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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1269–1271

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lievenbrück, Ursula

Titel/Untertitel:

Zwischendonum supernaturale und Selbstmitteilung Gottes. Die Entwicklung des systematischen Gnadentraktats im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. XVI, 1065 S. = Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie, 1. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-402-11890-0.

Rezensent:

Martin Hailer

Albrecht Ritschl empfahl einst: »Auf Gott vertrauen, Pulver trocken halten, Lehr- und Handbücher schreiben« (O. Ritschl, Albrecht Ritschls Leben II, 1896, 270). Wie gründlich Ritschls Rat in der katholischen Dogmatik des 20. Jh.s beherzigt wurde, zeigt diese Studie, die von Thomas Marschler betreute Augsburger Dissertation von Ursula Lievenbrück. Sie widmet sich dem Gnadentraktat in Lehr- und Handbüchern der neuscholastischen Epoche und der Aufbruchszeit um das II. Vatikanische Konzil. Das Ziel ist, der Lehr- und Studienliteratur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zu­gleich setzt die Vfn. ein Fragezeichen hinter die gängige Auffassung, mit der Theologie der Konzilszeit sei alles neu und anders geworden. Schließlich diskutiert sie die Frage nach dem Zusammenstimmen von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit.
Für den ersten Teil über die neuscholastische Gnadenlehre (55–513) wählt die Vfn. 16 Lehrbücher aus, unter ihnen die Dogmatik Franz Diekamps und Karl Rahners Vorlesung »De gratia Christi« von 1937/38. Der jeweilige Gnadentraktat wird aber nicht einzeln vorgestellt, vielmehr entwickelt die Vfn. aus diesen Bänden eine Systematik des Traktats überhaupt und hört – auf noch deutlich breiterer Literaturbasis – zu jedem Teilaspekt einige bis alle der ausgewählten Stimmen.
Das hauptsächliche Gliederungsmerkmal ist die Unterscheidung der Gnadenlehre ›von oben‹ und ›von unten‹. Zu Ersterem gehören der Charakter des göttlichen Heilswillens, die Frage nach seiner Universalität (klassischerweise: Heilschancen der Nicht-chris­ten und der ungetauften Kinder), die Prädestination sowie die Eigenart der Gnade (geschaffene vs. ungeschaffene, aktuale vs. habituale Gnade u. a.). Bei der aszendierenden Betrachtung der Gnade geht es um die Frage der menschlichen Mitwirkung am Heil. Die Vfn. diskutiert hier das Zusammenspiel von Natur und Gnade, die These von der absoluten Unverdientheit der Gnade und die diversen Debatten über das Verhältnis von Gnade und Freiheit, schließlich auch die Gedanken zur Verdienstlichkeit menschlicher Taten. Das »Zwischenergebnis« (473–513) ist eher eine weitergehende Diskussion, u. a. um die Frage von Gnade und Freiheit. Die Vfn. stellt die thomistische (Ablehnung jeder menschlicher Freiheits-regung in Sachen Gnade) und die jesuitisch-molinistische (eine Freiheitsregung ist denkbar, wird aber von Gottes Wissen sicher vor ausgesehen) noch einmal einander gegenüber (vgl. 146 ff.) und erklärt beide für unbefriedigend: Denn in beiden Fällen müsste es an Gott selbst liegen, wenn ein Mensch nicht zum endgültigen Heil gelangt. Dagegen erscheine es für die heutige Theologie »selbstverständlich […], dass der Freiheitsvollzug des Menschen ausschlaggebend ist für sein eschatologisches Ergehen« (482). Wer anders denkt, müsste an Gottes universalem Heilswillen zweifeln (484) oder sich in »das Eingeständnis der Geheimnishaftigkeit der ganzen Problematik« flüchten (488).
Für den zweiten Teil über die Gnadenlehre in Lehrbüchern der Konzilszeit (515–917) behält die Vfn. das Darstellungsprinzip bei, eine Reihe von Werken nach einem selbst gewählten Gliederungsprinzip jeweils parallel zu konsultieren. Hier kommen vor allem das Gemeinschaftswerk »Mysterium Salutis« und die von Alfons Auer und Joseph Ratzinger verantwortete »Kleine Katholische Dogmatik« zu Wort. Als Hauptschwäche der neuscholastischen Gnadenlehre hatte die Vfn. die mangelhafte Verankerung der Gnadenlehre in der Christologie ausgemacht (503.530). Hinzu kommt die jetzt verstärkte Verbindung von Gnadenlehre und Ekklesiologie, bei der sie allerdings Bedenken wegen einer möglichen sakramentalen Verengung des Gnadenverständnisses äußert (550, auch 710–717).
Es bleibt bei der Zweiteilung des Traktats in deszendierende und aszendierende Aspekte. Der Ton ändert sich freilich. Die Herabneigung Gottes wird nun durchgehend nicht als Übereignung einer objektiven Gabe bestimmt, sondern als Kommen Gottes selbst. Die Gnade ist Gott selbst in »Begegnungsrealität« (619). Entsprechend ist der Mensch nicht als Empfänger einer objektiven Gnadengabe im Blick, sondern als Kind Gottes in der Gemeinschaft der Gläubigen (637 u. ö.). Auf der Seite des aszendierenden Aspekts kommt als neues Thema vor allem die Frage nach der Erfahrbarkeit der Gnade herein. Die alte Lehre hatte Gnade als objektiv beschreibbare Realität gefasst, sie und den Gnadenstand zugleich als erfahrungsfern und unerfassbar charakterisiert. Die Realität der Gnade wird nun immer noch als unerfassbar gedacht, dennoch wird die Erlebbarkeit der Gnade diskutiert, ja mitunter zur Bedingung gemacht (844). Freilich zeigen alle herangezogenen Autoren deutliche Zurückhaltung, was die konkrete Beschreibung von Gnadenerfahrungen angeht (832–849).
Das ist der Zug weg vom Objektivismus und hin zu personalen Kategorien in der Gnadenlehre, der der Studie auch den Titel gab. Freilich kontrastiert die Vfn. ihn en passant: Die Gliederung des zweiten Teils ist an vielen Stellen der des ersten parallel, wodurch deutlich werden soll, dass das Themenspektrum sich gegenüber dem neuscholastischen »Problemzugriff« (53) nicht entscheidend gewandelt hat. Die theologiegeschichtliche These lautet: Zurecht bestritten wurde der Objektivismus und die tendenzielle Isolierung der alten Gnadenlehre. Viele ihrer Themen und Lösungsvorschläge aber sind in der Theologie der Konzilszeit nach wie vor aktuell.
Das ist auch der Tenor der abschließenden Reihe von 15 Thesen, die in Auseinandersetzung mit der Handbuchliteratur unserer Tage entwickelt werden (922–989). Regelmäßig wird der Fortschritt der Theologie der Konzilszeit hervorgehoben, genauso regelmäßig werden Themen und Lösungsangebote der Neuscholastik als be­denkenswerte Alternative ins Spiel gebracht. Das gilt etwa für die Reserve, die Gnadenlehre ekklesiologisch unterzubringen (924–929), ferner für Rückfragen an personalistische Kategorien (940–942) und – in der letzten These – für die Lehre vom Verdienst: Die Vfn. setzt die Wahlmöglichkeit über Mitwirkung oder Ablehnung des Heils. Die Gnade ist dann nicht des Menschen iustitia aliena, er kann vielmehr »deren keimhafte, unvollkommene Samengestalt bejahen und sich handelnd zu eigen machen« (986).
Das kommt zusammen mit der Wiederaufnahme des Freiheitsthemas im zweiten Teil: Der Heilsprozess ist gänzlich Gott zuzuschreiben, die Verantwortung für »Mitwirkung oder Ablehnung hingegen« ist dem Menschen überlassen (871).
Die Studie bietet mindestens zweierlei. Zum einen liegt nun eine ausführliche Enzyklopädie über Entwicklungen im katholischen Lehrbuchsektor der 1920er bis 1970er Jahre am Beispiel der Gnadenlehre vor. Zum anderen wird dies mit pointierten Positionierungen verknüpft, die entsprechend zu diskutieren sind: (a) Es handelt sich um eine Hermeneutik der Lehrbuch-Theologie der Konzilszeit von ihren Ursprüngen und nicht von ihren Ergebnissen her; (b) der Umriss einer Gnadenlehre wird geboten, der sich von einer von Thomas von Aquin inspirierten Rechtfertigungslehre (STh I–II 109–114) deutlich absetzt und z. B. die wesentlich von ihm inspirierte Position Otto H. Peschs umstandslos für evangelisch erklärt (873). Das ist freilich schablonenhaft und blendet u. a. die evangelische Diskussion zur Partizipation und zur effektiven Rechtfertigungslehre völlig ab. Interessant dürfte zudem sein, wie katholische Antworten ausfallen, die der Idee der praedeterminatio ad unum des doctor angelicus mehr abgewinnen können als das vorliegende Werk. Dass Menschen per Freiheitsentscheid ihres eigenen Heiles Schmied sein sollen, wird auch in der katholischen Theologie auf Widerspruch stoßen.