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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1153-1155

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Oermann, Nils Ole

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethik. Vom freien Markt bis zur Share Economy.

Verlag:

München: C. H. Beck 2015. 128 S. = Wissen in der Beck’schen Reihe, 2845. Kart. EUR 8,95. ISBN 978-3-406-67549-2.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Oermann, Nils Ole: Anständig Geld verdienen? Eine protestantische Wirtschaftsethik. Bearb. u. erw. Neuausgabe. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 389 S. = Herder Spektrum, 6571. Kart. EUR 12,99. ISBN 978-3-451-06571-2.


Nils Ole Oermann gehört zusammen mit Wolfram Stierle zu den evangelischen Theologen, die als ausgebildete Ökonomen praktische Erfahrungen in der Politikberatung haben (O. bei Bundespräsident Köhler und im Finanz- und Innenministerium, Stierle bei den Bundespräsidenten Rau und Gauck und im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit). O. ist außerdem Jurist, hat Ab­schlüsse in Oxford und Harvard und arbeitete als Unternehmensberater im Bankenbereich. Er lehrt Wirtschaftsethik in Lüneburg und St. Gallen und leitet den Forschungsbereich »Religion, Politics und Economics« an der Humboldt-Universität. Die akademische Fachwelt fremdelt allerdings eher bei solchen Multitalenten – bei O. vielleicht besonders, weil er mit seiner 2010 erschienenen Albert-Schweitzer- und der Peter-Pauly-Biographie sein schriftstellerisches Talent bewiesen hat (Albert Schweitzer [1875–1965]. Eine Biographie. München 2009; Der weiße Ovambo. Ein deutsch-afrikanisches Jahrhundertleben, Freiburg u. a. 2014) und mit »Tod eines Investmentbankers«, einer »Sittengeschichte der Finanzbranche«, sogar zum Bestsellerautor wurde.
Diese Rezeptionsblockaden sind schade. Denn mit der Neuauflage seiner Habilitationsschrift (Protestantische Wirtschaftsethik unter den Bedingungen globaler Märkte, Gütersloh 2007) »Anständig Geld verdienen?« ebenso wie mit seiner in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenen »Wirtschaftsethik« mit dem Untertitel »Vom freien Markt bis zur Share Economy« arbeitet sich O. an einer sozialethischen Kernaufgabe ab. In einer Situation, in der nach einem von O. zitierten Bonmot von Birger Priddat Wirtschaftsethik ein Fach »mit Konjunktur, aber ohne Wirkung« ist, entwickelt er eine protestantische Wirtschaftsethik für andere. Er ist dabei wie kaum ein anderer darauf vorbereitet, die Zukunftsfähigkeit einer beim Kantischen »Du sollst« einsetzenden evangelischen Verantwortungsethik gerade unter den herausfordernden Bedingungen der global vernetzten Finanzwirtschaft darzustellen. In der aktualisierenden Bearbeitung sind die ursprünglichen Fallstudien aus den Bereichen zerfallender Staatlichkeit ( failed states), der demographischen Entwicklung (Generationengerechtigkeit), der Entschuldung verarmter Länder, dem Zugang zur Informationstechnologie und der neueren Unternehmensethik ersetzt durch die Erträge seiner biographischen Fallstudie zum verhängnisvollen Wirken des Investmentbankers Edson Mitchell, der die gegenwärtige Unternehmensstrategie (nicht nur) der Deutschen Bank maßgeblich geprägt hat. Während der ursprüngliche Umfang der Habilitationsschrift nun fast um die Hälfte gekürzt wurde, verlagerte sich der Darstellungsschwerpunkt von der Entwicklungsökonomie auf die Finanzwirtschaft, und an vielen Stellen sind zwischenzeitliche Entwicklungen nachgetragen.
Beide Veröffentlichungen bieten eine Kombination aus histo-rischem und systematischem Orientierungswissen als Voraus-setzung eigenständiger wirtschaftsethischer Urteilsbildung und reflektierter unternehmensethischer Entscheidungsfindung. Als »protestantische Wirtschaftsethik« enthält »Anständig Geld verdienen?« in einem ersten Teil neben einer Art theologisch-anthropologischer Einleitung zum Verhältnis von Ökonomie und Theologie einen Abriss der katholischen Soziallehre und der evangelischen Wirtschaftsethik (»Wirtschaft und Ethik aus Sicht der Theologie«). Im dritten Teil ist spiegelbildlich dazu von Adam Smith bis zur Entstehungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft die »Wirtschaftsethik aus der Sicht der Ökonomie« dargestellt. Dazwischen findet sich ein Mittelteil mit wirtschaftsethischen Begrifflich-keiten »aus theologisch-ethischer Sicht« mit Themen wie der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption, Menschenrechte und so­zialer Gerechtigkeit, oder auch »Anstand«.
Dem entspricht in der »Wirtschaftsethik« (man könnte ergänzen: »für Manager«) ein Abschnitt über »Schlüsselbegriffe und Grundpositionen«, in dem es ebenfalls um Gerechtigkeit, Menschenwürde und Anstand geht (sowie um den »ehrbaren Kaufmann«). Der historische Teil, richtig als »kurze Ideengeschichte« charakterisiert, ist hier mit »Markt, Reichtum und Gerechtigkeit« überschrieben, reicht von Adam Smith bis zum radikal interpretierten homo oeconomicus eines Gary S. Becker – thematisiert aber auch in diesem stark anwendungsorientierten Buch sowohl die katholische Soziallehre als auch die protestantische Wirtschaftsethik. Im systematischen Gegenstück sind Globalisierungsthemen wie Fair Trade, Kinderarbeit, Nachhaltigkeit und Steueroasen angesprochen. In den abschließenden »Perspektiven und Visionen« wird auf die Möglichkeiten vernetzter Marktteilnehmer als »Prosumenten« im Rahmen einer »Share Economy« verwiesen: wenn diese ihre Verantwortung unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen be­wusst wahrnehmen.
Die darstellerische Begabung O.s, insbesondere seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge auch für jeweils nicht fachlich gebildete Leser prägnant zusammenzufassen, macht sich durchgehend wohltuend bemerkbar. Angesichts der interdisziplinären Kenntnisse O.s und vor dem Hintergrund seiner singulären praktischen Erfahrungen ist dann an diese verdienstvollen Veröffentlichungen allerdings umso dringlicher die kritische Frage zu stellen, ob durch dessen Ansatz angesichts der sich jetzt noch einmal deutlicher abzeichnenden Herausforderungen christlichen Orientierungswissens durch eine global vernetzte Wirtschaft das Aktualisierungspotential christlicher Tradition und des protestantischen Ethikansatzes wirklich ausgeschöpft ist. Zwar unterstreicht der Ertrag der Mitchell-Biographie eindrucksvoll das in beiden neueren Veröffentlichungen herausgehobene (Kantische) Argument, es gehe um die Frage: »›Was soll ich tun?‹ und eben nicht: ›Was sollen wir/das System/die Gesellschaft tun?‹«, die O. als »Kernthese dieser protestantischen Wirtschaftsethik« sogar zur interkonfessionel-len Profilierung benutzt (Anständig Geld verdienen?, 9: vgl. Wirtschaftsethik, 7).
Aber das Problem des zu Recht kritisierten katholischen Naturrechts ist doch gerade der verdeckte Subjektivismus des institutionell autorisierten Auslegers, in dessen Kopf die Auslegung positiv wird. Und das (ohnehin nicht ethische, sondern nur) juristische Argument, das »im deutschen Strafrecht nur natürliche Personen und keine Systeme oder Unternehmen auf die Anklagebänke setzt« (Wirtschaftsethik, 10), ist ja gottseidank nur noch halbrichtig. Rechtsauslegung und Rechtsentwicklung entwickeln sich angesichts der globalen Problemlagen vielmehr weiter in Richtung des international üblichen Unternehmensstrafrechts.
Fundamentalethisch positioniert O. sich damals wie heute in Kernthesen, die einen Mittelweg markieren (Wirtschaftsethik, 20–26). Hier wird der paulinisch (lutherische) Freiheitsansatz christ-licher Normierung gegenübergestellt, gleichzeitig werden aber »globale Perspektive« und »eindeutige Begrifflichkeit« gefordert. Die Orientierung an »sozialer Gerechtigkeit« und »Gemeinwohl« soll durch »individuell einforderbare Verantwortung und Haftung« ersetzt werden, der hermeneutisch interpretierte »homo integralis« den berechenbaren »homo oeconomicus« ablösen. »Der Versuch, Sozialethiken rein kollektiv auf die Verantwortung von Systemen und Institutionen aufzubauen, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie eine individualethisch enggeführte Wirtschaftsethik«, heißt es dann allerdings doch. Lediglich ein methodischer Hinweis führt weiter: »Nicht ihre sozialpolitische Forderung, sondern ihre theologische Begründung macht sie zu einer theologischen Wirtschaftsethik.«
Das allerdings ist problematisch. Reicht dieser Mittelweg wirklich aus zur »anthropologischen Neuausrichtung von Ökonomie im Zeichen globaler Märkte« (Wirtschaftsethik, 16), die zu Recht einer »Aufstellung theologisch untermauerter Forderungen an wirtschaftliches Handeln« gegenübergestellt wird? Oder verschiebt sich im Zeitalter des global vernetzten Finanzkapitalismus die persönliche Wahrnehmung sozialer Verantwortung in einer modernen Welt nicht in die Verantwortung, für die im Netz Übersehenen und von den Finanzströmen Ausgeschlossenen als Mitglied einer Kirche für andere Strukturverantwortung zu übernehmen. Die theologische Qualität hieße dann: stellvertretend und zeichenhaft, auch prophetisch vorwegnehmend. Wollen bzw. dürfen wir das, wie ehedem, dem »ehrbaren Kaufmann« überlassen, der »anständig« sein Geld verdient?