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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

691-693

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Franz-Xaver [Hrsg. v. S. Goertz]

Titel/Untertitel:

Soziologie und Sozialethik. Gesammelte Aufsätze zur Moralsoziologie.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 445 S. = Studien zur theologischen Ethik 136. Kart. EUR 75,00. ISBN 978-3-7278-1734-2 (Academic Press Fribourg 2013); 978-3-451-34170-0 (Verlag Herder).

Rezensent:

Gerhard Wegner

Der Band enthält 20 Aufsätze und Auszüge aus Werken von Franz-Xaver Kaufmann, die von Stephan Goertz unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für moralsoziologische bzw. moralethische Überlegungen zusammengestellt und mit einer ausführlichen Einleitung versehen worden sind. Zwischen einem ersten Aufsatz »Was hält die Gesellschaft heute zusammen?« von 1999 und einem abschließenden Epilog über die Brüderlichkeit von 1979 finden sich vier Teile zu den Bereichen »Identität und Modernität«, »Gesellschaftliche Wertideen«, »Ehe und Familie« und »Christentum und Moral«. Die Zusammenstellung macht deutlich, wie sehr K. Soziologie in politischer, aber auch in christlich inspirierter Hinsicht betreibt. Eine Triebkraft seiner Soziologie ist das Schicksal des christlichen Glaubens unter den Bedingungen moderner Gesellschaften (was er mit Hans Joas teilt).
In dieser Richtung rezipiert K. die systemtheoretischen Theorien der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaft, weist aber auch auf ihre Grenzen hin – z. B. die Minimierung der Funktionalität sozialmoralischer Ressourcen. Konsequente Durchführung des systemtheoretischen Ausdifferenzierungsprogramms würde zu einer Entmoralisierung der Gesellschaft führen. K. interessiert demgegenüber die Rekonstruktion konkreter Zusammenhänge der Lebenssituationen, die kulturelle Orientierungen der Zeitgenossen beeinflussen, wie Stephan Goertz in der Einleitung zu Recht hervorhebt: die Ausarbeitung von Identitätsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen in einer Gesellschaft, die zwar systemisch stabil erscheint, aber nicht auf entscheidungsfähige und handlungsfähige Individuen verzichten kann. In dieser Hinsicht sei Selbstverwirklichung auch nicht das letzte Wort und insofern Individualisierung nicht nur positiv zu sehen. Immer wieder taucht in diesen Zusammenhängen die Betonung von religiösen und christlichen Ressourcen auf. »Ohne Individuen, die ihrem Opportunismus und Egoismus etwas entgegenzusetzen haben und allgemeine Überzeugungen durchhalten wollen, werden langfristige Interessen der Allgemeinheit nicht zur Geltung kommen können.« (22)
Die Fülle der aus diesem umfangreichen Band zu gewinnenden Einsichten lässt sich auf wenigen Seiten nicht zusammenfassen. Hingewiesen sei nur auf einige »leuchtende« Einsichten. Genannt sei ein Abschnitt über »Autonomie in soziologischer Sicht« von 1973, in dem es ihm um die Stabilisierung von »Innengaranten« im Interesse von Identität und Handlungssicherheit geht. Wie können Menschen in der modernen Gesellschaft als in irgendeiner Weise mit sich selbstidentisch Erfahrende und Handelnde zustande kommen? »Selbstsicherheit bezeichnet nach der hier vertretenen Auffassung das Problem, wie der Mensch in einer überkomplex gewordenen Welt zu einer ›Umwelt‹ zu gelangen vermag, innerhalb derer er zu handeln, d. h. sinnhafte Ziele zu setzen und zu realisieren befähigt ist.« (72) »Dies Problem korreliert unmittelbar mit der Entwicklung einer in sich konsistenten Persönlichkeit, die in einer inkonsistenten Welt befähigt ist, sich selbst durch konsistente Auswahl einer Umwelt zu schaffen.« (74) Genau dies muss als Problem der Erziehung unter gesellschaftlich komplexen Verhältnissen gesehen werden.
Ausgesprochen spannend sind auch die Ausführungen zu »Selbstreferenz oder Selbstreverenz« von 1993. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit postmoderner Wirklichkeitsdeutung, die dem In­dividuum zumutet, selbst jene Kosmisierungsleistungen zu erbringen, die die »Welt« nicht mehr zu vermitteln vermag. Dabei werde die notwendige Selbstreferenz zur Selbstreverenz, d. h. die Not des Orientierungsverlustes zur »Tugend dezisionistischer Nicht-Verantwortlichkeit« gemacht (88). Selbstverwirklichung werde so zur Selbsttäuschung. K.s Alternative besteht darin, Selbstfindung als einen durchaus asketischen Prozess zu konzipieren: Der moderne Mensch sei unvermeidlich darauf verwiesen, die Gestaltung seines Lebens primär auf sich selbst und seinen Erfahrungsraum zu beziehen, dabei aber nicht den Abschied von allen Verbindlichkeiten vorzunehmen, sondern lediglich der Einsicht zu folgen, dass sie nur in freier Entscheidung übernommen werden kann.
Diese Fragestellungen spitzen sich in K.s Suche nach Bedingungen einer gelingenden »Sozialpolitik zwischen Gemeinwohl und Solidarität« (2002) zu. Hierzu reichen nicht nur situative Momente, so z. B. eine räumliche Bezogenheit von Menschen aus. Es müssen vielmehr normative Orientierungen hinzukommen, welche unter den Beteiligten die Anerkennung anderer als »Meinesgleichen« sichern, weswegen sie notwendigerweise symbolisch vermittelt sei (134). Solidarität bezieht sich dabei auf eine Gemeinsamkeit des Handelns, die unter modernen Bedingungen häufig aus einer wertrationalen Motivation heraus erfolgt. Sie »substituiert die schwindende Traditionalität als Sinnkontext für großräumige Formen von Solidarität« (135). Gestalten von Solidarität seien »Loya-lität«, »Altruismus«, »erweiterte Reziprozität« und »kollektivitätsorientiertes Verhalten«. Die Folgerung: »Wer immer Menschen vom eigennützigen Handeln abhalten will, hat sich eines der vier Be­gründungsmuster Loyalität, Altruismus, Reziprozität oder Ge­meinsamkeit zu bedienen. Quintum non datur.« (139) Gerade unter hochindividualisierten gesellschaftlichen Lebensbedingungen bilden individuelle Bedürfnisse nach Anerkennung und identitätsförderliche Selbstwertgefühle eine neuartige motivationale Voraussetzung solidarischen Handelns (142).
Ein wichtiges Arbeitsfeld K.s ist der Bereich Ehe und Familie. Auch unter veränderten Bedingungen und eines Formwandels von Ehe und Familie kann er an Konstanten festhalten. Aber schon sein großer Aufsatz »Die Ehe in sozialanthropologischer Sicht« (1966) arbeitet die Plastizität beider Institutionen heraus. In keiner Gesellschaft werden die Beziehungen von Mann und Frau dem Belieben der Individuen überlassen, sie sind darin jedoch sozialkulturell und historisch außerordentlich formbar, so dass sich die Frage nach ihrem »Wesen« stellt. Die Form der Familie behalte für die »soziokulturelle Geburt« des Kindes (im Blick auf Identität und Handlungsfähigkeit) größte Bedeutung. Das Neue sei die Ausdifferenzierung eines spezifisch kindorientierten Typus – neben einer erheblich pluraler gefassten Auffassung der Ehe. Alle auf Dauerhaftigkeit ge­richteten institutionellen Legitimationen stehen in der modernen Gesellschaft unter normativem Druck und die Anforderungen an flexible Selbststeuerung der Individuen nehmen zu. Dabei nehmen die Intensität der Binnenkommunikation und die räumliche Konzentration im Raum des Privaten bei Familien und Ehen aber ebenfalls eher noch zu. Dem Verbindlichkeitsverlust der Ehe steht eine wachsende Verbindlichkeit der Elternschaft gegenüber (298).
Gerade aus der Relativierung universell geltender Strukturen von Ehe und Familie kommt K. im letzten Teil der hier gesammelten Aufsätze zu sehr kritischen Äußerungen im Blick auf die Geltung des christlich (katholisch) geformten Naturrechts. Diese Kritik setzt bei ihm bereits 1973 ein, indem er die Zeitbedingtheit und Interessebezogenheit der jeweiligen katholischen Naturrechtslehren herausarbeitet. Die Naturrechtsdoktrin selbst erwies sich in Zeiten politischer Ohnmacht des Papsttums als kluges Instrument zur Erhaltung des politischen Einflusses der Kirche und trug besonders in Deutschland zu Stabilisierung der Grenzen zwischen Kirche und Gesellschaft bei. Heute jedoch, sei diese Grenzziehung nicht mehr plausibel. Und dies treffe gerade für den Bereich Ehe und Familie zu. Stephan Goertz fasst das Ergebnis prägnant zu­sammen: »Unter den Bedingungen komplexer Gesellschaften wird der unvermittelte Rekurs auf Normen der Schöpfungsordnung oder den gesunden Menschenverstand zum Anachronismus. Sozialethik nach dem Na­turrecht müsse sich als kontextuelle Ethik profilieren.« (35)
K.s Soziologie, das belegt dieser Band auf faszinierende Weise, versteht sich als ein vom christlichen Geist inspirierter Beitrag zur Humanisierung der Lebensverhältnisse und zur Stärkung der Individuen in ihrem Selbstverständnis und ihrer Handlungsfähigkeit. Sie gehört zu den großen Traditionen einer humanistischen Sozialwissenschaft, die nicht nur Gesellschaft distanziert beschreiben und analysieren, sondern zum Handeln anleiten will. Für alle diejenigen, denen die systemtheoretischen Analysen nicht ausreichen, aber auch pragmatisch-handlungsbezogene Ansätze zu wenig bieten, können die Artikel dieses Bandes und darüber hinaus das ge­samte Werk K.s nur wärmstens empfohlen werden.