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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

951–954

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ahbe, Thomas, Hofmann, Michael, u. Volker Stiehler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Oktober und November 1989– Problemwahrnehmungen und Lö­sungsvorschläge aus der Mitte der Gesellschaft.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014. 751 S. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-86583-888-9.

Rezensent:

Rainer Eckert

2014 jährten sich die demokratischen und überwiegend friedlich ausgetragenen Revolutionen in Mittelosteuropa gegen die kommunistischen Diktaturen zum 25. Mal. Das Ende des Kommunismus, des Kalten Krieges und der Spaltung Europas war die Folge dieser umstürzenden Ereignisse. Die Revolutionen öffneten den Menschen in Mittelosteuropa den Weg zu Demokratie und Selbstbestimmung. Trotz dieser so offenkundigen Ergebnisse von jahrzehntelang andauernden Freiheitsbewegungen sind die Revolutionen noch in der Diskussion und in ihrer Bewertung umstritten. So ist immer wieder zu lesen, dass »die Kirche« der Schutzraum der Opposition gewesen wäre. Dies ist deshalb nicht richtig, da es diese einheitliche Kirche nicht gibt und innerhalb der religiösen Organisationen der ostdeutschen Christen nur wenige protestantische Gemeinden und ihre Geistlichen den Mut aufbrachten, sich gegen die Macht der Diktatur zu stellen. Ein anderer Punkt ist der, zu fragen, welcher Ort und welches Ereignis für den Erfolg der Fried-lichen Revolution in der DDR wichtiger waren. Hier gibt es oft »Revolutionsneid« und kleinliche Streitigkeiten um das revolutionäre »Erstgeburtsrecht«. Trotzdem hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass dem Leipziger 9. Oktober 1989 als »Tag der Entscheidung« eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle zukommt und dass davor die Friedensgebete in der Nikolaikirche und die Arbeit kritischer kirchlicher Basisgruppen in Gemeinden wie Markus und Lukas, aber auch im katholischen »Friedenskreis Grünau-Lindenau« diesen Tag erst ermöglichten.
Zu diesen Themen liegt inzwischen auch eine breite Forschungsliteratur vor. Anders steht es dagegen mit den Wochen und Monaten nach dem 9. Oktober bis zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990, die den ersten Revolutionsabschnitt ab­schloss. Einige Ereignisse in Leipzig werden hier noch erinnert: so die weiter anschwellenden Demonstrationen, die Gründung von »Runden Tischen«, die Reden auf dem »Karl-Marx-Platz« und die Besetzung der Zentrale der Geheimpolizei in der »Runden Ecke« am 4. Dezember 1989. Auch die auf den 9. Oktober folgenden Debatten s ind noch verschiedentlich in Erinnerung, allerdings ist diese höchst rudimentär. Jetzt schaffen die Herausgeber vorliegenden Bandes Abhilfe, und damit ist eine ganz herausragende editorische Leistung verbunden. So ist nachzulesen, was im Rahmen der auch von der SED geförderten und geforderten »Dialogpolitik« tatsächlich thematisiert wurde, welche Probleme die Menschen umtrieben, welche Hoffnungen sie hatten und wie sich diese in wenigen Wochen veränderten.
Neben den organisierten »Dialogen« wird eine eher zufällig durch den Fotografen Gerhard Gäbler aufgenommene Straßendiskussion am 2. Oktober dokumentiert, dann folgen die Debatten im Studentenklub »Moritzbastei« vom 15. und 19. Oktober, die Diskussionen im Kabarett »academixer-Keller« vom 14. Oktober bis zum 19. November und die »Dialoge« im Gewandhaus vom 22. Oktober bis zum 12. November. Dazu kommen der Abdruck wichtiger Aufrufe und Willenserklärungen aus dieser Zeit und ein umfassendes Sachwortverzeichnis sowie ein Personenregister mit biographischen Angaben.
Diese »Dialoge« entstanden in der offenen Machtsituation nach dem 9. Oktober und waren zum einen von der Sorge vor einer noch möglichen Eskalation hin zur bewaffneten Gewalt geprägt, zum anderen sahen die alten Kräfte der Diktatur hier eine Möglichkeit, die demonstrierenden Menschen von den Straßen zu bekommen. Bei der Verhinderung von Gewalt nach dem »Tag der Entscheidung« mögen die Diskussionen letztlich eine Rolle gespielt haben, die Eroberung der Straße durch die Kritiker der Diktatur konnten sie nicht rückgängig machen. Um die Situation heute richtig einzuschätzen, ist es hilfreich, die Zusammensetzung der Podien zu betrachten, die sich insgesamt etwa 9.000 Bürgern stellten. Auf der Bühne saßen nämlich außer den sechs Leipzigern, die sich am 9. Oktober öffentlich gegen Gewalt und für die Kommunikation ausgesprochen hatten, zuerst höhere SED-Funktionäre und Wissenschaftler der Karl-Marx-Universität, die bisher nicht durch kri-tische Stellungnahmen aufgefallen waren. Trotzdem entwickelten die Dialoge eine ganz eigene Dynamik, wobei im Gewandhaus dessen Kapellmeister, Kurt Masur, der zu den »Leipziger Sechs« gehörte, unwidersprochen die dominierende Rolle spielte. Bis heute betrachten viele Masur weiterhin als »Retter Leipzigs«.
Die Themen erstreckten sich von Gesellschaftsstrategien der SED über die Medienpolitik, die Rechtsstaatsproblematik, die Stalinismusfrage bis zur »sozialistischen Demokratie«, zur Rolle der Künste, zum Gesundheitswesen und bis zu »Erwartungen an eine neue Regierung«, die nach den Debatten im Gewandhaus in den »Leipziger Postulaten« zusammengefasst wurden. Dabei fällt auf, dass verschiedene Nomenklaturkader des bisherigen Systems die Dynamik der Entwicklung nicht begriffen, während es auch kri-tische SED-Mitglieder gab, die erkannten, dass es um Sein oder Nichtsein ihrer Form von Sozialismus in der DDR ging, der nur durch grundlegende Reformen zu retten sein würde. Unter den Menschen im Publikum fällt der hohe Anteil von etablierten Facharbeitern, Vertretern der nicht an die SED gebundenen Intelligenz und des Bürgertums auf. Dagegen kommen Christen der evangelisch-lutherischen Kirche, die in der Vorbereitung der Revolution eine wichtige Rolle spielten, kaum zu Wort. Allein Superintendent Friedrich Magirius spricht in der Diskussion. Offensichtlich hatte sich ihre Situation im revolutionären Prozess verändert oder sie sahen die »Dialoge« nicht als die ihnen gemäße Form der Kommunikation an. Ähnlich selten kamen Vertreter der in der Revolution agierenden Basisgruppen zu Wort. Nur einige Mitglieder des noch nicht zugelassenen »Neuen Forums« traten unter großem Beifall als Debattenredner auf, ohne jedoch auf die Podien gebeten zu werden. Allein dadurch wird deutlich, dass sich die »Dialoge« außerhalb des Hauptstroms des revolutionären Geschehens bewegten. Unter den sonstigen Debattenbeteiligten fällt auf, dass sich viele zur SED bekannten und auch kundtaten, dass sie »die Partei« nicht verlassen wollten. Offensichtlich hofften sie auf den Erhalt der Macht der SED, waren aber teilweise bereit, deren verfassungsmäßig vorgeschriebenen Führungsanspruch aufzugeben.
Die »Dialoge« zeigen im Einzelnen die tiefe Frustration der Leipziger und von Menschen aus anderen Teilen der DDR über die Entwicklung der letzten Jahre in der kommunistischen Diktatur. Dies war ein Gemisch von Wut und Verzweiflung über den Niedergang Leipzigs durch die Privilegierung Ost-Berlins. Dazu kamen Berichte über die katastrophalen Zustände in den Krankenhäusern und in den Pflege- bzw. Altersheimen und harte Angriffe auf die Lebensqualität von Behinderten sowie die Mehrklassenmedizin. Genauso thematisiert wurde die Katastrophe des Bau- und des Verkehrswesens, und die Wut über Presse und Medien – verbunden mit Rücktrittsforderungen – fand ihren Ausdruck genauso wie die Forderung nach Reise-, Versammlungs- und Redefreiheit. Ein Thema war die Rehabilitierung politisch Verfolgter, andere wünschten sich eine offene, freie Erziehung und beklagten die Verschwendung von Wasser und Energie. Immer wieder forderten Menschen den sozialen Ersatzdienst statt des bewaffneten Wehrdienstes oder lehnten die vormilitärische Ausbildung ab. Regierung und SED-Führung wurden oft komplett abgelehnt, wobei gewisse Hoffnungen auf den Blockparteien ruhten. Alle wollten »wirklich« Wahlen und viele – auch Vertreter des »Neuen Forums« – betonten ihre Hoffnung auf eine Weiterentwicklung des »Sozialismus« – hier muss allerdings offen bleiben, wer wirklich daran glaubte. Dagegen war die Zulassung des »Neuen Forums« Konsens und eine Mehrheit war nicht bereit, die Demonstrationen aufzugeben – und dies allein schon, weil sie die Ereignisse für eine von der Straße zu entscheidende Revolution und nicht für eine »Wende« hielten.
Insgesamt fanden die »Dialoge« parallel zu anderen Ereignissen statt, wobei die Demonstrationen entscheidend blieben und so das Dialogprojekt der Herrschenden durchkreuzten. Auffällig ist noch, dass bei den Debatten in Leipzig die Berliner Grenzöffnung kaum eine Rolle spielt. Und so waren die »Dialoge« wohl zuerst eine Sonde ins Denken derjenigen Ostdeutschen, die sich illusionär auf eine Sozialismusreform orientierten. Die Entwicklung nahm einen anderen Weg und damit hatte sich die »Dialogpolitik« überholt, da schon bald klar wurde, dass es nicht mehr die Substanz und die Bevölkerungsmehrheit zur Reform des Realsozialismus gab. Und auch die Kirchen wurden auf den Weg geschickt, sich neu in der Gesellschaft zu verorten. Dieser Prozess hält bis heute an.