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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

708-711

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schaede, Ina

Titel/Untertitel:

Bildung und Würde. Religionspädagogische Reflexionen im interdisziplinären Kontext.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 384 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 52. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03181-8.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Diese Heidelberger Dissertation von Ina Schaede befasst sich mit dem im Titel knapp und bündig formulierten Thema, das, so sehr es aktuell im Schwange ist, bisher auch nicht annähernd so gründlich erörtert wurde, wie es nach der Lektüre dieses Buches notwendig erscheint. Die Schärfe des hier vorgeführten kritischen Blicks auf das Schnittfeld von Theologie, Rechtsphilosophie und Pädagogik überrascht deshalb am Ende kaum noch. Auszugehen ist von dem Befund, dass das Thema »Menschenwürde« in der neuzeitlichen Theologie weitgehend abgeblendet blieb und erst am Ende des 20. Jh.s in der Verbindung mit dem Theologumenon der Gottebenbildlichkeit in den Fokus theologischer Reflexion tritt. Hier schlägt u. a. die langsame Überwindung der in der dialektischen Theologie obligatorischen Kritik der naturrechtlichen Sicht der Menschenrechte zu Buche. Auch Schleiermacher explizierte den Würdegedanken nicht anthropologisch, sondern christologisch. »Die theologische Deutung von Würde […] bewegt sich zwischen Kants kategorischem Imperativ und der priesterschriftlichen Figur der Gottebenbildlichkeit. Theologische Primärtexte jenseits dieser beiden Quellen sind rar.« (18) Durchschlagend wird dieser Befund im Zusammenhang der detaillierten Erörterung der Schnittstellen zwischen den Würdebegriffen in der Rechtswissenschaft, der Theologie und der Philosophiegeschichte. Die Vfn. plädiert auch deshalb für eine verstärkte »religionspädagogische Rezeption der Menschenwürde als Rechtsbegriff«, um zu verhindern, dass (was sie als Trend aufweist) »der Würdebegriff zum Sammelbecken interpretativer Werthaltungen wird, dessen Leistungsfähigkeit kaum noch erkennbar ist« (33). Die dabei erhobenen Reflexions- und Erkenntnisdefizite der Religionspädagogik werden indes den Erziehungswissenschaften kaum weniger vorgehalten.
In der religionsdidaktischen Zuspitzung (eine qualitative In­haltsanalyse zum »Würde«-Thema in ausgewählten Lehr- und Lern­mitteln in Kapitel IV sowie eine abschließende Erörterung der Thematisierung von »Würde« im Kontext aktueller curricularer Entwürfe, u. a. auch der EKD, in Kapitel V) wird gezeigt, wie das Thema einerseits an Relevanz und Aktualität gewinnt, andererseits aber in »eklatanter Diskrepanz« zum »interdisziplinären Fachdiskurs über Würde« konzeptualisiert und didaktisch elementarisiert wird. Die »Arbeitshypothese […], dass es einen unmittelbaren Zu­sammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung, gar religiöser Bildung gibt« (33), wird durch detaillierte theoriegeschichtliche Analysen mit einem in dieser Eindeutigkeit dann doch überraschenden Nachdruck widerlegt.
In Kapitel I (mit einem Schwerpunkt auf der Darstellung rechtsphilosophischer Konzepte) erfolgt der Nachweis, dass zwischen Konzepten von »Bildung« und dem Gedanken der Menschenwürde theoretisch wie ideengeschichtlich »kein unmittelbarer Zusammenhang« zu erkennen ist. Es erweist sich zudem als keineswegs sachgerecht, den weltanschaulich »neutralen« Würdebegriff des Grundgesetzes umstandslos theologisch in Anspruch zu nehmen. Das hat nicht zuletzt mit der höchst uneinheitlichen Herkunft und Semantik des »Würde«-Begriffs zu tun. Und systematisch-theologisch ist der Zusammenhang von »Würde« und »Gottebenbildlichkeit« sehr viel weniger eindeutig, als es insbesondere in der Religionspädagogik in der Regel (der Rezensent schließt sich ein) unterstellt wird. Der oft »inflationäre« Gebrauch der Würdethematik im (religions-)pädagogischen Kontext korrespondiert mit seiner Abwertung als »rhetorisches Füllwort«.
Im bildungstheoretischen Zusammenhang ist der Befund von besonderem Gewicht, dass sich deduktive »Ableitungen« von Grundrechten aus dem Postulat der Menschenwürde als »äußerst problematisch« erweisen, weil sie dessen materiellen Gehalt regelmäßig »überspannen« (71). Unabhängig von dem rechtstheoretischen Streit, ob Menschenwürde als objektives Verfassungsprinzip oder als subjektives Grundrecht verstanden wird, lässt sich insbesondere kein »Grundrecht auf Bildung« aus dem Würdepostulat deduzieren. Der Würdegedanke unterscheidet sich kategorial von der Sphäre der Grundrechte. Würde kann nur »als Gegenstand, nicht als Grund« (101) mit Bildung verbunden werden.
In Kapitel II geht es unter der Überschrift »Positive Bestimmungsversuche von ›Bildung‹« (insbesondere im Schnittfeld von Pädagogik und Theologie und mit einem Exkurs auf »klassische« Bildungskonzepte bei Comenius und Humboldt) »nicht darum, eine Theorie allgemeiner und religiöser Bildung zu entwickeln«, sondern, »die heterogenen Begründungsstränge« des Bildungsbegriffs so zu strukturieren (112), dass er mit dem Würdebegriff – und im Blick auf religiöse Bildung insbesondere mit dem Imago-dei-Theologumenon – abgeglichen werden kann. In der Tat handelt es sich hier überwiegend um eine kritische Rekonstruktion bildungstheoretischer Ansätze, weniger um eine eigenständige Konzeption von (religiöser) Bildung. Theologisch zeichnet sich in diesem Kapitel eine gewisse Präferenz für den von Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth bereits 1981 konzipierten Zusammenhang von Bildung und Person-Begriff ab, auch wenn bei diesen Autoren »jegliche Abwägbarkeit der menschlichen Würde in Entscheidungsprozessen nahezu ausgeschlossen« erscheint (141).
Prägnant ist der Befund, dass der Bildungsbegriff Humboldts in Bildungsdebatten deswegen so häufig als Referenz dient, weil er »weitgehend begründungsoffen bleibt und eine Art Minimalkonsens ermöglicht« (149). Dass Humboldt »in erster Linie die Ermöglichungsgründe von Bildung, nicht jedoch die Bildung selbst« bestimme (ebd.), wird man so scharf aber wohl nur sagen können, wenn man ihn zu eng am Anspruch eines materialen Bildungskonzepts misst. Das gilt ähnlich für den Befund einer »konzeptionellen Schwäche« der Bildungstheorie Dietrich Benners, der übergroße Allgemeinheit attestiert wird (164). Überzeugend verweist die Vfn. dagegen auf die Grenzen der Schleiermacher-Rezeption Benners: »Schleiermachers spätere pädagogische Schriften können nicht in einem allgemeinen religionsphilosophischen Interesse mit humanistischer Einfärbung gelesen werden« (168), also ohne konkrete Bezüge auf den Grundgedanken des Selbst- und Gottes bewusstseins. Daran zeige sich exemplarisch das Problem einer »vorschnellen« Suche nach »Anschlussfähigkeit« zwischen theologischem bzw. religionspädagogischem und erziehungswissenschaftlichem Diskurs (170).
In Kapitel III werden hinsichtlich des Würdebegriffs die heterogenen Traditionsstränge durch die Unterscheidung zwischen »mitgift-, leistungs- und kommunikationstheoretischen« Modellen gebündelt. Zu den »mitgifttheoretischen« Bestimmungsversuchen werden die biblische Figur der Gottebenbildlichkeit und die naturrechtlich-idealistischen Traditionen im Anschluss an Kant gerechnet. An Versuchen der Verhältnisbestimmung zwischen Würde und Bildung (etwa durch die Gottebenbildlichkeitsfigur) wird aufgewiesen, dass man – auch in ideengeschichtlicher Hinsicht – »nicht ohne weiteres von einem Zusammenhang zwischen Würde und Bildung sprechen« könne.
Die Analyse religionspädagogischer Lehr- und Lernbücher in Ka­pitel IV zeigt sodann, dass sie regelmäßig weder den »Implikationen der Heterogenität des Ausdrucks Würde« noch der »notwendigen Systematisierung der unterschiedlichen Begründungsstrategien« für die Verhältnisbestimmung von Würde und Bildung gerecht werden. Zumeist wird auf eine Systematisierung zuguns­ten der bloßen »Aneinanderreihung von ethischen Problemfeldern der Mitmenschlichkeit« verzichtet. Die Vfn. fordert dagegen die »Systematisierung der unterschiedlichen Begründungsstrategien und die kompetenzorientierte Reflexion der darin enthaltenen Bildungsverständnisse« (292 f.). Die instruktive Schulbuchanalyse zeigt in einer im Rahmen einer Rezension nicht annähernd nachzuzeichnenden Genauigkeit ein »reduktionistisches Würde- und Bildungsverständnis« (was angesichts der rekonstruierten theore-tischen Diskussionslage kaum anders sein kann). Die Problemlage ist gekennzeichnet durch 1. »Diskursverengungen«, durch 2. eine er­staunliche »Asymmetrie« zwischen der theoretisch stets betonten Bedeutung der Würdethematik und der weitgehenden Ausblendung dieser Thematik auf dem praktischen didaktischen Feld, durch 3. »Reduktionismen« mangels Systematisierung und 4. die Verengung des Bildungsbegriffs auf »ethische Urteilsbildung«, schließlich 5. durch die Notwendigkeit der »Elementarisierung«.
Im abschließenden Kapitel V werden nach ausführlicher (systematischer und historisch-genetischer) Erörterung des Kompetenzbegriffs im pädagogischen Kontext und der Rekonstruktion der religionspädagogischen Kompetenzdiskussion (mit kritischem Blick auf deren Verengung unter Aspekten der Standardisierung und Messbarkeit) religionsdidaktische Perspektiven entwickelt. Dabei zeigt sich, dass die Würdethematik »aufgrund ihrer Komplexität nicht unmittelbar didaktisch operabel gemacht werden« kann. Das Verständnis von Würde könne zwar »auf anthropologisch begründete Intuitionen zurückgreifen«, sobald aber versucht werde, es »in positiven Umschreibungsversuchen auf den Begriff zu bringen, mutiert sie zu einem äußerst heterogenen, überaus unhandlichen begrifflichen Artefakt« (325). Am Rande zeigt die Vfn., vom Rezensenten mit Zu­stimmung vermerkt, dass »das Würdeprinzip […] einer Werteerziehung, mit der es gern assoziiert wird, gerade zuwider[läuft]« (37). Da­mit korrespondiert das Missverständnis von »Menschenwürde« als »Grundwert«.
Dass die »Begründungsleistung der Gottebenbildlichkeitsfigur in religionspädagogischer Perspektive […] fragwürdig [bleibt], da sie aufgrund ihrer Vagheit kaum etwas zur Klärung der ohnehin se­mantisch vagen Bestimmung von Bildung und Würde austrägt« (109), legt die Vfn. überzeugend dar. Das sollte aber im Interesse wechselseitiger Anschlussfähigkeit und präziser Grenzbestimmungen im Verhältnis zwischen Theologie und Pädagogik nicht davon abhalten, die Gottebenbildlichkeit so in die Perspektive eines evangelischen Rechtfertigungsverständnisses zu rücken, dass alle denkbaren empirischen Konnotationen vermieden werden und Bildung nicht als menschliche Leistung verrechnet wird, mittels derer »Würde« erst zu erwerben wäre.
Man muss nicht jedes kritische Urteil teilen, um die scharfe Prüfung unterschiedlicher bildungstheoretischer Ansätze – in den Erziehungswissenschaften allgemein wie speziell in der Religionspädagogik – mit großem Erkenntnisgewinn zu lesen. Der von der Vfn. häufig nach allen Richtungen erhobene Vorwurf der »Vagheit« ist vielleicht zu relativieren, zumal er im Hinblick auf die Inkonsistenz religiöser Vorstellungen auf die Theologie, deren Begriffe davon ja affiziert bleiben, zurückzufallen droht. Oft handelt es sich wohl um den Preis des Verzichts auf problematische empirische Reduktionismen oder auf zu pragmatische Operationalisierungskalküle.
Insgesamt liegt ein Buch vor, wie es in seiner intellektuellen Prägnanz und analytischen Schärfe nicht häufig auf religionspädagogischem Feld zu finden ist, auf dem die didaktischen Bemühungen um die Elementarizität thematischer Sachgehalte zu oft einschränkend auf die Komplexität der Analyse zurückschlagen. Hier nun wird ein schwieriges Thema ohne Komplexitätsabstriche in gleichwohl unprätentiöser Sprache zugänglich gemacht. Ein einziger (im Blick auf die Notwendigkeit der Bewältigung einer großen Materialfülle freilich wohlfeiler) Einwand: Die religionspädagogische Diskussionslage zum Zusammenhang von Bildung und Würde wird zwar (zu Recht) kritisch, aber doch im Vergleich zur Breite der Re­ zeption rechtstheoretischer, philosophischer und systematisch-theologischer Diskussionslagen etwas verengt wahrgenommen.