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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

937–939

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gleede, Benjamin

Titel/Untertitel:

The Development of the Term ἐνυπόστατος from Origin to John of Damascus.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XII, 210 S. = Supplements to Vigiliae Christianae, 113. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-22419-3.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Die theologische Entwicklung in der griechischen Kirche nach dem Konzil von Chalkedon ist nach wie vor nur einem kleinen Kreis von Kennern geläufig. Und das, obgleich unbestreitbar ist, dass die subtile Feinarbeit, die in den vier Jahrhunderten nach 451 geleistet wurde, von großer Bedeutung für die weitere Dogmengeschichte geworden ist. Im Jahr 1888 vertrat Friedrich Loofs die These, dass der Kirchenschriftsteller Leontius von Byzanz im 6. Jh. eine geradezu revolutionäre Neubestimmung zentraler theologischer und philosophischer Kategorien vornahm, um die durch die Beschlüsse des Konzils von Chalkedon entstandenen Probleme zu lösen. Loofs’ Arbeit inspirierte nicht zuletzt Karl Barth dazu, der auch in der lutherischen Orthodoxie zentralen Kategorie der »Enhypostasie« der menschlichen Natur in der göttlichen eine prominente Stelle in der Kirchlichen Dogmatik einzuräumen. In jüngerer Zeit sind jedoch Loofs’ Ergebnisse scharf kritisiert worden: Die von ihm Leontius zugeschriebene Interpretation der Enhypostasie sei in Wirklichkeit überhaupt erst ein Produkt der konfessionellen Theologie des 17. Jh.s. Insofern könne auch Barth sich nicht auf die Autorität spätantiker Überlieferung stützen, sondern perpetuiere einzig eine lutherische Sonderlehre der frühen Neuzeit.
Bei dieser Problemlage setzt die vorliegende Arbeit von Benjamin Gleede an. Ihr Zweck ist die Klärung der philologisch-historischen Basis der Kontroverse, nicht die Entscheidung der theologischen Streitsache selbst. Dass es sich bei der Abhandlung um die überarbeitete Magisterarbeit des Vf.s handelt, versetzt in Erstaunen, denn die Kenntnis der patristischen und philosophischen Quellen vom 3. bis ins 8. Jh., auf der sie beruht, ist von bestechender Souveränität und Solidität. Das beeindruckt umso mehr, als zahlreiche der behandelten Autoren nur schlecht ediert sind, sofern ihr Werk nicht ohnehin nur fragmentarisch oder in Übersetzung erhalten ist. Aus diesem Grund sind diachrone, problemorientierte Darstellungen für die spätere griechische Patristik selten, und, wo es sie gibt, eher eine Aneinanderreihung einzelner in sich geschlossener Abschnitte, die im Grunde jeweils selbständige Monographien sind. Im Unterschied dazu bewegt sich der Vf. mit großer Leichtigkeit und Agilität zwischen seinen Referenzautoren hin und her, stellt Querverbindungen und Abhängigkeiten her, vergleicht, wertet, ordnet ein.
Wie ihr Titel verspricht, bietet die Abhandlung eine bislang nicht existierende begriffsgeschichtliche Untersuchung des Terminus »enhypostatos«. Der Begriff erweist sich als eine christliche Prägung, der gleichwohl im Laufe der sechs untersuchten Jahrhunderte zum Teil erhebliche Entwicklungen durchlaufen hat. In einem ersten Teil stellt der Vf. dar, wie »enhypostatos« zunächst Teil der trinitarischen Begrifflichkeit wurde. Gegen modalistische oder sabellianische Tendenzen wurde darauf Wert gelegt, dass der Logos »enhypostatos« sei – also als eigene Hypostase eigenständig existiere. In dieser Grundbedeutung besagt das Präfix ἐν- also nicht »in«, sondern ist sozusagen der Gegensatz zum α-privativum, be­deutet also »besitzend«. Das ist deshalb von Bedeutung, weil in vielen Fällen umstritten ist, wie weit diese ursprüngliche Bedeutung den Gebrauch des Begriffs auch noch in der späteren christologischen Debatte bestimmte. Loofs’ Kritiker, unter den Patristikern vor allem Brian Daley, hatten genau auf diesen Punkt den Finger gelegt und behauptet, dass die zentralen von Loofs herangezogenen Textstellen sich auf der Grundlage der traditionellen Bedeutung des Begriffs interpretieren ließen.
Die Frage nach der Nuancenverschiebung im Gebrauch von »enhypostatos« unter dem Einfluss der christologischen Debatte bildet daher das eigentliche Zentrum der Abhandlung. Hier wird wirklich Pionierarbeit geleistet, indem auf detaillierte und nuancierte Weise Kontinuität und Wandel in der Begrifflichkeit herausgearbeitet werden. Der Vf. diagnostiziert im Grundsatz zwei sich herausbildende Arten des Umgangs mit dem Begriff: Die eine, die sich bereits bei Johannes Grammaticus im frühen 6. Jh. findet, be­hilft sich angesichts der Spannungen zwischen seiner trinitarischen und christologischen Anwendung damit, zwei verschiedene Wortbedeutungen zu postulieren. Daneben entwickelt sich nur wenig später bei Leontius von Byzanz ein alternativer Ansatz, nach dem die Enhypostasie der menschlichen Natur in der göttlichen Hypostase mit der Inhärenz von Akzidenzen und vor allem der gewissermaßen »Quasi-Inhärenz« der Spezies in den Individuen verglichen wird. Beide Typen werden vom Vf. profund auf philosophische Hintergründe und theologische Implikationen abgeklopft sowie in ihrer weiteren Entwicklung in der nachfolgenden Literatur bis zu Johannes von Damaskus durchgemustert. Dabei macht der Vf. deutlich, dass einzig die zweite der beiden eine wirkliche Antwort auf die von den Gegnern von Chalkedon vorgebrachten kritischen Einwände zu geben in der Lage war.
Mit diesem Ergebnis nimmt er eine vermittelnde Position zwischen Loofs und seinen Kritikern ein: Die von Loofs Leontius zugeschriebene These findet sich, so sein Fazit, in ausgereifter Form nicht wirklich vor Johannes von Damaskus, obgleich die Weichen für diese Auffassung bereits von Leontius gestellt wurden. Diese Schlussfolgerung steht freilich der klassischen Auffassung deutlich näher als der von Loofs’ jüngeren Kritikern, eine Einsicht, deren Gewicht und Relevanz allzu leicht angesichts der extrem spezialisierten Detaildarstellung verloren gehen kann. Die von den Anhängern des Chalkedonense ausgearbeitete Philosophie, die es ermöglichte, die Menschheit Christi als vollkommen, einschließlich individueller Eigenheiten zu denken, ohne dass ihr deshalb eine eigene »Hypostase« zukam, verließ in entscheidenden Punkten den Grund und Boden konsensueller metaphysischer Annahmen, auf denen bis dato das antike philosophische und theologische Denken insgesamt geruht hatte. Die extreme Abstraktheit und scheinbar übertriebene begriffliche Subtilität der vom Vf. aufbereiteten Debatte darf nicht den Blick dafür verstellen, dass es sich hierbei um einen der langfristig weitreichendsten Transformationsprozesse abendländischen Denkens handelt. Dass dieser Prozess tatsächlich in der Spätantike stattgefunden hat und nicht nachträglich in diese hineininterpretiert wurde, ist das entscheidende und wirklich bedeutsame Ergebnis dieser im besten Sinn des Wortes gelehrten Studie.