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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Möbuß, Susanne

Titel/Untertitel:

Existenzphilosophie. Bd. 1: Von Augustinus bis Nietzsche.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2015. 275 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48719-8.

Rezensent:

Johannes Soukup

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Möbuß, Susanne: Existenzphilosophie. Bd. 2: Das 20. Jahrhundert. Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2015. 336 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-495-48720-4.


Den ersten Band von Susanne Möbuß’ Existenzphilosophie können Interessierte vielleicht als Einführung lesen; der zweite setzt be­reits einige Kenntnisse voraus. M. geht es auch nicht um die Exis­tenzphilosophie – als eine bestimmte Richtung innerhalb der modernen abendländischen Philosophie, zu der »natürlich« Kierkegaard, Jaspers und Sartre gehören –, sondern um ein existenzielles Denken. Und dieses begleitet die gesamte abendländische Philosophie; als Versuch ihrer Korrektur, als radikaler Gegenentwurf oder als »Ende der Philosophie«.
In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass M. im ersten Band im historischen Nacheinander die ihr wichtigsten existenziellen Denker vorstellt, wobei aber niemals geschichtliche oder biographische Zusammenhänge, sondern stets die systematischen Fragen im Mittelpunkt stehen. Sicherlich hätte sie – rein vom Denkstil her – auch bei Sokrates starten können; M. beginnt mit Augustinus um 500 und endet mit Nietzsches Tod 1900. Dazwischen liegen »selbstverständlich« Schopenhauer und Kierkegaard, aber auch – schon überraschender – von Kues, Mirandola und Spinoza oder die weniger bekannten Petrarca und Manetti.
Im zweiten Band, der dem 20. Jh. gewidmet ist, stehen »natürlich« Heidegger, Jaspers, Levinas, Rosenzweig und Sartre im Mittelpunkt; M. zeichnet aber auch eine ihr sehr wichtige starke Linie von diesen zu Derrida. Die Gliederung erfolgt nun konsequenterweise nicht mehr anhand der Denker, sondern M. geht von den wich-tigs­ten Schnittstellen aus, in denen sich die vielgestaltigen existenziellen Ansätze in der Zeit ihrer stärksten gegenseitigen Befruchtung – der ersten Hälfte des 20. Jh.s – treffen; Camus’ »Absurdität des Lebens« beispielsweise.
In der Spätantike konnte auch existenzielles Denken nur bei der traditionellen Dreiheit Gott – Mensch – Universum beginnen. Bis hin zu Derridas Denken der différance scheint davon kaum noch etwas übriggeblieben zu sein. M. legt Wert darauf, zeigen zu können, dass diese Sicht oberflächlich ist und trügt. Im Zentrum ihres Denkens steht dabei der Begriff der Komplementarität, den sie – bewusst von seiner Bohr’schen Interpretation abgesetzt – als kontinuierlichen Hintergrund von Augustinus bis Derrida verfolgt.
Traditionell wurden die Seienden als Einheiten von Wesen, Essenz oder Was auf der einen Seite und Sein, Existenz oder Dass auf der anderen verstanden. Existenz bedeutet diesem Denken zufolge, dass ein Seiendes ist oder dass es ist. Wer das nicht versteht, dem erklären wir »deutlicher«: Existenz bedeutet, dass ein Seiendes wirklich ist oder dass es wirklich ist.
Je existenzieller wir selbst denken, desto hohler wird uns dieses »Verständnis« erscheinen: Verstehen wir hierbei überhaupt etwas? Werden nicht nur leere Worthülsen in gewohnter Weise wiederholt? Das existenzielle Denken ändert den Begriff der Existenz radikal und kehrt ihn (nahezu) in sein Gegenteil um:
Für – und das ist stets – mein existenzielles Denken existiert der Andromedanebel nicht, obwohl ich Physiker bin. Er mag ein Seiendes – oder heute sagen wir: Objekt – sein, besitzt aber im Sinne dieses Denkens keine Existenz, denn die könnte er nur in mir, durch oder für mich haben. Sähe ich den Sinn meines Lebens im leidenschaftlichen Sammeln von Antiquitäten, gehörten sie – durch mich – zu meiner Existenz dazu. Ich wäre nicht ich ohne meine Antiquitäten; der Andromedanebel hat eben Pech, dass er mir gleichgültig ist.
Das traditionelle Denken wollte objektiv sein und suchte nach den Seienden an sich. Existenziell dagegen gibt es Objekte nur durch und für uns. Ich existiere; und diejenigen Objekte, die mich betreffen, existieren durch und für mich mit; sie bilden meine subjektive Welt, ohne die ich nicht ich wäre. Nicht nur psychisch Kranke leben in ihren subjektiven Welten; es gibt höchstens Grade der Intersubjektivität.
Ich versuche im Weiteren, dem Leser einen Zugang zu M.’ Büchern zu ebnen, indem ich die fundamentale Schwierigkeit jeglichen existenziellen Denkens möglichst verständlich darstelle.
Schon der Satz, dass nur Subjekte existieren, ist falsch, weil es keine Subjekte – im Plural – gibt. »Du und ich, wir sind nicht zwei«, kann Levinas sagen, denn wovon sollten wir denn zwei sein? Zwei X-e wären wir erst, nachdem wir auf den Begriff X gebracht wurden; als Mensch, Säugetier oder Geschöpf beispielsweise. »Subjekte« lassen sich aber auf keinen Begriff bringen – auch nicht auf den Begriff Subjekt.
»Jedes Subjekt« ist durch seine Freiheit einzig. Heinrich Rombach hat versucht, der damit verbundenen sprachlichen Komplikation Herr zu werden, indem er von je-dem Selben sprach. Seine Einzigkeit bedeutet, dass er unter keinen Begriff fällt, denn alle Begriffe sind Allgemeinbegriffe.
Eiffelturm beispielsweise. Dass nur ein einzelnes Bauwerk unter diesen Begriff fällt – der Pariser Eiffelturm –, macht es einmalig – aber nicht einzig. Ob es einen Eiffelturm oder hundert Eiffeltürme gibt, ist kontingent und belanglos; je-der Selbe ist einzig und exis­tiert.
Stellen wir uns alle Objekte, Probleme, Sachverhalte oder Themen längs einer Skala geordnet vor. Auf der einen Seite befindet sich alles, was für mich existenziell wichtig ist; meine Erfahrungen von Liebe und Trennung, Freude und Trauer oder Sinn und Enttäuschung, die Freiheit, das eigene Selbstwerden und Sterben, die Sehnsucht nach Erfüllung usw. Auf der Gegenseite lokalisieren wir alles, was mich überhaupt nicht interessiert oder berührt; bei mir gehört bekanntlich der Andromedanebel dazu, und bei den meisten von uns werden sich zahllose Theorien der exakten Wissenschaften an diesem Ende unserer Existenz-Skala befinden. Ob diese Theorien stimmen bzw. ob es die ihnen entsprechenden Objekte überhaupt gibt, ist völlig belanglos: So oder so – sie gehen mir nicht nahe, betreffen mich nicht und wirken somit auch nicht auf mich.
Als Zweites stellen wir uns alle Ausdrücke in drei Gruppen sortiert vor: exakte Ausdrücke, alltägliche und völlig unbestimmte. Zu Ersteren gehören die Begriffe der exakten Wissenschaften wie Punkt, Zahl oder Elementarladung; alltägliche Ausdrücke oder Begriffe sind beispielsweise Haus, Baum, Mensch, Tier oder Handeln; und die völlig unbestimmten Ausdrücke – sind keine Begriffe mehr, sondern – bestehen in Namen. C3-Rs9 kann alles bezeichnen; und gerade weil reine Namen alles bezeichnen können, sagen sie uns gar nichts, sind sie »völlig unbestimmte« Ausdrücke. Ganz so rein ist der Name Heidi nicht; höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um ein Mädchen oder ein Frau aus dem Abendland. (Natürlich bilden die Ausdrücke in Wirklichkeit ein Kontinuum analog zu dem der Existenzialität; nur der Einfachheit haben wir es durch unsere Dreiteilung ersetzt.)
Ordnen wir in unserem letzten Schritt die Namen der Skala zu: Am nicht-existenziellen Ende gibt es völlig problemlos alle drei Arten von Ausdrücken.
In der Mitte unserer Skala entfallen die exakten Ausdrücke bzw. Begriffe. Nicht nur benutzen wir in unserem Alltagsleben kaum saubere Definitionen, sondern es ginge auch gar nicht. In Wittgensteins lebensweltlichen Sprachspielen schleifen sich Handeln und Sprechen wechselseitig aneinander ab.
Je näher wir dem existenziellen Ende unserer Skala kommen, desto schwerer fällt es uns, die passenden Ausdrücke zu finden; desto weniger Menschen gibt es, mit denen wir uns austauschen können; desto ähnlicher wird unsere Sprache derjenigen der Belletristik, der Kunst oder des Mythos. Im asymptotischen Grenzfall gelangen wir zu den reinen Namen – C3-Rs9 –, mit denen wir je-den Selben als Einzigen bezeichnen können – ohne ihn auf den Begriff zu bringen. – Freilich wissen wir dann auch nichts von ihm; erst wenn wir nichts mehr begreifen, begehen wir keine Fehler. Das ist die Crux, vor der jedes existenzielle Denken steht und die es zu einer ebenso notwendigen wie unlösbaren Aufgabe macht.