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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

829–832

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Messner, Kathrin

Titel/Untertitel:

Paul Ricœurs biblische und philosophische Hermeneutik des Selbst. Eine Untersuchung aus theologischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVIII, 311 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 67. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-153169-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Diese von Pierre Bühler (Zürich) betreute Dissertation von Kathrin Messner geht dem Spannungsverhältnis von Philosophie und Theologie bei Paul Ricœur nach, dem es ein ausdrückliches Anliegen war, beide Gebiete nicht zu vermischen. Dennoch musste er sich wegen seiner biblisch-hermeneutischen Reflexionen gegen den Verdacht wehren, Kryptotheologe zu sein. Eine genaue Be­standsaufnahme der Publikationen Ricœurs (11–33) führt M. zu dem Fazit: »Das ›theologische Denken‹ R.s kann und darf von seinem philosophischen nicht vollkommen getrennt, muss aber davon unterschieden werden« (33), zumal er nicht auf ein Absolutum hinweisen will, sondern es ihm bei einer biblischen Exegese darum geht, »sich selbst vor dem biblischen Text zu prüfen« (40). M. nähert sich durch einen bio-bibliographischen Zugang dem Werk Ricœurs (33–64), indem sie von seiner Intellektuellen Autobiographie (1975) aus die Verknüpfung seines Denk- und Lebensweges konzis herausarbeitet. Sie zeigt, dass Ricœur in die religiöse Muttersprache eines liberalen Protestantismus hineingeboren ist, aber als Philosoph rein rational argumentiert. Allerdings beginnt er nach dem Suizid seines Sohnes Olivier (1986) »eine Art Versöhnungsarbeit« (63) im Verhältnis von Philosophie und Theologie. Diese Thematik konkretisiert M. an Ricœurs Publikationen Liebe und Gerechtigkeit (1990), Das Selbst als ein Anderer (dt. 1996), den beiden biblisch-hermeneutischen Reflexionen seiner Gifford-Lectures (1986), die er nicht in die zuvor benannte Publikation aufgenommen hat, sowie seine späten und posthumen Publikationen, die das Leben angesichts des Todes thematisieren und eine ins Theologische gehende Ausrichtung andeuten.
An dem Festvortrag Liebe und Gerechtigkeit (65–98), den Ricœur anlässlich der Verleihung des Dr.-Leopold-Lucas-Preises 1989 in Tübingen hält, zeigt M., dass diese wenig beachtete Publikation nicht nur Ricœurs Hermeneutik in den Bereich der Ethik weiterführt, sondern durch die »Dimension der Liebe […] alle ethischen Konzepte, die auf einer rein distributiven oder proportionalen Gerechtigkeit beruhen, weit hinter sich lässt« (66). Hier überwindet Ricœur die Unvereinbarkeit von Liebe und Gerechtigkeit in deren Wechselspiel: Beide »können und sollen auf einer zweiten Ebene, im Bereich der praktischen Ethik miteinander ins Spiel kommen. Dieses gleicht einem instabilen Balanceakt. Aber nur durch dieses zerbrechliche, vorläufige Wechselspiel kann die rein formale Ethik zugunsten einer Supra-Ethik überwunden werden. Dazu fordert Ricœur in Amour et justice auf« (96). Diese triadische Denkstruktur weist M. als Spezifikum der Reflexionsweise Ricœurs auf. Und noch etwas anderes macht diese Schrift besonders, denn in ihr bestimmt Ricœur sein Verhältnis von Philosophie und Theologie. Dies wird daran deutlich, dass er Lk 6,27–35 als Paradigma »für die Funktionsweise seiner Dialektik von Liebe und Gerechtigkeit« interpretiert, ohne dabei aber eine »religiöse Ethik zu entfalten«, vielmehr interessiert ihn als hermeneutischer Philosoph die »Struktur und Textgrammatik« (97) des biblischen Textes. Seine Philosophie kommt also ohne Absolutes aus, steht aber in einer Relation zu einem exegetisch gestützten biblischen Glauben.
Die Neuordnung seines hermeneutischen Denkens, wie sie Das Selbst als ein Anderer darstellt (99–160), beruht auf Vorträgen, die Ricœur 1986 im Rahmen der Gifford Lectures gehalten und im Zeitraum von vier Jahren überarbeitet hat. In einer sehr genauen Analyse dieser schwierigen Publikation, die in ihrer Diffizilität in der hier geforderten Kürze nicht nachzeichenbar ist, gelingt es M. überzeugend, deren Inhalt und formalen Aufbau darzulegen. Sie hat damit für die weitere Rezeption dieses Werkes einen unverzichtbaren Beitrag geleistet. Die an Liebe und Gerechtigkeit erstmals deutlich gewordene triadische Denkfigur Ricœurs kann sie so als »Schlüssel schlechthin zum Verständnis des Buches« bezeichnen, denn mit ihr strukturiert er »seine Reflexionen auf das Selbst« (159). Wesentlich ist, dass die Frage nach der Selbstheit nach einer sprachanalytischen, handlungstheoretischen und identitätslogischen Untersuchung in der sogenannten »Kleinen Ethik« (121) gipfelt, die auf eine Ontologie des Selbst zielt. Hier wird die Leitfrage von M.s Untersuchung nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Ricœur erneut mit den letzten Sätzen dieses Werkes virulent, denn hier wird zwar die »Vertikalität des Gewissensrufes« (158) mit Levinas angesprochen, aber dessen Woher offengelassen. »Der Glaube kann und darf die Leerstelle, die Philosophie notwendig hinterlässt […] nicht füllen« (160). Aus diesen Gründen hat Ricœur auch die beiden letzten theologischen Vorlesungen der Gifford Lectures für die Publikation von Das Selbst als ein Anderer ausgeschlossen. Damit stellt sich aber die Frage nach deren theologischem Beitrag (161–218).
Grundsätzlich sind beide Aufsätze einander im Sinn einer »Ruf-Antwort-Struktur« (161) zugeordnet. Für den Aspekt des Rufes ist die von Ricœur so genannte »Refiguration« (168) wichtig, dass sich ein Leser von einem Text aus neu versteht und eine mit dem Text gemeinsame Erfahrung voraussetzt: Ricœur sieht »in der Bibel ein großes, in sich geschlossenes, sich selbst regelndes Symbolnetzwerk«; dem setzt er »ein Selbst gegenüber, das sich selbst […] von den Sinnentwürfen, die sie [sc.: die Heiligen Schriften] vor sich entfalten […] (neu) zu verstehen sucht. Damit bekommt dieses biblische Symbolnetzwerk an Texten eine neue Bedeutung, denn da­durch wird ihm die Macht zugesprochen, bei seinen Lesern das Verlangen zu wecken, sich in ihm zu spiegeln« (187). Das religiöse Selbst – als gegenüber dem philosophischen Selbst eine »eigene Art von Selbst« (194) – fühlt sich also von den biblischen Schriften gerufen, um sich vor ihnen neu zu verstehen. Dabei nennt Ricœur vier verschiedene Figuren von Spiegeln, vor denen sich das religiöse Selbst verstehen kann: Die erste, gleichsam archetypische, Figur ist der prophetische Ruf des Alten Testaments, an dem die Struktur von Ruf und Antwort besonders deutlich wird. Die zweite, die chris-tomorphe, Figur fußt auf 2Kor 3,18. Hier sieht Ricœur das »ur­sprünglichste schriftliche Zeugnis der Reinterpretation des Paradigmas des beauftragten Selbst in nachösterlicher Perspektive« (196), das wie Christus sein will. Die dritte Figur bezeichnet Ricœur als den inneren Lehrer Augustins, da hier »der innere Mensch […] die Wahrheit in sich selbst« (199) entdeckt, was er schon in Prov 8, 21–36 vorgezeichnet sieht. Die vierte Figur, das Gewissen reflektiert Ricœur mit Rückbezug auf Paulus auf der Basis entsprechender Erwägungen Gerhard Ebelings, betont aber, aus philosophischen Gründen, stärker als dieser die »Autonomie des Gewissens« (203). Für Ricœur spricht Gott nicht direkt im Gewissen, denn dieses beruht auf der interpretativen Vermittlung durch den biblischen Glauben und zielt auf die Christomorphie des Selbst ab.
Im Schlussteil ihrer Untersuchung (219–262) würdigt M. die biblische Hermeneutik Ricœurs aus protestantisch-theologischer Perspektive kritisch. Sie stellt sehr deutlich heraus, dass diese biblische Hermeneutik »keine Kryptotheologie und kein ontotheologisches Amalgam« (231) ist und folglich – im Gegensatz zur soteriologischen Ausrichtung der Theologie – keinen Anspruch auf Heilsrelevanz erhebt. In dem für Ricœur so wichtigen Bezug auf das Ge­wissen, bei dem Paulus und Ebeling die grundlegenden Ge­sprächspartner sind, stellt M. eine große Differenz heraus. Während Ricœurs vollkommen vernünftige Reflexion die Autonomie des Gewissens betont, beurteilt M. diese als theologisch »unzuverlässig, weil Theologie als Soteriologie notwendig Rede von dem menschlich schlechthin ›Unvernünftigen‹, nur bei Gott Möglichen sein muss« (241), denn: »Die Theologie hält daran fest, dass das eigentliche Menschsein des Menschen erst coram Deo zur Entfaltung kommt, und dass der Mensch diese seine eigentliche Bestimmung erst sola fide erkennen kann« (242). Unter Bezug auf die anfangs besprochene Schrift Liebe und Gerechtigkeit weist M. darauf hin, dass trotz ihrer kritischen Würdigung eine Begegnung zwischen Ricœurs philosophischer Hermeneutik und der Theologie möglich ist, denn beide gehen mit der »Erfahrung […] zuvorkommender Liebe innerhalb des Menschenmöglichen um […]. Ohne Liebe kein Gewissen, kein gewissenhaftes, verantwortungsvolles Handeln« (248), so dass bei allen Unterschieden die Ethik der geeignete Ort der Begegnung beider ist. Indem Ricœur die unkalkulierbare Liebe von Anfang an in seine Ethik einbezieht, »wird sie eine durch Großzügigkeit und die Möglichkeit zur Vergebung und Versöhnung geprägte Situationsethik, die alle rein ›diskursiven‹ Ethik-Vorschläge in ihrem Anspruch bei weitem übersteigt« (260). Einen in ihrem Sinn vertikalen theologischen Bezug findet M. in einem 2007 posthum erschienenen Buch, das vier Jahre später unter dem deutschen Titel Lebendig bis in den Tod erschienen ist. Hier lässt Ricœur kurz vor seinem Tod mit dem Gedanken der Auferstehung Christi »zuletzt eine Erweiterung seines Denkens aufblitzen, die jenseits all dessen liegen könnte, was er zu Lebzeiten seinen Lesern und Zuhörern je zu denken gegeben hat« (257).
Umfangreiche Verzeichnisse (263–311) beschließen diese sehr genau gearbeitete Studie, die hervorragend das Anliegen von Ri-cœurs Hermeneutik darstellt und Wege seiner möglichen Rezep-tion seitens der Theologie aufweist.