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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

544-546

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Filipovi, Alexander

Titel/Untertitel:

Erfahrung – Vernunft – Praxis. Christliche Sozialethik im Gespräch mit dem philosophischen Pragmatismus.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 246 S. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 2. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-77296-1.

Rezensent:

Lukas Ohly

Die Habilitationsschrift von Alexander Filipovi, die an der katholischen Fakultät Münster 2013 angenommen wurde, setzt sich das Ziel, zu beantworten, »wie die Christliche Sozialethik ihr Projekt […] in einer pluralistischen gesellschaftlichen Situation formulieren […] kann« (16). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Differenz zwischen Moraltheologie und Sozialethik (23.50) zur evangelischen Unterscheidung von Individual- und Sozialethik quer läuft ebenso wie zur Differenz von Moralphilosophie und -theologie. Die Sozialethik F.s ist das Erbe der katholischen Soziallehre, die die Gesellschaft zum Gegenstand hat (209) und dabei auch empirische sozialwissenschaftliche Beschreibungen aufzunehmen hat (kritisch 210). Das fünfte und abschließende Kapitel, das diese Klarstellung vornimmt, scheint mir die eigentliche Einleitung des Buches zu sein. In Kapitel 1 hat Sozialethik dagegen ihren Ort in der Fundamentalethik (14), nämlich in ihrer Verhältnissetzung zur Moralphilosophie (13). Wenn beide Verwendungen von »Sozialethik« nicht äquivok sein sollen, so ist damit schon eine methodische Entscheidung getroffen: Der gesellschaftliche Pluralismus selbst ist es, der normative Entwicklungen konstruktiv und zum Guten vorantreibt. Dahinter steckt also dann bereits die pragmatistische Theorie des Guten, »die vornehmlich aus der sozialen Interaktion des Problemlösens selbst gewonnen wird« (191).
Nun bescheidet sich F. weitgehend auf die Darstellung sozialethischer (Kapitel 3) und pragmatistischer (Kapitel 4) Entwürfe und zeigt sich äußerst sparsam mit eigener Kritik und Weiterführung. Dietmar Mieths Entwurf, der von allen am ausführlichsten behandelt wird (26–49), wird nur in seinem Begriff der kompetenten Erfahrung kritisiert (170) und in der mangelnden Verschränkung von Hermeneutik und ethischer Begründung (ebd.). Die anderen Beiträge werden dagegen allenfalls miteinander, und das en passant, verglichen (Habermas mit Putnam, 157; Putnam mit Rorty, 143) oder in ihrer Leistungsfähigkeit in Balance gebracht (83). Die Stärke des Buches liegt eindeutig in seinen gezielten und jeweils knappen Darstellungen, die sogar auf theoretische Grundlagen mutig verzichten (im Abschnitt über Peirce [96–99] fehlt die Kategorienlehre, die erst später fokussiert eingeführt wird [130 f.]; die diskursethische Pointe des performativen Widerspruchs bei Habermas wird namentlich gar nicht genannt). Diese Konzentration auf die Zielsetzung setzt neue Pointen: Bei Habermas etwa wird so die Kontinuität seiner Philosophie klug aufgezeigt (149). Auch die Zu­ordnung des Entwurfs Martha Nussbaums ins Kapitel zur Christlichen Sozialethik sowie die Einordnung Habermas’ in pragmatis­tische Weiterführungen gehört zu solchen Pointen.
Dagegen scheint die eigene Positionierung F.s weitgehend zu fehlen. Man hat den Eindruck, das Ziel gehe schon in einem Theorie-Import des Pragmatismus in die christliche Sozialethik auf (so auch 203). Ein Interesse scheint aber durch alle Darstellungen hindurch, nämlich der Versuch einer nicht-metaphysischen Ethik (57.144), die der Pragmatismus »beerbt« (195); F. spricht auch von einer »Inversion« (188 f.). Mit einer pluralismusfähigen christlichen Sozialethik ist ein weitgehender Verzicht auf deren Begründung verbunden (68.82 f., vgl. 174): Begründungsfragen sollen »zuguns­ten kreativer Problemlösung an den Rand« gerückt werden (192), denn die Identität der Christlichen Sozialethik hängt weder an Begründungen noch an der »Unbedingtheit des moralischen Sollens« (ebd.). An ihre Stelle tritt die Grundierung von Ethik qua »Option« (ebd.).
M. E. führt der Pragmatismus nicht geradlinig in ein solches Optionenmodell – Hermann Deusers von Peirce beeinflusste Ethik etwa unterscheidet sich von einem Liberalismus, obwohl auch sie Unbestimmtheiten auf die Prinzipienebene zieht. Ein Optionenmodell wiederum führt zur Revitalisierung einer katholischen Kasuistik und mag für F. vielleicht deshalb attraktiv sein.
Das eigene Ethikmodell, das F. nur vorsichtig und am ehesten in Kapitel 4 konturiert, macht Erfahrung zur »Instanz« (28), über moralische Richtigkeit (vgl. 180), Geltung (57) oder Gültigkeit (104) perspektivisch zu entscheiden. Anstelle einer auf Inhalten basierenden (metaphysischen) Wahrheit wird ein methodisch-prozeduralistisches Wahrheitsverständnis gesetzt (88.91.191).
Das Christliche daran zeigt sich darin, dass Glaube und Religion ebenso erfahrungsbasiert sind (35.41.44.136 ff.167 f.). Ihre Perspektive sei zwar kontingent, dürfe aber nicht einem Universalismus geopfert werden (73). F. folgert daraus, dass Christliche Sozialethik zwar nicht mehr mit Offenbarungsinhalten begründen »muss« (darf? 187 ist hier uneindeutig), wohl aber ihre »Beweggründe« in die Argumentation einzubringen habe (187). M. E. wird hier die pragmatistische Überwindung von fact/value-Dualismen (z. B. 117 f.144 f.) wieder zurückgenommen. Ist nicht Erfahrung das Integral, das Subjekt und Objekt sowohl verbindet als auch konstituiert? Zu Recht schreibt F.: »Erfahrung konstituiert das Erfahrene und den, der die Erfahrung macht« (167). Hinter dem Verzicht auf Begründungen steht dagegen letztlich ein ontologischer Dualismus, der ebenso pragmatistisch überwunden ist, nämlich der zwischen Diesseits und Jenseits: Religiöse Erfahrung werde angeblich »unter Rückgriff auf nichtnatürliche Strukturen und Entitäten« (138) gedeutet. »Ein Bezug auf Gott oder allgemein auf ein höheres Wesen oder Transzendentes« (168) verfehlt jedoch den pragmatistischen Beitrag zur Religionsphilosophie, nämlich den eines Erfahrungskontinuums: Die Erfahrung selbst ist danach nämlich schöpferisch, ohne dabei schon übernatürlich zu sein. Gerade dann sind Offenbarungsinhalte nicht etwa kontingent, sondern Rekurse auf die schöpferischen Bedingungen von Erfahrungen.
Das Buch enthält dafür die richtigen Anlagen einer pragmatis­tischen Kosmologie, wenn es die Inversion klassischer Metaphysik »bei dem Moment der Glaubenspraxis« (79) verortet und damit eine Dynamisierung von Wirklichkeit (bei F. zunächst nur der Vernunft) verfolgt, die »nur in der Diesseitigkeit« (ebd.) zu finden ist. Mit Jüngel wird dafür zwischen Sein und Wirklichem unterschieden (62.194). Anstelle dualistischer Wirklichkeitsbereiche werden so kategoriale Differenzen eines Erfahrungskontinuums gesetzt, die F. durchaus begründungslogisch für die Ethik hätte einsetzen sollen.