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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1232-1234

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rothschild, Clare K.

Titel/Untertitel:

Paul in Athens. The Popular Religious Context of Acts 17.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XXI, 215 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 341. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-153260-3.

Rezensent:

Vitor Hugo Schell

Abgesehen von ihrer 2004 in der zweiten Reihe der WUNT publizierten Dissertation »Luke-Acts and the Rhetoric of History« ist das vorliegende Werk die dritte Untersuchung von Clare Komoroske Rothschild, Professorin am »Department of Theology« der Universität Lewis, die in dieser Reihe erscheint. Nach den Monographien »Baptist Traditions and Q« und »Hebrews as Pseudepigraphon: The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews« führt R. ihre Erforschung der hellenistisch-römischen und hellenis­tisch-jüdischen Literatur fort mit einer Untersuchung von Apg 17. Nachdem schon H. D. Betz und J. C. Hanges behauptet hatten, Paulus habe sich in seinen Briefen selbst als eine »cult transfer figure« verstanden, versucht R. zu zeigen, dass auch Lukas diese Perspektive auf Paulus kannte und sie in der Apostelgeschichte auf ihn übertrug. Nach R. ist die Verknüpfung mit Traditionen um die Figur des Epimenides von Kreta, wie sie sich im 2. Jh. n. Chr. herauskris­tallisiert haben, die logischste Erklärung für die scheinbar ad hoc gestalteten Komponenten der Darstellung des Besuches des Paulus in Athen, einschließlich des Anfangs, des Höhepunkts und des Endes der Szene.
Über die Zuschreibung von Apg 17,28a an Epimenides hinaus behauptet R., Lukas habe Paulus als eine Art zweiten Epimenides in Athen erscheinen lassen. So wie Epimenides die Verehrung des Zeus nach Athen brachte, so wollte Lukas nach R. Paulus als einen christlichen »cult transfer facilitator par excellence« darstellen (4). Um ihre Grundthese zu untermauern, eröffnet R. zunächst neu die Diskussion um Apg 17,28a. Sie zeichnet die Interpretationsgeschichte dieser Stelle aus der Areopagrede nach, angefangen bei Clemens von Alexandrien über Johannes Chrysostomus bis hin zu M. Pohlenz und H. Hommel, und verweist dabei auf Schwächen der Argumentation bei denen, die jegliche Beziehungen zwischen Apg 17,28a und Epimenides ablehnen. Im dritten Kapitel zeigt R., wie die NRSV und andere moderne englische Übersetzungen drei un­bewiesene Voraussetzungen der Forschungsgeschichte zu korrigieren versuchen, nämlich (a) die Betonung des Verses 18, welche die Verse 16–34 einem mutmaßlichen Streit des Paulus mit den Philosophen unterordnet, (b) die zynische Haltung der Athener gegenüber dem lukanischen Paulus und (c) der abwertende Ton des lukanischen Paulus der athenischen Kultur gegenüber. Nach R. sind diese Voraussetzungen sowohl im Rahmen des exegetischen Zu-sammenhangs von Apg 17 als auch des lukanischen Doppelwerks unbegründet.
Im vierten Kapitel unterstreicht R. den Einfluss der Epimenidea in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. und beleuchtet deren Entstehung. Die Herausbildung von Traditionen um Epimenides ist u. a. bei Platon, Aristoteles und Diogenes Laertius zu beobachten, also von der klassischen über die hellenistische Zeit bis in die Kaiserzeit. Den Kern ihrer Fragestellung erreicht R. in Kapitel 5, in dem sie den Einfluss der Epimenidea auf die Areopagrede aufzeigt. Über eine detaillierte Untersuchung der ganzen Episode in Athen hinausgehend stellt R. fest, dass Lukas das Bild des Paulus in Apg 17 absichtlich nach dem Bild des alten kretischen Sehers Epimenides gestaltet hat. Nach R. sei es sehr wahrscheinlich, dass die Literatur um Epimenides auch im paulinischen Umfeld – eingeschlossen den Autor der Apg und der Pastoralbriefe – bekannt war. Lukas lässt Paulus vor dem Areopag nach R. als eine Art Epimenides redivivus reden, um die Identität eines unsterblichen Gottes einzuführen, nämlich Jesus, von dem bekannt war, dass sein Grab leer war. Lukas bediene sich der in den Progymnasmata üblichen literarischen Technik der προσωποποιΐα, nach der ein Schriftsteller eine Person in character einer anderen reden ließ. So lässt er Paulus in Apg 17,28 Worte aus den Epimenidea vortragen, als ob diese vom Redner selbst stammten. In Zuspitzung ihrer Argumentation behauptet R., Lukas habe außerdem ein Element der Lehre des Paulus aus dem Galaterbrief zu seinem Zweck herangezogen, nämlich die Behauptung, Paulus habe sich selbst den Gemeinden in Galatien als der gekreuzigte und auferstandene Christus vorgestellt (vgl. Gal 4,14; 6,17).
Paulus habe nach R. beim Predigen wie in einer performance die Identität Jesu angenommen. So wie Paulus nach R. in Galatien als eine Art Reinkarnation Christi erschienen sei, so solle auch der lukanische Paulus als eine Reinkarnation des Epimenides in Athen erscheinen, um den griechischen Widerstand gegen die Auferstehung des Fleisches zu brechen. Weil für die Hörer der Areopagrede Kreta als Ort der Bewahrung der ältesten Gestalt griechischer Kultur bekannt war, dem auch die Einführung der Religion für die Menschheit zugeschrieben wurde, und als eine Art von kultureller Brücke zwischen West und Ost galt, war für Lukas Epimenides aus Kreta eine ideale Quelle für Anspielungen in der Areopagrede. R. zeigt in Kapitel 6, dass solche Anspielungen nicht nur in der Rede selbst, sondern auch im erzählerischen Rahmen in Apg 17,16–21.32–34 festzustellen sind. Im Vordergrund der Darstellung des Paulus in Athen spiegele sich die zeitgenössische Welt, also das Leben des Paulus wider, und im Hintergrund mit seinen archaischen Elementen das klassische Athen.
Über die Feststellung möglicher Entsprechungen zwischen Epimenides und Paulus nach Apg 17 hinausgehend behandelt R. im Kapitel 7 ihrer Untersuchung weitere Anknüpfungspunkte zwischen Paulus und Epimenides und fragt, wie der lukanische Pau-lus zu dem generellen Paradigma einer ancient cult transfer figure passt. Im letzten Kapitel baut R. auf den Analysen von Betz, Hanges und Gebhard auf und versucht zu zeigen, dass der Autor des lukanischen Doppelwerks das missionarische Wirken des Paulus in Apg 13–28 nach dem konventionellen literarischen Muster von cult transfer narratives aufbaut. Nach einem Fazit ihrer Untersuchung und (als Appendix) einer kurzen Analyse des Phänomens der κοίμησις im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte stellt R. am Ende dem Leser ein sehr hilfreiches aktuelles Literaturverzeichnis zur Verfügung. Ihr Werk ist für die künftige Erforschung des lukanischen Paulus-Bildes, insbesondere seines Auftretens vor dem Areopag nach Apg 17, unverzichtbar.