerkirchlich wird das Streikverbot mit der Konzeption der kirchlichen Einrichtungen als Dienstgemeinschaft begründet. Mit diesem Begriff (48–57) werden die Dienstnehmer auf die religiösen Ziele des Dienstgebers verpflichtet. Damit herrscht eine Asymmetrie von Pflichten und Rechten vor, die die der modernen Rechtsordnung innewohnende kategoriale Differenz von Moral und Recht nicht beachtet. Der Begriff der Dienstgemeinschaft legt zu­dem eine Homogenität und konfessionelle Geschlossenheit nahe, durch die sich arbeitsrechtliche Probleme ergeben, da vielen Mitar beitern durch Konfessionsklauseln kein passives Wahlrecht zugestanden wird (58–64). Außerdem führt das Ideal der Dienstge-meinschaft zu Ausgrenzungen (64–73), denn es besteht die Gefahr, dass die Konfessionszugehörigkeit der beruflichen Professionalität übergeordnet wird, die Berufsausübungsfreiheit und die Lernfreiheit eingeengt und Menschen in ihren Persönlichkeitsrechten, ihrer Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit beeinträchtigt werden. Die suggerierte Homogenität entspricht zudem nicht den tatsächlichen Verhältnissen, wenn etwa 2008 53 % der Beschäftigten der Diakonie evangelisch waren, 28,5 % katholisch, 16,5 % konfes-sionslos und 1,1 % anderen Religionen angehörten. Trotz dieser Zahlen, die etwa für Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern eine Mehrheit konfessionsloser Beschäftigter ausweisen, wird an dem Begriff der Dienstgemeinschaft festgehalten, da »alle Mitarbeiter einer Einrichtung ohne Rücksicht auf ihren persönlichen Glauben und ihrer subjektiven Überzeugung in die ›Eigenartigkeit des kirchlichen Dienstes‹ als ›eines objektiven Sachverhalts‹ eingeschlossen sind« mit der Konsequenz, nichtchristliche Beschäftigte »für eine bewusste Zuwendung zum Glauben« (71) zu werben.
Mit der Dienstgemeinschaft wird zudem die Distanz zu den Gewerkschaften begründet, da es problematisch sei, »wenn ›Ge­werkschaften, die außerhalb dieser Gemeinschaft stehen, den Inhalt der Arbeitsbedingungen mitbestimmen‹« (73), also eine kirchenferne Institution die kirchliche Autonomie fremdbestimme (73–79). Dagegen ist festzuhalten, dass die vormalige Nordelbische Kirche seit 1979 Tarifverträge kennt (unter Ausschluss von Arbeitskampfmaßnahmen) und die EKD-Synode vom 13.11.2013 mit der Verabschiedung ihres neuen Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetzes – in Reaktion auf das oben benannte Urteil des BAG – den Landeskirchen die Möglichkeit von Tarifabschlüssen mit Gewerkschaften einräumt, wenn das Streikverbot bestehen bleibt, wie es eine Vereinbarung für Niedersachsen vom März 2014 vorsieht.
Wie weit Grundrechtseingriffe aus dem korporativen Selbstbestimmungsrecht abgeleitet werden, zeigt K. an Sachverhalten auf, bei denen die katholische Kirche ihre Mitarbeiter auf ihre Glaubens- und Sittenlehre verpflichtet (80–97): katholischen Beschäftigten ist es z. B. verboten, zur evangelischen Kirche überzutreten, nach einer Scheidung wieder zu heiraten, eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft einzugehen, durch In-vitro-Fertilisation schwanger zu werden, eine Schwangerschaft abzubrechen (mit Ausnahme eng gefasster medizinischer Indikationen). In all diesen Fällen droht im Konfliktfall die Kündigung.
Begründet werden diese Verbote theologisch mit der katho-lischen Naturrechtslehre und der Vorstellung, dass die Kirche ihre Beschäftigten »in sämtlichen Lebensbereichen in Anspruch nimmt« (80), was dem Grundrecht auf persönliche Weltanschauungsfreiheit und dem Nichtdiskriminierungsgrundsatz widerspricht. Der Grundsatz der Barmherzigkeit wird hier zu keinem Lösungsansatz führen, da er sich nur auf begründete Einzelfälle bezieht.
Dieses Arbeitsrecht greift auch in das Selbstbestimmungsrecht und in Persönlichkeitsrechte ein (98–112), da katholische Krankenhäuser keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und es auch unsicher bleibt, ob in katholisch geführten Einrichtungen den Patientenverfügungen immer Genüge getan wird. Zudem ist hier die ärztliche Berufsausübungs- und Therapiefreiheit eingeschränkt, aber auch die Möglichkeit einer uneingeschränkten Be­rufsausübung in anderen Professionen für Konfessionsfremde, wenn die entsprechenden Einrichtungen regional quasi über ein Monopol im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich verfügen. Beispielsweise nehmen junge Frauen muslimischer Religion Ab­stand von einer Erzieherinnenausbildung, weil sie in den überwiegend konfessionellen Kindertagesstätten nur sehr begrenzte An­stellungschancen haben und ihnen Leitungspositionen ohnehin verwehrt sind.
Die Kirchen sind mit Caritas und Diakonie zusammen in Deutschland mit fast einer Million Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat (11 f.) Doch das eigene Arbeitsrecht ist schwerlich zu rechtfertigen, wenn zum einen nur noch knapp 60 % der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehören, also die Bipolarität von Staat und Kirche nicht mehr gegeben ist. Zum anderen nehmen die kirchlich getragenen Einrichtungen in unserer Gesellschaft säkulare Aufgaben wahr, die dem Lebensalltag aller Menschen nutzen sollen und die zudem vom Staat oder sonstigen gesellschaftlichen Institutionen wie z. B. den Krankenkassen weitestgehend refinanziert werden. Sie beteiligen sich hier an einem Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern und unterscheiden sich funktional nicht von den anderen Wohlfahrtsverbänden und Institutionen in freier Trägerschaft. Sie lassen sich darum nicht mehr von dem ursprünglichen Monopol der Kirchen auf die Lebens- und Weltdeutung und der Tätigkeit der Liebe rechtfertigen.
In der zusammenfassenden Reflexion über den Sonderweg des deutschen kirchlichen Arbeitsrechtes (119–141) hebt K. den mangelnden Grundrechtsschutz von Arbeitnehmern in kirchlichen Einrichtungen hervor und legt luzid dar, dass den Kirchen in gegenwärtigen Gerichtsverfahren »notorisch ein Vorrecht« (121) gegenüber Arbeitnehmern zugebilligt wird, was aber »aufgrund der universalen Geltung der Grund- und Freiheitsrechte und ihrer tragenden Funktion für Staat, Rechtskultur und Zivilgesellschaft nicht einleuchten« (122) kann. Damit räumt K. den individuellen Grundrechten normlogisch den Vorrang vor korporativen Rechten ein: »So unerlässlich institutionelle Schutzgarantien sind, so sind sie doch dahingehend zu interpretieren, dass sie ›strikt‹ auf ›den Schutz des Individuums in der Institution‹ abzielen« (126 f.) Mit den theologischen Leitbegriffen der Gottebenbildlichkeit, der in­neren Freiheit und der Gewissensfreiheit der Menschen stellt K. ge­dankliche Voraussetzungen heraus, die kirchlicherseits den Schritt zur angemessenen Beachtung der Grundrechte ermöglichen können.
Für die katholische Kirche besteht in diesem Zusammenhang ein großer Klärungsbedarf, da sie sich als göttlich gestiftetes rechtsfähiges Sozialgebilde versteht, das auf das Urteil ihres Lehramtes angewiesen ist. Wenn es bei dieser Auffassung bleibt, macht der Staat bei seiner Schutzpflicht für die Grundrechte seiner Bürger bei kirchlich Beschäftigten eine Ausnahme, die gleichbehandlungswidrig ist. Aber auch das bis dato unbefriedigend geklärte »Verhältnis von staatlicher Gerichtsbarkeit« (135) bedarf einer Lösung.
Als Fazit (142–149) hält K. den Sonderweg des kirchlichen Ar­beitsrechtes für nicht mehr zweckmäßig, denn das Leitbild der Dienstgemeinschaft ist hinfällig geworden. Da in der Gegenwart weitere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu relevanten Arbeitgebern im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich werden, warnt K. vor vielen möglichen Problemen, die sich ergäben, wenn diese Gemeinschaften analog den Kirchen sektorale Arbeitsrechtsordnungen für sich beanspruchten, denn dies würde das deutsche Arbeitsrecht weiter zersplittern. Damit formuliert K. das Desiderat, »die Reichweite des korporativen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen […] neu zu erörtern und sie adäquat einzugrenzen« (148) sowie den Grundrechtsschutz der kirchlichen Arbeitnehmer zu sichern.
K. hat mit diesem Gutachten zu einem brisanten Thema in hervorragender argumentativer Klarheit Stellung genommen und es ist zu hoffen, dass die Kirchen sich um die Modernisierung ihres Arbeitsrechts bemühen und sich von ihren dogmatischen Immunisierungsstrategien verabschieden.