Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

711-713

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan, u. Ioan Dumitru Popoiu [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive. Hrsg. unter Mitarbeit v. A. Schulz.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 230 S. = Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 6. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-04110-7.

Rezensent:

Urs von Arx

Der Band versammelt zehn Beiträge, die auf eine gemeinsame Tagung der Orthodoxen Fakultät »Justinian Patriarhul« Bukarest und des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main zurückgehen.
Stefan Alkier, der wiederholt zur Wunderthematik publiziert hat, bietet in seinem Text »Die Wunderdiskussion und die notwendige Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs« (11–42) einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Wirklichkeitsannahmen, die zumal seit der Aufklärung auch die Bibelexegese in der Auseinandersetzung mit einer naturalistischen Religionskritik bestimmt haben. Er plädiert im Horizont einer interkulturellen Hermeneutik für eine neue Offenheit gegenüber der Frage nach dem Wunder, das er »als Friktion, als kontingente singuläre Brechung des Erwartbaren« (40) denkt, und zwar im Rahmen eines Diskursuniversums, das die Wirklichkeit in seiner unabschließbaren Komplexität als Schöpfung Gottes zu sehen wagt.
Bei der Zielsetzung der Tagung, einen Beitrag zu einer interkulturellen Hermeneutik zu liefern, fällt auf, dass die weiteren Vorträge in ihrem Wunderdiskurs – mit Ausnahme desjenigen von Hermann Deuser – christliche Texte aus weit zurückliegenden Jahrhunderten heranziehen, in deren eigenem Diskursuniversum sich neuzeitliche Fragen – etwa ob es Geschehnisse im Sinn der Durchbrechung von Naturgesetzen gibt – nicht stellen. Michael Schneider (»Paulinische Wunder-Geschichten«, 43–60) stellt das geringe Interesse der deutschsprachigen Exegese am Thema Wunder in der neutestamentlichen Briefliteratur fest. Mit der Definition »Wunder sind von Gott oder mit Gottes Kraft gewirkte, menschliche Möglichkeiten übersteigende Geschehnisse« analysiert er die paulinische Wunderrede in 1Kor 10,1–15. Michael Rydryck (»Gottes Machttaten und Gottes Nähe. Skizzen zur Wunderhermeneutik im lukanischen Doppelwerk«, 61–93) arbeitet vier verschiedene Deutungshorizonte von Erzählungen in Lk-Apg heraus, die Wunderphänomene bezeugen, wobei diese definiert werden »als liminale Ereignisse, die göttliche, dämonische und menschliche Machträume durch Transgression und Distinktion konstituieren« (83); das wird dann an einigen Beispielen näher erläutert. Anni Hentschel (»Umstrittene Wunder. Mehrdeutige Zeichen im Johannesevangelium«, 94–115) zeigt, dass Joh (auch für Worte Jesu) den Ausdruck sēmeion verwendet, wenn eine Handlung Jesu interpretationsbedürftig ist, und zwar hinsichtlich seines (erkannten oder bestrittenen) Status als Bote Gottes. Das zeigt die Autorin anhand von Joh 2,1–11; 2,13–22; Joh 9 auf.
Cosmin Pricop (»Der Weg des Wunderverständnisses in der orthodoxen biblischen Theologie am Beispiel der Verklärungsgeschichte«, 141–160) betont zunächst – wie auch andere seiner rumänischen Kollegen –, dass für das christliche Ethos von orthodoxen Gläubigen Wunder irgendwie selbstverständlich sind und dass die orthodoxe Bibelwissenschaft stets auch die patristische Exegese und die hymnographische Aktualisierung biblischer Texte für ihre Exegese heranzieht. Wenn dies diffus-assoziativ und überlagert von einer orthodoxen Scholastik geschehe, kämen freilich die spezifischen Aussagen der jeweils herangezogenen Texte nicht recht zur Geltung. Es fehlen »ausgearbeitete Methodenmodelle« (146), die mit einer modernen wissenschaftlichen Exegese korreliert sind (159 f.). Der Autor präsentiert dann anhand ausgewählter Beispiele der patristischen und hymnographischen Auslegung der synoptischen Verklärungsgeschichte einige ihrer charakteristischen Züge, von denen der wichtigste derjenige der Aktualisierung ist: Erbeten wird eine wie auch immer formulierte Teilhabe an dem in der Geschichte Erzählten in der Gegenwart. Alexandru Mihăilă (»The Red Sea Miracle: A Short Comparison between Modern Historical-Critical and Traditional Exegesis«, 161–176) arbeitet zuerst heraus, wie im Kontext der gegenwärtig vertretenen neuen Modelle der Entstehung des Pentateuchs sich der in Ex 14–15 beschriebene Durchzug Israels durch das Meer und seine Wunderhaftigkeit un­einheitlich präsentiert. Diesem historisch-kritischen Zugang stellt er die herkömmliche Exegese von Ex 14 f. gegenüber. Angesichts der Dichotomie von Methode und Ergebnis legt der Autor der ostkirchlichen Exegese einen reflektierten Rückgriff auf den Begriff des »Mythos« nahe. Marian Vild (»The Place and the Role of Miracles in the Christian Community according to the New Testament. Notes from a Phenomenological Perspective«, 177–190) argumentiert im Blick auf Apg und 1Kor, dass für die frühe Kirche das Wirken des Heiligen Geistes schlicht eine Gegebenheit und daher, etwa im Blick auf Charismen, die Grenzen zwischen Wunder und Normalem fließend sind. Ioan Dumitru Popoiu (»Die Reise des Altvaters Makarios in das Paradies. Typologie der Wunderreisen im asketischen Diskurs der östlichen Kirchen«, 191–210) zeigt anhand von alt- und ostkirchlichen Überlieferungen der Suche nach dem wunderbaren irdischen Paradies, wie dieses immer mehr als Frucht der Askese und als Leben in der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott verstanden wurde. Alexandru Ioniţă (»›Das unaussprechliche Wunder‹ – die Auferweckung des Lazarus. Eine kurze Betrachtung aus der Perspektive der orthodoxen Liturgie mit Blick auf das Judenbild«, 211–228) geht der Frage nach, welche Funktion zur Profilierung antijüdischer Aussagen im Sinn einer Substitutionstheorie dem Wunder der Auferweckung des Lazarus schon in Joh 11 und später in den byzantinischen Hymnen zukommt. Der Autor reflektiert abschließend über den problematischen Tatbestand, »dass die liturgischen Texte auf keinen Fall die offizielle Einstellung einer [orthodoxen] Kirche gegenüber dem Judentum darstellen«.
Etwas isoliert unter den exegetischen Beiträgen ist der Aufsatz des Religionsphilosophen Hermann Deuser (»Wunder als Zeichen der Realität«, 116–140), der im Rahmen der kategorialen Semiotik von C. S. Peirce in gedrängter Kürze ausführt, wie jenseits der Frage nach empirischer oder historischer Tatsächlichkeit religiöse und vor allem ästhetische Phänomene (Kunstaustellungen!) heute die Frage nach dem Wunderbaren aufs Neue wecken.
Auch wenn auf die spezifische Frage nach einem reflektierten Wunderdiskurs noch keine durchschlagenden, gar operationalisierbaren Antworten vorliegen, ist der interkonfessionelle Sammelband ein erfreuliches Zeichen dafür, dass über die Grenzen unterschiedlich geprägter kirchlicher Lebenswelten hinweg ein gemeinsames Suchen möglich ist – mehr noch: um der Tradierung des Glaubens willen als notwendig erkannt wird.