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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

494-496

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schlüter, Ulf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelisch in Dortmund, Lünen und Selm. Kirche der Reformation 1517 bis 2017. Hrsg. f. d. Evangelischen Kirchenkreis Dortmund.

Verlag:

Essen: Klartext Verlag 2015. 360 S. m. Abb. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-8375-1032-4.

Rezensent:

Albrecht Philipps

Pünktlich zum Reformationsjubiläum 2017 erscheint eine umfassende Sicht auf die evangelische Kirche in Dortmund, Lünen und Selm. Zwar ist die westfälische Industriemetropole Dortmund nicht eben als ein Zentrum evangelischer Kirchlichkeit im Lauf der Kirchengeschichte hervorgetreten. Industrialisierung, die Ge­schich­te von Bergbau und Stahl prägen Dortmund bis heute. Gerade deswegen aber lohnt es sich, einen tieferen Blick auf die historischen Voraussetzungen und aktuellen Gegebenheiten kirchlicher Arbeit zu richten, wie es in dieser umfangreichen Aufsatzsammlung geschehen ist. Lässt sich doch in Dortmund und Umgebung deutlich und exemplarisch ablesen, wie sich der Gegenwartsbezug christlichen Glaubens heute in einer multikulturellen Großstadt darstellt, welche Rolle der evangelischen Kirche in ihr zukommt und wie die Entwicklung dorthin gewesen ist. Das wird in diesem reich bebilderten Band mit seinen 42 Beiträgen von 24 Autoren (es sind 21 Männer und drei Frauen) anschaulich dargestellt.
Das Buch richtet sich nicht an ein Fachpublikum, sondern an kirchlich und geschichtlich Interessierte, es »ist in erster Linie für ›ganz normale‹ Leserinnen und Leser gedacht« (1). Dass es deswegen den Autoren freigestellt war, Zitate durch Belegstellen in Anmerkungen auszuweisen oder darauf zu verzichten (1), führt dazu, dass einige Artikel im Anhang des Buches einen umfassenden Anmerkungsapparat haben, den man bei anderen Autoren vermisst, etwa bei dem fundierten Beitrag von Johannes M. Ruschke zu »500 Jahre evangelische Kirchenmusik in Dortmund« (96–112). Vielfach wurde unveröffentlichtes Material aus Archiven herangezogen. Bei der Nennung der Quellen wäre eine einheitliche Quellenangabe etwas schöner gewesen: Mal werden die Bestände des Landeskirchlichen Archivs in Bielefeld mit »LkA Bielefeld Best.« (335), mal mit »LkA EKvW« (z. B. 343) abgekürzt.
Das Buch ist klar in sechs Sektionen gegliedert. Die erste Sektion heißt: »Das Licht des Evangeliums entdecken« (7–40) und vereint fünf Beiträge zur Reformationsgeschichte: 1. Die lutherische Be­kenntnisbildung in der Reichsstadt Dortmund (Christian Helbich, 8–15). 2. Zwei Kurzbiographien der Dortmunder Gelehrten Johannes Lambach und Jakob Schöpper, die am 1543 gegründeten Archigymnasium wirkten (ders. 16–18). 3. Die Ge­schichte des ersten Dortmunder Superintendenten Christoph Scheibler (Michael Basse, 19–21). 4. Eine Darstellung der Predigtsammlung dieses ersten lutherischen Superintendenten gewährt einen Einblick in den Alltag während des Dreißigjährigen Krieges (Günter Birkmann, 22–32). 5. Die Geschichte der Reformationsfeiern erhellt die jeweils zeittypischen Sichtweisen auf die Reformation (Christian Helbich, 32–40).
Die zweite Sektion heißt »Kirche, Kanzel und Katheder« (41–132) und umfasst sieben Texte zu den Wechselwirkungen von Kirche und öffentlichem Leben: 1. Die Bedeutung der zentralen Stadtkirche St. Reinoldi wird in einem umfassenden Aufsatz in Geschichte und Gegenwart dargestellt. Kunstgeschichtliche und architektonische Details dieser im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Dortmunder Hauptkirche werden durch Bilder untermauert (Thomas Schilp, 42–55). 2. Aufschlussreich ist der Aufsatz zur Architektur der mittelalterlichen Stadt- und Dorfkirchen, der die kunsthistorische Bedeutung der Sakralbaulandschaft ausweist (Roland Pieper, 56–66). 3. Die hervorragende Bildqualität des Buches kommt besonders auch dem ausführlichen Text über bekannte und verborgene Kunstschätze in den Kirchen der Stadt zugute (Ulrich Althöfer, 67–84). 4. Predigten aus dem 17. bis 20. Jh. belegen, wie evangelisches Selbstverständnis und Stadtgeschichte sich gegenseitig bereicherten (Michael Basse, 85–95). 5. Die große Bedeutung der Kirchenmusik – immerhin hatte die Stadt einmal die größte Orgel Westdeutschlands und bis heute eine reiche Chorarbeit – wird in einem Durchgang durch die kirchliche Musikgeschichte dargestellt (Johannes M. Ruschke, 96–112). 6. Die evangelische Schulentwicklung (Günter Birkmann, 113–123). 7. Die 1840 gegründete Bibliothek dient der Bildung und wird über die Stadtgrenzen hinaus genutzt (Ina Annette Bierbrodt, 124–132).
In der dritten Sektion »Ökumene – auch der Religionen« (133–161) stellen Günter Birkmann, Wolfgang Buchholz und Wolfgang Dembski in vier Aufsätzen die Konfessionskonflikte, das Verhältnis von Juden und Christen in der Stadt und die ökumenischen Projekte in jüngerer Zeit dar. Dortmund hatte eine große jüdische Gemeinde. Die Walckerorgel in der großen Synagoge am Hiltropwall war zeitweise die beste Orgel der Stadt, die auch von den kirchlichen Kantoren geschätzt und gespielt wurde. Zur Orgelweihe 1900 spielte wahrscheinlich der evangelische Kantor von St. Petri die Synagogenorgel (151).
Die vierte Sektion »Reden allein reicht nicht« (163–212) legt einen Schwerpunkt auf das diakonische Handeln und die ersten Theologinnen. Matthias Dudde, Hermann-Ulrich Koehn, Ingeborg Sundermeier, Heidemarie Wünsch, Ralf Wieschhoff und Detlev Brum zeigen, wie von der Armenfürsorge bis zur gegenwärtigen Flüchtlingshilfe Männer und Frauen am diakonischen Profil der Kirche mitgewirkt haben.
In der fünften Sektion »Kohle, Krieg und Kirchenkampf« (213–262) zeigen in neun Aufsätzen Jens Murken, Hermann-Ulrich Koehn, Michael Basse, Klaus-Bernhard Philipps, Johannes Weissinger, Günter Birkmann, Traugott Jähnichen, Jürgen Kampmann und Claudia Seyfried, wie sich die evangelische Kirche unter extremen Bedingungen verhalten hat. Hans-Joachim Iwand, 1938 bis 1945 Pfarrer an St. Marien, und Superintendent Fritz Heuner zählen dabei zu den markanten Persönlichkeiten des Dortmunder Protestantismus.
In der letzten Sektion »Wiederaufbau und Strukturwandel – Neue Herausforderungen für Kirche und Diakonie« (263–332) wird schließlich besonders der Nachkriegsprotestantismus seit 1945 beleuchtet. In acht verschiedenen Aufsätzen erläutern Jens Murken, Hermann-Ulrich Koehn, Klaus-Bernhard Philipps, Jürgen Vollmer, Matthias Dudde und Ulf Schlüter, wie die Dortmunder Kirchengemeinden, der große Kirchenkreis und die Diakonie neue Verwaltungsstrukturen, die Arbeit in der Seelsorge und auch die Kirchentage in Dortmund als Herausforderungen annahmen. Dabei wird deutlich, dass das Buch nicht nur eine Rückschau, sondern auch eine geschichtsbewusste Zukunftsperspektive sein möchte: Der Abschlusstext des Dortmunder Superintendenten Ulf Schlüter wählt diesen Ansatz und fragt nach der Zukunft evangelischer Kirche in der Stadt »nach 2017« (326–332).
Besonders wertvoll ist dieses Buch durch die große Vielfalt der Texte und der Bilder. Die Bildmotive sind so ausgesucht, dass sie die Texte hervorragend unterstützen und manche neuen, bisher we­nig bekannten Aspekte betonen. So zeigt etwa das »Nebe-Kästchen« (89 und 90) 21 Klapptäfelchen mit Fotos der 175 Kirchen, die der westfälische Generalsuperintendent Gustav Nebe in seiner langen Amtszeit zwischen 1883 und 1905 eingeweiht hat, und die liebevoll in einem besonderen Holzkästchen aufbewahrt wurden.
Originell spricht ein fiktiver Brief den »Sehr geehrte[n] Doktor Luther!« am Beginn des Buches an (Hermann-Ulrich Koehn, 3–6). Weil Luther niemals in Westfalen war, werden ihm das reformatorische Wirken und die Geschichte der evangelischen Kirche in Westfalen dargelegt. Ob Luther allerdings einverstanden gewesen wäre, wenn man ihn für die »Spaltung der Kirche« (3) verantwortlich gemacht hätte, bleibt fraglich. Das martialische Wort von der Kirchenspaltung ist wohl eher ein katholischer Kampfbegriff, der übersehen lässt, dass die Einheit der Kirche nicht zuerst und vornehmlich von der Reformation als Erneuerungsbewegung aufs Spiel gesetzt worden ist.
Dieses Buch hält, was es verspricht: Geschichte des Protestantismus und Ideen zu seiner Zukunft dem Leser in spannender Weise zugänglich zu machen.