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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1084–1086

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Merk, Otto

Titel/Untertitel:

Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Bd.2: Gesammelte Aufsätze 1998–2013. Hrsg. v. R. Gebauer.

Verlag:

Berlin: De Gruyter 2014. VIII, 411 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neu-testamentliche Wissenschaft, 206. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-035750-9.

Rezensent:

Benjamin Schliesser

Vor fast zwei Jahrzehnten erschien ein erster Band mit Aufsätzen des seit 2002 emeritierten Erlanger Neutestamentlers Otto Merk (vgl. die Rezension von Jörg Frey, ThLZ 125 [2000], 369–371). Sein Schüler Roland Gebauer hat nun die Herausgabe des zweiten Bandes besorgt. In ihm ist eine Auswahl von 26 Aufsätzen und exegetischen Betrachtungen versammelt, die in der Zeit zwischen 1998 bis 2013 entstanden sind und mit zwei Ausnahmen bereits veröffentlicht vorliegen, teils an entlegenen Orten. Die beiden titelgebenden Schlagwörter beider Bände, »Wissenschaftsgeschichte« und »Exegese«, bilden die Brennpunkte von M.s Forschungen seit seiner Dissertation über die »Motivierungen der paulinischen Ethik« (Handeln aus Glauben, Marburg 1968) und seiner Habilitationsschrift über die »Biblische Theologie in ihrer Anfangszeit« (Marburg 1972).
Der erste, umfangreichere Teil »Zur Wissenschaftsgeschichte« (1–302) bietet biographisch oder thematisch angelegte Studien zur Geschichte der neutestamentlichen Forschung und insbesondere zur Lage der neutestamentlichen Wissenschaft in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Auch die Beiträge des zweiten Teils »Zur Exegese« (303–390) bewegen sich im Horizont eines forschungsgeschichtlichen Zugangs zum Neuen Testament und nehmen einzelne neutestamentliche Passagen oder Topoi in den Blick. Den Abschluss des Bandes bilden eine Bibliographie M.s, in der Arbeiten aus den Jahren 1998 bis 2013 verzeichnet werden (391–396), sowie ein Namen- und ein Stellenregister (397–409).
In den forschungsgeschichtlichen Beiträgen spannt sich ein Bogen von der »Geburtsstunde der modernen Theologie des Neuen Testaments« (148, Anm. 46) – Johann Philipp Gablers Altdorfer An­trittsrede (1787; vgl. 138–148.149–161) – bis zur Würdigung der Lebensleistung von M.s Lehrer Werner Georg Kümmel. Die Beiträge zeichnen sich ausnahmslos durch ein minutiöses Studium der einschlägigen Quellen, eine durchaus von Entdeckerfreude ge­prägte Auswertung von Archivmaterial sowie durch ein aktualisierendes Anliegen aus. Am umfangreichsten ist die Sammeldarstellung über die »Evangelische Kriegsgeneration« (3–68), die durch einen Literaturbericht zur Lage der neutestamentlichen Wissenschaft zwischen 1933 und 1945 ergänzt wird (69–88). Hinzu treten Würdigungen einzelner Forscherpersönlichkeiten, die deren Le­benswerk insgesamt oder einen ihrer Forschungsschwerpunkte beleuchten: Paul Anton de Lagarde (107–137), Theodor Zahn (162–178), Walter Bauer (179–184), Adolf Jülicher (185–200.201–218), Al­bert Schweitzer (219–227.228–232.233–248) und Werner Georg Kümmel (249–259.260–270.271–286).
Das Hauptaugenmerk liegt erkennbar auf denjenigen Neutes-tamentlern, deren Forschungs- und Lehrtätigkeit mit ihren Er­fahrungen im »Dritten Reich« verknüpft ist. M. berücksichtigt dabei Exponenten der neutestamentlichen Wissenschaft, deren Le­bensweg die »Geradlinigkeit eines in den Wirren der Zeit aufrechten und unerschrockenen Mannes« spiegelt (45, über Ernst Lohmeyer), aber auch solche, die sich die nationalistische Ideologie zu eigen machten und mit ihren Ausführungen dazu beitrugen, dass Menschen jüdischen Glaubens »in die Vertreibung und schließlich in die Vernichtungslager« geführt wurden (38, über Gerhard Kittel). M. ist weit davon entfernt, Sympathisanten der nationalsozialistischen Bewegung zu rehabilitieren, doch plädiert er für eine zeitgeschichtlich informierte Betrachtung und warnt vor undifferenzierten Pauschalverurteilungen.
Wie die biographischen Wege und Irrwege, so bewertet er auch die Denkwege der besprochenen Forscher in umsichtiger Weise und ist stets darum bemüht, sie von ihren eigenen zeit- und theologiegeschichtlichen Voraussetzungen her zu verstehen. Gleich zwei Male (3.162) verweist er auf die Maxime Friedrich Schlegels, nach der »nichts schwerer [ist], als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzes nachzukonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können.« Seine Analysen sind durchweg geleitet von einer Hermeneutik der »kritischen Sympathie«. Dies hält ihn freilich nicht davon ab, scharfe Kritik zu formulieren und etwa Theodor Zahn vorzuwerfen, Verstehen sei für ihn »im Glauben gründende Tatsachenwidergabe, die er historisch verabsolutiert« (170). Auf Schritt und Tritt begegnen spannende und teils in Vergessenheit geratene Details, darunter beispielsweise der Hinweis, dass bereits Adolf Jülicher diejenigen Rö­merbrief-Stellen als »Glossen« identifizierte, die Rudolf Bultmann später in seinem berühmten Aufsatz behandelte (193). Fundstücke aus Archiven und Nachlässen bereichern den Band und belegen hier und da auch die humorvolle Seite der Wissenschaftsgeschichte (und nicht minder den Humor der porträtierten Wissenschaftler) – wenn M. etwa aus einem Brief Albert Schweitzers an Oskar Kraus aus Lambarene zitiert: »Die Antilope, die neben dem Schreibtisch steht und drauf lauert, einen Brief zu fressen, lässt dich grüssen« (234).
Im exegetischen Teil beschäftigt sich M. mit den Themen »Ge­meinde – Fürbitte – Mission« in den Deuteropaulinen (305–318) sowie »›Katēchein‹ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament« (350–360). Forschungsgeschichtlich orientiert sind Studien zu Lukas 11,20 (319–325) und zu Wilhelm Heitmüllers Johannes-Auslegung (326–334), von denen sich Letztere auch gut in Teil I gefügt hätte. Der Vortrag »Als Schwerhöriger die Bibel lesen« (335–349) ist ein anregendes Solitär. Das Gros der exegetischen Beiträge widmet sich den beiden Thessalonicherbriefen, über welche aus der Feder M.s ein Kommentar in der Reihe »Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament« in Aussicht steht: »1 Thessalonicher 2,13. Eine exegetisch-theologische Besinnung« (361–368), »Arbeiten. Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen« (369–375) und »1 Thessalonicher 5,23.24. Eine exegetisch-theologische Besinnung« (376–383). Eine Predigt über 1Thess 5,1–11 mit angefügter hermeneutischer Nachbemerkung (384–390) beschließt den Teil »Zur Exegese«.
Die Würdigung der Forschungsleistung zurückliegender Generationen verbindet sich bei M. stets mit der Frage nach dem Gegenwartsbezug forschungsgeschichtlicher und exegetischer Arbeit. Er will einst Gedachtes und Geschriebenes nicht lediglich aus archivarischem Interesse dokumentieren, sondern stets die Relevanz für das Hier und Jetzt ausloten. Mit Blick auf die Wechselbeziehung zwischen Exegese und Predigt richtet M. am Ende der Aufsatzsammlung einen eindringlichen Appell an seine Fachkolleginnen und -kollegen:
»Wir Bibelwissenschaftler sind gefordert, wieder intensiver den exegetisch-theologischen Basis-Beitrag für die Predigt auch hermeneutisch so einzubringen, daß unsere Verkündigung die aktuelle Wirklichkeit umgreift und orientiert an dem Wort, aus dem die Predigt kommt: zukunftsweisend, aufrichtend und tröstend« (390). In M.s Forschung und Lehre klingt das Erbe Kümmels nach, der davor warnte, dass wir über der Fülle des wissenschaftlichen Stoffes »nicht mehr die Zeit und Ruhe finden, die Texte selber wirklich zu uns sprechen zu lassen.« (286)
Die reichhaltigen Studien des Sammelbandes, in denen M. Altes und Neues, das »Erbe der Väter« (VI) und Anstöße zur Gegenwartsbewältigung ins Gespräch bringt, rufen Bewunderung hervor und nötigen zum Dank. Dieser sei abgestattet mit Worten Adolf von Harnacks, die dieser an die Adresse Theodor Zahns auf Zusendung seines neuesten Buches richtete (178): »Besten Dank für ›Altes und Neues‹, das ich mit Freude und Nutzen gelesen habe. Ihr Brunnen spendet aus vielen Röhren; da hält man gerne sein Glas unter!«