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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

861–863

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde

Titel/Untertitel:

Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. 256 S. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-08181-6.

Rezensent:

Kristin Merle

Mit Liebe in der Moderne legt Isolde Karle ein Buch vor, das kurzweilig in der Lektüre ist und nicht zuletzt deshalb lesenswert, weil es die vielfältigen Themen, die angesprochen werden, unaufgeregt in den Blick nimmt. Auch im Nachgang zu mancherlei Erregung, die die Orientierungshilfe des Rates der EKD Zwischen Autonomie und Angewiesenheit (2013) auslöste, ist die Sachlichkeit dieser Veröffentlichung wohltuend. Bereits die ersten Sätze des Vorworts verweisen auf K.s wesentliche Intention: das Plädoyer für die Ehe und der damit verbundene Rat an die Kirchen, für diese Institution – zunächst aus theologischen Gründen, dann aber auch aufgrund psychologischer und soziologischer Erkenntnisse – selbstbewusst einzustehen und zu werben. Gleichzeitig votiert K. ganz klar für eine Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare.
Es liegt an der eigentümlichen kirchlichen Debattenlage mit ihren eher konservativen Zügen vor allem hinsichtlich der Themen »Körperlichkeit« und »Sexualität« wie auch der Vernachlässigung bestimmter Themen in der Theoriebildung (wie etwa die grundständige Einbeziehung von Einsichten der Gender Studies), die Liebe in der Moderne zu einem progressiven Unterfangen werden lässt. Dass K. an der produktiven Auseinandersetzung mit den Ge­schlechterstudien liegt, zeigte bereits ihr 2006 erschienenes Buch »Da ist nicht mehr Mann noch Frau …«. Theologie jenseits der Ge­schlechterdifferenz.
Abgesehen davon, dass ja, recht eigentlich betrachtet, nichts sich von selbst versteht, »[versteht] [d]ie Liebe sich nicht mehr von selbst« (9), so der Auftakt zum Buch. Diesem Ton folgend, der Liebe – und eben auch ihren Schwierigkeiten und Hindernissen – in der Gegenwart wieder zu etwas mehr Verstehen zu verhelfen, widmet sich K. den Bedingungen, kulturellen Manifestationen und (fraglich) gewordenen sozialen Institutionen des Liebens. Interessanterweise wird dabei das Phänomen der Liebe in seinen mannigfaltigen Er­scheinungsweisen selbst nicht systematisiert entfaltet. Stattdessen wählt K., seiner Gesamtintention entsprechend, einen engeren Fo­kus. Dieser nimmt bestimmte mögliche Manifestationen der Liebe in den Blick, nämlich Ehe als präferierte Sozialform (Kapitel III., 171–240) und Sexualität (Kapitel II., 77–170), welche wiederum nach der Körperlichkeit als ihrer Voraussetzung fragen lässt (Kapitel I., 13–76).
Dass der Einstieg über das Thema der Körperlichkeit gewählt wird, macht auch insofern Sinn, als das hier von K. Ausgeführte Leseanleitung für die anderen beiden Teile des Buches sein kann. Nimmt man die Skizzen zur kulturellen Konstruktion von Körperverständnissen ernst, gibt es keinen Grund, weniger physische Phänomene als den Körper nicht auch als Ausdrucksformen kultureller Zu­schreibungen und Konventionalisierungen zu betrachten: »[S]obald wir diesen Körper anfangen zu beschreiben, tun wir dies immer schon im Horizont eines kulturell tief verankerten Wissens und bestimmter Annahmen über dessen Natürlichkeit oder Nichtnatürlichkeit. Wir produzieren das Gesehene immer mit […].« (17 f.) Sichtbar werden in dieser Perspektive dann nicht nur die biblischen Bilder von Körperlichkeit (und Sexualität) als Resultate einer – affirmierenden oder kontrastierenden – Auseinandersetzung mit dem jeweiligen kulturellen Umfeld (vgl. 39 ff.). Sichtbar wird dann auch das für die Gegenwart sicherlich als charakteristisch zu be­zeichnende Ineinander von Körperverdrängung und Körperaufwertung, das sich in verschiedenen Spielarten einer »Rationalisierung des Körpers« (22; etwa durch Diäten oder eine übermäßige Fokussierung auf Gesundheit und Fitness) zeigt: Der Körper wird zum Symbol potentieller – konkret erlebbarer – Ganzheitlichkeitserfahrung und Identitätsvergewisserung, mit allen Paradoxien (vgl. 28 f.).
Die jeweilige symbolische Aufladung des Körpers als spezifisches Argument im gesellschaftlichen Diskurs wird noch einmal auf andere Weise anschaulich, wenn K. – unter Rekurs auf die Arbeiten von Eva Illouz – auf das Verhältnis von romantischer Liebe und Konsumkultur zu sprechen kommt (vor allem 139 ff.). Während sexyness – freilich als kulturelles Konstrukt – im frühen 20. Jh. zur dominanten Währung im Wechselspiel zwischenmenschlicher (erotisch gestimmter) Aufmerksamkeitserzeugung wird, unterliegt sie als allgemeines Merkmal der Beurteilung gleichzeitig der Uniformierung; die Logik der Marktgesellschaft unterwirft den körperlichen Ausdruck wie das Begehren zweckrationalen Maßstäben, die den Spielraum der romantischen Liebe um fragwürdiger Freiheitsgewinne (wie etwa die der vermeintlichen Optionenvielfalt) willen verkürzen, so der Gedankengang in aller Kürze. Aber nicht nur das Begehren zwischen den Geschlechtern erscheint als jeweils kulturell geprägt; vielmehr werden die Wahrnehmung der Individuen im Rahmen einer ausschließlichen Bipolarität der Geschlechter überhaupt wie die theologische Legitimation dieser Wahrnehmung (vgl. hierzu vor allem 121 ff.) von K. angefragt.
»[Die Familie; K. M.] ist der Raum, von dem aus der Zivilisationsprozess seinen Ausgang nimmt.« (223) – Es sind Sätze wie dieser, die spätestens im Kapitel über die Ehe den Verdacht aufkeimen lassen, dass Liebe in der Moderne doch nicht ganz so progressiv ist, wie es über weite Strecken erscheint. Das liegt weniger an der zu vermutenden Aussageintention eines solchen Satzes: der wohl richtigen Annahme, dass die Familie hervorgehobener Ort der Sozialisation ist. Sondern das Pathos verwundert, das dann auch die Ehe als Institution an einer »höhere[n] Form des Freiseins« (214) partizi-pieren lässt. Fraglos kann das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung, wie es in verbindlichen Formen der Beziehung gelebt wird, ein produktives sein; in seiner rechtlichen Form stellt die Ehe einen eigenen Solidaritätspakt dar. Auch versachlicht es die bisweilen bemühte Krisensemantik, wenn K. unter Verweis auf neuere familiensoziologische Untersuchungen beschreibt, dass die Ehe – der Institutionenkrise zum Trotz – nach wie vor einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung hat (219 ff.). Diskussionswürdig wäre noch einmal die Einschätzung der nicht-ehelichen Lebensge meinschaft als Übergangsphänomen, das entweder in der Ehe mündet oder sich auflöst (K. bezieht sich hier auf die Untersuchungen von Rosemarie Nave-Herz), und die daraus folgende Einschätzung, dass nicht-eheliche Gemeinschaften kein funktionales Äquivalent zur Ehe darstellen. K. selbst konzediert, dass unter Umständen Paare zunehmend dauerhaft unverheiratet zusammen leben wollen (auch an eine weitere Variante mag man denken, den in Frankreich sehr beliebten pacte civil de solidarité). Das alles schmälert jedoch nicht K.s Verdienst, für den traditionellen Stand der Ehe insgesamt gute und aufgeklärte Gründe zu nennen, die Liebe in der Moderne zu einem nachvollziehbaren Plädoyer für die Ehe werden lassen. Vielleicht ist es ja diese Mischung aus für kirchlich-theologische Diskurse (noch) unkonventionellen Forderungen – wie die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder die fraglose Wertschätzung von Menschen jenseits der apostrophierten Geschlechterbinarität – und institutionentheoretisch eher konservativen Implikationen, die Liebe in der Moderne Gehör im kirchlich-theologischen Gesprächszusammenhang verschafft. Zu wünschen wäre es dem Buch.