Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

778–780

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mordhorst-Mayer, Melanie

Titel/Untertitel:

Medizinethische Entscheidungsfindung im orthodoxen Judentum.Übersetzung und Analyse von Responsen zum Schwangerschaftskonflikt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 617 S. = Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge, 6. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-374-03261-7.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

»Wer das Blut eines Menschen vergießt – durch des Menschen (Hand) soll sein Blut vergossen werden« (Gen 9,6). Dieser Satz, der nach der Tradition des rabbinischen Judentums aufgrund seines biblischen Kontextes der gesamten noachidischen Menschheit gilt, wird im babylonischen Talmud durch die (syntaktisch freilich fragwürdige) wörtliche Wiedergabe der hebräischen Wendung »dam ha-adam ba-adam« (»Blut eines Menschen in einem Menschen« = Blut des Embryos/Fötus) auf den Sachverhalt der Schwangerschaftsunterbrechung bezogen. Traditionellerweise ist damit für die Rabbinen zugleich die Frage gegeben, ob die auf diese Weise aus der Bibel herausgelesene Norm des Abtreibungsverbotes nur den Nichtjuden oder auch dem jüdischen Volk gilt. Aus der Diskussion über die Reichweite und die Folgen des Gleichheitsgrundsatzes im babylonischen Talmud (»Es gibt nichts, das einem Juden erlaubt, aber einem Nichtjuden verboten wäre«) und unter dem Einfluss moderner Techniken der Fortpflanzungsmedizin mitsamt den sich aufgrund des medizinischen Fortschritts stellenden ethischen Fragen kam es in der Welt der jüdisch-orthodoxen Toragelehrsamkeit in den 1970er Jahren zu einem Disput über die Zulässigkeit von Abtreibungen. Dabei ging es um Fragen der Herleitung und Anwendung alther-gebrachter religionsgesetzlicher Normen und um die Güterabwä gung sowie um das Problem, von welchem Zeitpunkt an dem Embryo/Fötus nach der Halacha die Personhaftigkeit zugesprochen werden kann. Als einschlägig gilt unter Toragelehrten hierzu eine Vorschrift der Mischna (Oholot 7,6), die mit Blick auf eine schwere Geburt festlegt, dass ein bereits halb ans Licht der Welt getretener Säugling auch um der Rettung des Lebens der Mutter willen nicht mehr getötet werden darf (312). Aber wie und inwiefern ist diese Norm auf zeitgenössische Schwangerschaftskonflikte überhaupt anwendbar?
Kontrahenten in diesem Streit waren der zu diesem Zeitpunkt am rabbinischen Gerichtshof in Jerusalem wirkende, nach dem Titel seines 22-bändigen Hauptwerks, einer Responsensammlung, auch unter dem Ehrennamen »Tzitz Eliezer« bekannte rabbinische Gelehrte Eliezer Yehuda Waldenberg (etwa 1915/16–2006) und der New Yorker Rabbiner Moshe Feinstein (1895–1986), ein aus Litauen stammender Posek (Dezisor), der in Amerika der Jeschiwa Metivta Tiferet Jerusalem vorstand, Präsident der Union of Orthodox Rabbis of the United States and Canada war und sich im letzten Drittel des 20. Jh.s zu einem führenden Experten der Halacha in Nordamerika und »Gadol ha-Dor« (hebr. »Größter Toragelehrter der Generation«) entwickelte.
Die hier vorzustellende Arbeit von Melanie Mordhorst-Mayer, die überarbeitete Fassung einer am Marburger Fachbereich Evangelische Theologie (Systematische Theologie/Ethik) entstandenen Dissertation, bietet eine vollständige Übersetzung (samt Kommentar) der im Zusammenhang dieses Streits entstandenen Responsen, die zugleich vergleichend halachisch, materialethisch und im Hinblick auf die jeweils zum Tragen kommenden hermeneutischen Grundannahmen analysiert werden. Nimmt man die im Anhang gebotene kommentierte Auswahl von halachischen Quellentexten zum Problem der Schwangerschaftsunterbrechung (von der Mischna über Talmudtexte, vor allem aus den Traktaten Sanhedrin und Nidda, bis zu Raschi- und Tosafotkommentaren und dem Kodex des Maimonides) hinzu, so wird ein beeindruckendes Argumentationsgeflecht sichtbar, das sich von der Antike bis in die Gegenwart spannt und in der einen oder anderen religionsgesetzlichen Konkretation bis heute Lebensentscheidungen Hunderttausender orthodox lebender Jüdinnen und Juden bestimmt. Moshe Feinstein, so die Vfn., bringt die einleitend angeführte noachidische Norm uneingeschränkt auch für Juden zur Anwendung. Er stellt fest, »dass eine Abtreibung für Juden von Anfang der Schwangerschaft verboten ist; dies gilt sogar in den frühesten Stadien der Schwangerschaft, obwohl der Embryo/Fötus vor dem 40. Schwangerschaftstag im Talmud als ›bloßes Wasser‹ bezeichnet wird und deshalb nach Ansicht vieler Rabbiner weniger geschützt ist« (220). Ausnahmen von dieser – nach Feinstein als unmittelbar wirksames biblisches Torarecht (aramäisch: »de-oraita«) für alle Menschen in gleicher Weise geltenden – Norm sind für ihn nur zulässig, wenn das Leben der Mutter mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit und unmittelbar gefährdet ist. Feinstein be­müht dazu die halachische Rechtsfigur des »din rodef«: Das werdende Leben im Mutterleib ist in diesem speziellen Fall einem »Verfolger« gleichzustellen, der das Leben der Mutter in Gefahr bringt und deshalb im Notfall getötet werden darf. Waldenberg konstruiert die Schutznorm für das werdende menschliche Leben demgegenüber als nachbiblische und in der rabbinischen Normenhierarchie niederrangige Vorschrift (»de-rabbanan«), die leichter übertreten werden dürfe und in dieser Form zudem nur für Juden gelte. Die entsprechende Bestimmung habe nichts mit dem absoluten (nach jüdischer Tradition strafbewehrten) Mordverbot des Dekalogs zu tun; sie sei eher auf das Verbot, seinen Nächsten zu verletzen (»issur chabbalah«) zurückzuführen. Als andere mögliche Herleitung nennt Waldenberg das jüdische Männer verpflichtende Verbot des unnützen Samen-Vergießens (und das Gebot der Fortpflanzung nach Gen 1,28) – ein Argumentationsgang, der ihn zu der Empfehlung bringt, mögliche Abtreibungen eher durch Ärztinnen durchführen zu lassen, da diese (im Gegensatz zu männlichen Ärzten) nicht zur Erfüllung der letztgenannten Gebote verpflichtet seien. Wirksam wurde die (von der Vfn. als vergleichsweise »progressiv« bezeichnete) liberalere Haltung Waldenbergs im Falle einer »Frage« (hebräisch: »she’ela«) des Direktors des nach jüdisch-orthodoxen Grundsätzen geführten Jerusalemer Sha’are Zedek-Krankenhauses an den Rabbiner als autoritativen religionsgesetzlichen Dezisor. Es ging dabei um eine Diagnose, nach der der Fötus einer Schwangeren von der Tay-Sachs-Krankheit befallen sei, einer Krankheit, die auffällig häufig bei osteuropäischen Juden vorkommt und in der Regel bis zum vierten Lebensjahr zum Tod führt. Um Leid von der Mutter und von ihrem Kind abzuwenden, erlaubte Waldenberg in diesem Falle die Abtreibung bis zum siebten Monat der Schwangerschaft. Diese Entscheidung wurde von Moshe Feinstein, der der Meinung war, man müsse etwaige Missbildungen an Kindern als »Strafe« Gottes hinnehmen, aber heftig kritisiert.
Die Arbeit ist insofern eine hervorragende Pionierleistung, als die hebräischen Texte sprachlich und sachlich extrem schwierig und voraussetzungsreich sind; bewundernswert ist, wie es der Vfn. gelingt, die Diskussionsgänge noch in ihren Verästelungen nachzuzeichnen und dabei auch die weniger bekannten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dezisoren zu berücksichtigen. Etwas einschränkend sei hinzugefügt, dass viele Doppelungen (mehrfach angeführte längere Zitate und andere Wiederholungen) und ein etwas pedantischer Einführungsteil mit Ausführungen zur Einleitung in die rabbinische Literatur das Lesevergnügen mindern: Angaben dazu, was eigentlich »Tanach« heißt und wie der Talmud zitiert wird, gehören eher in Schulbücher und passen schlecht zum Stil einer ansonsten exzellenten wissenschaftlichen Untersuchung. (Die einführenden Bemerkungen zur Geschichte, Gattung und Funktion der Responsenliteratur im Anfangsteil des Bandes sind demgegenüber an dieser Stelle höchst sachgemäß.) Zudem vermisst man Hinweise auf neuere Kommentarliteratur zu rabbinischen Texten in deutscher Sprache: In den Bänden des Übersetzungsprojekts zum Talmud Yerushalmi (etwa zum Traktat Nidda), um die sich als Mitherausgeber besonders der leider viel zu früh verstorbene Marburger Neutestamentler Friedrich Avemarie verdient gemacht hat, wäre manch Nützliches zum hier verhandelten Thema zu finden gewesen. Auch sollte ein jüdischer Religionsphilosoph wie Josef Albo (15. Jh.) – die alte Übersetzung von Ludwig Schlesinger ist immer noch zitabel! – besser nicht auf Englisch zu uns sprechen (66). Doch all dies soll das Lob einer ansonsten in hohem Maße lesenswerten und wertvollen Arbeit nicht mindern. Am Schluss nur die Kritik, dass Bibelstellen-, Talmud-, Namen- und Sachregister fehlen. Und die Vermutung, dass die Auseinandersetzung mit dem so hervorragend präsentierten, aber – in kritischer Zeitgenossenschaft betrachtet (kritische Zeitgenossen gibt es doch gerade auch im liberalen und säkularen Judentum!) – letztlich doch eher irritierenden Material aus der Perspektive der christlichen Theologie und Ethik wohl noch aussteht. Die Ankündigung der Vfn. in ihrem »Ausblick«, ihr Verfahren könne auch zur Untersuchung theologischer Begründungen »anderer Religionen, z. B. protestantischer oder katholischer Provenienz« (309) herangezogen werden, weckt also Erwartungen.