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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1088–1090

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Leibold, Steffen

Titel/Untertitel:

Raum für Konvivenz. Die Genesis als nachexilische Erinnerungsfigur.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 430 S. m. Abb. = Herders biblische Studien, 77. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-451-31577-0.

Rezensent:

Rainer Kessler

Dass wir in den Überlieferungen der Genesis, besonders den Erzählungen über die Familien der Erzeltern, einerseits und mit dem narrativen Komplex, der vom Ägyptenaufenthalt über den Exodus bis zur Landnahme geht, andererseits zwei ursprünglich eigenständige Ursprungserzählungen des alten Israel vor uns haben, kann als konsensfähig gelten und bildet so den Ausgangspunkt der von Jürgen Ebach betreuten Dissertation von Steffen Leibold. L. widmet sich aber den überlieferungs- und redaktionsgeschicht-lichen Fragen, die mit dieser Erkenntnis verbunden sind, nur am Rand. Vielmehr konzentriert er sich auf das theologische Konzept, das in der Genesis erkennbar ist und sich deutlich von dem des Exoduskomplexes abhebt.
Einleitend stellt L. drei Thesen vor, die er an den »Kontakterzählungen« der Genesis aufzeigen will, also den Erzählungen, die den Kontakt der Erzeltern mit den Landesbewohnern zum Gegenstand haben. Nach der ersten These ist eine gelingende friedliche Begegnung mit anderen Gruppen nur möglich, wenn sie in einer be­stimmten Gottesbeziehung grundgelegt ist. Liegt solche theologische Verständigung zugrunde, führt das zweitens zu Konvivenz, die sich in einer Form von Landgabe an die Erzelternfamilien niederschlägt. Zum Dritten aber ist dauerhafte Konvivenz nur möglich, wenn es zugleich zu einer klaren räumlichen Trennung kommt.
Zwei kurze Kapitel gehen den Exegesen, die den Hauptteil der Arbeit bilden, voran. Im ersten grenzt L. die Genesis vom Exodusbuch inhaltlich ab. Beide bilden eine Erinnerungsfigur, die der Identitätsstiftung dient. Doch während der Genesis Erzählungen von Einzelfiguren zugrunde liegen, geht es dem Buch Exodus »ums Ganze – das Ganze eines Volkes« (38). Auch wenn L. die Frage nicht (explizit) formuliert, begleitet sie von nun an die Lektüre: Was bedeutet das Vorhandensein zweier unterschiedlich konzipierter – Einzelfiguren und Volksganzes – und thematisch fokussierter Er­zählungen – die Genesis propagiert Konvivenz, im Exoduskomplex ist von Ausrottung und Vertreibung die Rede – für den Geltungsanspruch der Texte?
Im zweiten Einleitungskapitel trägt L. raumtheoretische Überlegungen vor. Wie oft in solchen vorangestellten Theoriekapiteln versteht man die Theorie erst richtig, wenn man die anschließenden Beispiele gelesen hat, und diese wären wohl auch ohne vorherige Entfaltung der Theorie nachvollziehbar.
So geht man mit Spannung und, es sei hier schon gesagt, großem Gewinn an die nun folgenden ausführlichen Exegesen. Nach meinem Verständnis beruht der Gewinn auf drei Eigenheiten des Vorgehens. Zum Ersten konzentriert L. sich tatsächlich auf die Genesis und liest sie nicht immer schon mit deren Fortsetzung, die sie im Exodusbuch findet, im Kopf. Zum Zweiten liest L. tatsächlich den Text der Genesis, nämlich den kanonisch überlieferten Endtext. Gen 14, das so oft großzügig übergangen wird, bekommt so zum Beispiel geradezu eine Schlüsselrolle für das Konvivenzkonzept des Buches. Und drittens beobachtet L. den Text penibel genau und kommt so zu überraschenden neuen Sichtweisen.
Seine exegetische Lektüre unterteilt L. in zwei große Schritte, die dem Aufbau der Genesis entsprechen: Urgeschichte und Erzelternerzählungen.
Wichtigstes Ergebnis der Lektüre der Urgeschichte ist das theologische Konzept, das L. im Anschluss an Jan Assmann als »inklusiven Monotheismus« bezeichnet. L. geht von der Tatsache aus, dass in der Genesis das Wort ’ælohîm (Gott) sowohl singularisch als auch pluralisch konstruiert wird. Das führt dazu, dass die Bedeutung des Wortes eigentümlich changiert. Zum einen ist unter ’ælohîm vielfach der eine Schöpfergott zu verstehen. Aber die Bedeutung ist darauf nicht eingegrenzt, sie kann auch verschiedene ’ælohîm umfassen. In diesem Sinn versteht L. den Plural sowohl in Gen 1,26a (»wir wollen Menschen machen zu unserer Statue, ähnlich unserer We­sensgestalt«) als auch in 3,22a (»nun ist der Mensch geworden wie einer von uns in Bezug auf die Erkenntnis von gut und schlecht«). Zugleich aber sind, wie L. sich ausdrückt, alle Gottheiten ’ælohîm »zugleich und letztlich« die Gottheit JHWH (78). »Inklusiver Monotheismus« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die eine Gottheit JHWH auch die Gottheiten ’ælohîm »umfassen kann«, dass JHWH »letztlich hinter jeder realen Gottheit stehen« kann (80).
Was an der Urgeschichte bezüglich des »inklusiven Monotheismus« erarbeitet wurde, bewährt sich an den Erzelternerzählungen. In ihnen gibt es unzählige Fälle von gelungener Konvivenz: mit den Amoritern (14,13), den Leuten von Gerar (Gen 20 f.), den Hetitern (Gen 23), usw. Immer spielt die theologische Verständigung dabei eine ausschlaggebende Rolle, wie im Fall von Melchisedek (Gen 14) oder Abimelech (Gen 20), mit denen es zur Verständigung kommt, ohne dass sie deshalb zu Verehrern JHWHs würden. Dass es dabei nicht nur um den Himmel geht, zeigen die positiven wie negativen Beispiele. In ihnen spielt nämlich die Frage der Gerechtigkeit eine ebenfalls grundlegende Rolle. Besonders deutlich wird dies im Fall der misslingenden Konvivenz mit den Bewohnern Sodoms, wie sich dies im Gespräch Abrahams mit JHWH niederschlägt (Gen 18,16–32). Dasselbe gilt für das gescheiterte Zusammenleben mit den Sichemiten (Gen 34).
Konvivenz mündet in Landgabe bei gleichzeitiger räumlicher Trennung. Zusammenleben heißt eben nicht Vermischung. Dabei ergibt sich eine interessante Perspektive, wenn man die Texte wirklich im Kontext der Genesis und nicht auf dem Hintergrund späterer Vernichtungsaussagen liest. Nach Gen 15,19 ff. werden zwar die Völker des Landes an die Nachkommen Abrams und Sarajs gegeben. Im Kontext der Genesis aber heißt das, »dass die Nachkommen Abrahams mit den genannten Völkern nach der Landnahme […] in friedlicher Konvivenz zusammenleben […] sollen« (161).
L. zieht diese Linien durch die ganze Genesis durch. Überraschenderweise lässt er nur die Jakob-Esau-Erzählung beiseite, ob­wohl sie ein gutes Beispiel für Verständigung bei gleichzeitiger räumlicher Trennung ist. Der Grund mag darin liegen, dass Esau kein Bewohner des Landes ist, worum es L. vorrangig geht.
Nach den Exegesen untersucht L. systematisch die Genesis als Erinnerungsfigur sowie Strukturen der Erinnerung in der Genesis. Hier unternimmt er vor allem eine Verankerung des Konzeptes in der Perserzeit. Für die Endgestalt der Genesis ist das ohne Zweifel überzeugend. Ob jeder Einzelzug der Überlieferung auch von dieser zeitlichen Verordnung gedeutet werden kann, scheint auch L. selbst gelegentlich fraglich zu sein. Zu Recht hält er fest, »dass die Genesis nicht als reines Abbild nachexilischer Verhältnisse in der südlichen Levante verstanden werden kann, sondern in erster Linie eine literarische Konstruktion ist« (360 f., Anm. 1299).
Völlig überzeugend arbeitet L. heraus, dass »die Genesis als ein von der Exodustradition programmatisch unterschiedener Text verstanden und analysiert werden kann« (23). Erkennbar bildet sie ein »Gegenmodell« (295) oder »Gegengewicht« (387) zu einer auf Vernichtung abzielenden Theologie, wie sie etwa hinter Ex 23,23–33 steht. Es besagt, »dass auch die jeweiligen Bewohner des Landes – als die Landgeber – weiterhin im Land leben dürfen und sollen – das Land ist groß genug für alle!« (260) L. besteht darauf, dass es die Möglichkeit »nebeneinander stehender pluraler Vorstellungen« innerhalb des Kanons geben muss, dass »[d]ie Exoduserzählung […] und die Genesis« sich »als zwei verschiedene Erinnerungsfiguren in einem […] Kanon […] verstehen« lassen (302–304, Hervorhebungen i. O.). Und er räumt ein, dass beide Erinnerungsfiguren »Geltung beanspruchen« (352).
In welcher Form welche Geltung realisiert wird, kann die Exegese nicht mehr entscheiden; das liegt bei den Auslegungsgemeinschaften, die sich auf diese Texte beziehen. Die Exegese kann aber die Texte so weit aufschließen, dass die Vielfalt ihrer Lesarten allererst sichtbar wird. Das ist L. mit seiner detailreichen und anregenden Studie gelungen.