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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

704-706

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Klutz, Philipp

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien.

Verlag:

Münster u. a.: Waxmann Verlag 2015. 292 S. = Religious Diversity and Education in Europe, 28. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8309-3234-5.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Der Titel des Buches von Philipp Klutz, der aus einer katholisch-theologischen Dissertation an der Universität Wien (betreut von Mar­tin Jäggle) hervorgegangen ist, lässt das besondere Interesse dieser qualitativ-empirischen Untersuchung noch nicht erkennen. Es geht dem Vf. nicht nur um den Religionsunterricht, sondern vielmehr um den schulischen Kontext, in dem dieser Unterricht zu sehen ist. Durch diese Perspektive unterscheidet sich die Studie von Beiträgen zum Religionsunterricht, die sich eher auf didaktische Fragen beziehen, aber auch von der allgemeinen Diskussion über unterschiedliche Organisationsmodelle etwa zum konfessionellen oder nicht-konfessionellen Religionsunterricht. Sie geht vielmehr auf die konkrete Situation an einzelnen Schulen ein und fragt, was sich daraus aus der Sicht von (Religions-)Lehrkräften, Elternvertretungen sowie von (einzelnen) Schülerinnen und Schülern ergibt.
Als Ausgangspunkt für die Untersuchungsperspektive wird in der Arbeit ein Positionspapier des Österreichischen Religionspädagogischen Forums (ÖRF) genannt, »das sich unter bestimmten Bedingungen für die Entwicklung kontextsensibler Modelle des Religionsunterrichts ausspricht«. Ein solcher Religionsunterricht werde erforderlich, wo herkömmliche Modelle »an Grenzen« geraten, vor allem angesichts der zunehmenden religiösen Pluralität in den Schulen (11).
Auf diese Pluralität und ihre Bedeutung für den Religionsunterricht ist der einführende Teil des Buches bezogen (12–52). Dabei hat der Vf. bei seiner Darstellung nicht nur die Situation in Österreich vor Augen, die kenntnisreich bis hinein in statistische Angaben beschrieben wird, sondern es werden immer wieder auch Bezüge zu anderen europäischen Ländern gesucht. Deutlich wird auf diese Weise, dass der Religionsunterricht zunehmend als ausgesprochen begründungsbedürftig angesehen wird und dass insbesondere das Konfessionalitätsprinzip – also die Erteilung von Religionsunterricht in konfessionell aufgeteilten Gruppen – immer wieder kritisch hinterfragt wird.
In einem eigenen Teil des Buches wird die Vorgehensweise der Untersuchung mit Gruppendiskussionen und deren Auswertung mit Hilfe der dokumentarischen Methode beschrieben und begründet (53–87).
Das Herzstück der Arbeit bilden dann aber zwei ausführliche Fallbeschreibungen zu Schulen in Wien (88–217). An beiden Schulen wurden Gruppendiskussionen mit Religionslehrerinnen und -lehrern sowie mit dem Schulgemeinschaftsausschuss durchgeführt, die dann in minutiöser Interpretation Schritt für Schritt ausgewertet werden. Besonders interessant sind diese Darstellungen aus der Sicht anderer Länder auch deshalb, weil dabei Religionslehrkräfte für den Islamischen und den Orthodoxen Religionsunterricht mit zu Wort kommen (das Spektrum unterschiedlicher Formen von Religionsunterricht ist in Österreich schon seit mehreren Jahrzehnten deutlich breiter als etwa in Deutschland). Auf diese Weise entsteht ein plastisches Bild der Situation von Religion und Religionsunterricht an diesen Schulen. Im Vergleich zur Situation in Deutschland tritt besonders das Problem hervor, dass es in Österreich kein flächendeckendes Ersatzfach Ethik gibt, weshalb viele Jugendliche die Freistunde vorziehen, die sie bei einer Befreiung vom Religionsunterricht gewinnen. Eine eigene Schwierigkeit betrifft aber auch die evangelischen Schülerinnen und Schüler: Aufgrund ihrer geringen Zahl fällt es den Schulen schwer, ein praktikables Angebot vorzuhalten. Darüber hinaus werden die weiterreichenden Auswirkungen und Herausforderungen aufgezeigt, die sich aus der religiösen Vielfalt an diesen Schulen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, ergeben. Manche sprechen sich für einen Religionsunterricht aus, der von allen Religionsgemeinschaften gemeinsam verantwortet wird – ein Vorschlag, der bei anderen aber auch auf deutlichen Widerspruch stößt. Besonders die Unterschiede zwischen dem Christentum und dem Islam werden als nicht zu überwindendes Hindernis genannt. Daneben wird kritisch darauf hingewiesen, dass die katholische Amtskirche in Österreich kaum zu Veränderungen bereit sei.
Der Schlussteil des Bandes dient einer Diskussion der Ergebnisse sowie einer weiterreichenden Einordnung in die religionspädagogische Diskussion der Gegenwart (218–259). Fünf empirische Befunde werden zusammenfassend formuliert: die »Tendenz zur Harmonisierung von Religion und Verlagerung aus dem schulöffentlichen Bereich«, so dass Religion nur als Frage für den Religionsunterricht angesehen wird, nicht aber für die Schule insgesamt; ein »Gesamtkonzept für den Umgang mit religiöser Pluralität fehlt«, womit wiederum die Schule als Ganze gemeint ist; »schulische Strukturen und Erwartungen an das Fach fördern seine Randständigkeit« – das ist die Kehrseite für den auf Religion spezialisierten Religionsunterricht; »Erwartungen an religiöse Bildung sind eine wichtige Einflussgröße für die Akzeptanz dieses Religionsunterrichts«; »Schwierigkeiten bei der Etablierung dieses Religionsunterrichts werden primär außerhalb des schulischen Verantwortungsbereichs gesehen«, also vor allem bei den Religionsgemeinschaften.
Ein Anhang, der besonders der Dokumentation verschiedener Materialien aus der Untersuchung dient, beschließt die Arbeit (285–292).
Die Untersuchung verdient weiter über den österreichischen Kontext hinaus Beachtung. Auch wenn nur zwei Schulen genauer untersucht werden, dürften die dabei identifizierten Tendenzen eines als problematisch zu bezeichnenden Umgangs von Schulen mit Religion zumindest ein Stück weit verallgemeinerbar sein – eine Annahme, die allerdings genauer untersucht werden müsste, beispielsweise mit Hilfe einer quantitativ-repräsentativen Befragung im Anschluss an die vorliegende Studie. (Hier liegt im Übrigen eine Schwäche der Arbeit, die sich nicht weiter auf eine Diskussion über die Gewinnung repräsentativer Befunde einlässt, wobei solche Fragen der qualitativen Forschung insgesamt naturgemäß eher fern liegen.)
Angesichts der religiösen Pluralität ist die lange Zeit vorherrschende Vorstellung, dass Religion allein eine Frage für den Religionsunterricht sei, jedenfalls deutlich überholt. Die Schule als Ganze muss sich neu mit der Religionsthematik auseinandersetzen – etwa im Blick auf schulische Feiern, Beten in der Schule usw. Der Religionsunterricht kann dazu einen Beitrag leisten, so wie seine schulische Anerkennung umgekehrt davon abhängig ist, dass Schulen ihre Aufgabe im Blick auf die religiöse Vielfalt über den Religionsunterricht hinaus wahrzunehmen lernen. Dem Vf. ist dafür zu danken, dass er den Blick für solche weiterreichenden Zusammenhänge schärft. Weiterreichende Überlegungen dazu, was die Befunde für das Verhältnis von Schule und Religion bedeuten, müssten allerdings wohl auch historisch ansetzen und herausarbeiten, warum das besonders im 20. Jh. plausible Konfessionalitätsprinzip jedenfalls allein nicht mehr trägt.
Schließlich: Die Studie unterstreicht – mit dem ÖRF – die Notwendigkeit »kontextsensibler« Modelle für den Religionsunterricht. Wie solche Modelle jedoch auszusehen hätten und wie sie funktionieren können, wird hier noch nicht sichtbar – eben weil sie an den untersuchten Schulen (noch) nicht zu finden waren.