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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

944–945

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Noordveld-Lorenz, Dorothea

Titel/Untertitel:

Gewissen und Kirche. Zum Protestantismusverständnis von Daniel Schenkel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. X, 320 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 176. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-153426-3.

Rezensent:

Martin Ohst

Unter den protestantischen Theologen, die im 19. Jh. ein imposantes wissenschaftliches Werk schufen und zugleich als politische und kirchenpolitische Akteure in der Öffentlichkeit präsent waren, zählt Daniel Schenkel (1813–1885) zu den am gründlichsten vergessenen. Dorothea Noordveld-Lorenz ruft ihn in ihrer sehr informativen, von N. Slenczka betreuten Berliner Dissertation in Erinnerung, indem sie zunächst ausführlich seinen Lebensgang rekapituliert (13–94). Sie lässt sich dabei vorwiegend von der Richard-Rothe- Biographie Adolf Hausraths leiten – einem Werk, in welchem der Romancier unter den Kirchenhistorikern des 19. Jh.s seiner literarischen Gestaltungskunst ein besonders markantes Denkmal errichtet hat: Wie er in der Jugendgeschichte dem feinsinnigen Aristokraten Rothe den ehrgeizigen, kämpferischen Aufsteiger Tholuck als Gegenbild zugesellt, so in der Heidelberger Zeit dem streng sachbezogenen Denker den vielgeschäftigen, machtbewussten Ta­gespublizisten, dessen wissenschaftliche Arbeit durchgängig von heterogenen Interessen geleitet ist, und, wie sein »Charakterbild Jesu«, dann eben auch entsprechend parteiisch und ungerecht rezipiert wird.
Das quantitativ und thematisch kaum übersehbare literarische Werk Schenkels reduziert die Vfn. durch eine sehr einleuchtende thematische Auswahl zur Handhabbarkeit: Sie ordnet den Protes-tantismusbegriff und den Kirchenbegriff gleichsam als Brennpunkte einer Ellipse einander zu, und in das so entstehende Spannungsgefüge ordnet sie Schenkels einschlägige literarische Beiträge ein, wobei sie mehrfach weit ausholend die Debattenlagen skizziert, in denen Schenkel agiert und reagiert hat (Prinzip des Protestantismus: 105–125; Debatten um den Kirchenbegriff: 187–210). Als positiven Bezugspunkt von Schenkels Denken verweist sie dabei durchgängig auf Schleiermacher. Sicher, Schenkel hat 1868 immerhin die erste Schleiermacher-Biographie publiziert. Aber vielleicht wäre angesichts der gerade im Vergleich mit Schleiermacher deutlich hervortretenden Reflexionsdefizite Schenkels (s. u.) daneben auch ein etwas intensiverer Seitenblick auf Schenkels lebenslang geschätzten und verehrten Lehrer W. M. L. de Wette der Mühe wert gewesen?
Das materiale Bindeglied, mittels dessen Schenkel den Protes-tantismusbegriff und den Kirchenbegriff aufeinander bezieht, ist der des Gewissens (142–171). Dieses findet in der christlichen Religion den Bezugspunkt, der es in alle Wahrheit leitet, nämlich die göttliche Offenbarung in Jesus Christus, die in der Bibel kodifiziert und auf Dauer gestellt ist. So stehen Gewissen und Offenbarung im Verhältnis der prästabilierten Harmonie, und wo dieses Verhältnis sich realisiert, da ist im qualifizierten Sinne die Kirche: Die kommunikative Gemeinschaft derjenigen Menschen, die ge­rade dadurch gewissenhaft, also wahrhaft sie selbst werden, in­dem sie sich durch die göttliche Offenbarung deuten und bestimmen lassen.
Diese Gemeinschaft ist in dem Sinne unsichtbar, dass sie sich jeder institutionellen Fixierung entzieht. Dennoch ist sie der eigentliche, wahre Kern einer jeden menschlichen Gesellschaft, und darum hat jeder sich selbst richtig verstehende Staat ein elementares Interesse an ihrer Förderung, die durch die sichtbaren Kirchentümer geschieht, welche ihr als vorläufig notwendige Bildungs- und Erziehungseinrichtungen dienend zugeordnet sind. Dieses Verhältnis von Individuum, Offenbarungswahrheit, Staat und Kirche ist in sich überaus prekär, und die Chiffre »Protestantismus« steht für die richtige Konfiguration dieser Faktoren, wie sie, unbeschadet aller ihrer nachgeordneten Differenzen, die Reformatoren des 16. Jh.s miteinander konzipiert haben.
Die möglichen und wirklichen Fehlbildungen ergeben sich daraus mit zwingender Logik: Sie treten einmal ein, wenn das sich fälschlich autonom wähnende Gewissen sich von der Offenbarungsautorität lossagt – so im „Rationalismus“ bzw. in den Phänomenen seiner Lebenszeit, die Schenkel als dessen Fortsetzungen verstand: Vorzüglich an dieser Front kämpfte der jüngere Schenkel, und deswegen wurde er nach Heidelberg berufen, wo er sich denn auch alsbald literarisch gegen Kuno Fischer stellte, dem we­gen Pantheismus/Atheismus die venia legendi entzogen worden war.
Der ultramontan werdende Katholizismus und die sich repris-tinationstheologisch versteifende Erweckungsfrömmigkeit markierten in Schenkels Perspektive die entgegengesetzte Gefährdung, weil sie durch die Forderung eines institutionell geleiteten Konformismus die Freiheit der individuellen Gewissensentscheidung desavouierten. Als diese beiden Mächte in Baden ihre Häupter erhoben, trat Schenkel gegen sie in die Schranken und wurde zu einem weit über das Großherzogtum hinaus wirkenden Vorkämpfer für eine Evangelische Kirche, die sich grundsätzlich als Zusammenschluss religiös gemeinsam gestimmter Individuen versteht und deswegen wesensmäßig auf eine demokratische Or­ganisation angelegt ist. Dass bei diesem normativen Bild von Re­formation und Protestantismus die Lehrdifferenzen des 16. Jh.s keine Bedeutung mehr haben können, dass deswegen die Union und möglichst eine Nationalkirche zu realisieren seien, stand für Schenkel außer Frage.
Mit diesem vergleichsweise einfach konstruierten Grundbestand an Thesen und Einsichten vermochte Schenkel die intellektuellen Unkosten einer Schriftstellerei zu bestreiten, die sich von der neutestamentlichen Exegese über die Kirchengeschichte und die Dogmatik bis in die Praktische Theologie erstreckte und mit streitbaren Wortmeldungen die kirchen- und kulturpolitischen Debatten zwischen dem Vormärz und der Gründerzeit befeuerte. Schon Heinrich Julius Holtzmann, der in Schenkels Heidelberg vom Adepten der Vermittlungstheologie zu einem der großen Meister des religionsphilosophisch reflektierten theologischen Historismus heranwuchs, hat Schenkel bescheinigt, dass sein Stern schon zu dessen Lebzeiten gesunken sei – »da eben die Fundamentalfragen der religiösen Erkenntnißtheorie, der Religionsphilosophie und des dogmatischen Denkens von Ausgangspunkten aus, die dem Verfasser nicht mehr in Sicht zu liegen kamen, mit frischer Energie erörtert zu werden anfingen« (ADB 31, 89).
Besonders deutlich wird das an dem für Schenkel leitenden Ge­wissensbegriff. Im einschlägigen Kapitel ihrer Arbeit zeigt die Vfn. zweierlei: Einmal erhellt aus ihren Ausführungen, dass Schenkel diesen Begriff einfach in seiner umgangssprachlichen Bedeutung aufgenommen und auf weitergehende Klärungen schlicht verzichtet hat. Sodann wird deutlich, wie wenig es Schenkel gelungen ist, plausibel zu machen, wie Gehorsam beanspruchende Autorität genetisch aus dem sich selber in seinem Überzeugtwordensein artikulierenden Gewissen hervorgeht, und wie dieser Prozess sich gleichsam retrograd wiederholt, wenn zum geschichtlichen Zeugnis geronnene Offenbarung sich aktual neu ereignet und Gewissen bildet. Da waren doch Autoren wie Schleiermacher, F. Chr. Baur oder Rich. Rothe schon sehr viel weiter, und sie waren es dann auch, an welche die Jüngeren für ihre neuen Wege kritisch anzuknüpfen vermochten, während sich an Schenkel unerbittlich das Geschick des Autors vollzog, der seine Kenntnisse und Talente rücksichtslos im Tageskampf ausgegeben hatte.