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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Beutin, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der radikale Doktor Martin Luther. Ein Streit- und Lesebuch. 3., überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. 378 S. m. 18 Abb. = Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, 66. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-631-65787-4.

Rezensent:

Martin H. Jung

Diese dritte Auflage des 1982 und 1983 in erster und zweiter Auf-lage herausgekommenen Lutherbuchs des Bremer Germanisten Wolfgang Beutin (geb. 1934) liest Luther gewissermaßen gegen den Strich. Der u. a. den Reformator »inmitten der Streitigkeiten seines Zeitalters« darstellende Band (12), der »die Abhängigkeit der […] Lutherbilder von den politischen und kulturellen Zuständen beider [deutscher] Staaten« demonstrieren sollte (11), mag anlässlich des Luther-Jubiläums 1983 seine Berechtigung gehabt haben, aber 2017, im Kontext eines völlig veränderten, sehr differenzierten Zugriffs auf Luther, ist er fehl am Platz, zumal er völlig ignoriert, was sich seit 1980 neu ergeben hat. Das gegenüber den früheren Auflagen zwar erweiterte Literaturverzeichnis beschränkt sich im Bereich der eigentlichen Reformations- und Lutherliteratur im Wesentlichen auf die bis 1980 erschienenen Werke. Mit der Bezeichnung Luthers als »radikal«, schon im Titel des Buches, lehnt sich der Vf. an die früher übliche Rede von der »radikalen Reformation« an, stellt Luther also gegen die Traditionen der Luther-Forschung provokativ auf die Seite der Radikalen und betont den auch gesellschaftliche Bereiche erfassenden revolutionären Charakter von Luthers Lehre, es kommt aber auch der im negativen Sinne radikale, der problematische, der fanatische Luther zur Sprache, der Juden- und Türkenfeind, der Feind Zwinglis und Müntzers.
Der Band beginnt nach einem über Ziele und Anliegen Rechenschaft gebenden kurzen Vorwort mit einer 30 Seiten zählenden Einleitung zur 3. Auflage, in der der Vf. vor allem aus seinem Leben und von seinen Erfahrungen mit dem Luther-Thema und dem Luther-Jubiläum 1983 – er spricht diesbezüglich von »einem großen Verblendungszusammenhang« (332) – berichtet, ferner über lobende Besprechungen seines Buchs in Organen wie »Deutsche Volkszeitung«, »die tat«, »Marxistische Blätter«, »Unsere Zeit«, »Kultur & Gesellschaft«. Zuletzt geht die Einleitung auf das aktuelle Jubiläum ein, wobei sich der Vf. vor allem mit Verlautbarungen Margot Käßmanns (36–42), Eugen Drewermanns (43–45) und Heiner Geißlers (45–48) auseinandersetzt, allerdings ohne ein eigentliches Fazit zu ziehen. Gelobt werden im Rückblick Walther von Loewenich, Martin Brecht und Otto Hermann Pesch (36).
Veraltet ist der vom Vf. verfolgte psychologische Zugriff auf den jungen Luther mit Erik H. Erikson (70–83), veraltet ist die apologetische Behandlung des heiklen Juden-Themas unter Rückgriff auf Heiko A. Oberman, Martin Brecht und Heinz Schilling (131 f.). Bei der Diskussion der Willensfreiheit im Kontext der modernen Na­turwissenschaft hat der Vf. nicht vor Augen, dass die moderne Hirnforschung der philosophischen und theologischen Diskussion neue Argumente für den Determinismus liefert und nicht mehr der Indeterminismus der Physik des 20. Jh.s (190) den Ton angibt. Unhaltbar ist es, die Entstehung der Evangelien und der Kirche unter Berufung auf den russisch-marxistischen Historiker Jakow Lenzman in die Mitte des 2. Jh.s zu datieren (223) und das früheste Christentum in Kleinasien, nicht in Palästina, zu verorten (226) und diese Behauptungen als Ergebnisse »[n]euere[r] Forschungen« zu bezeichnen (223).
Inhaltlich liegt dem Vf. viel an Luthers »Theologie der Armen« (39), womit er Luther in Bezug setzt zur modernen Befreiungstheologie, sowie seiner Obrigkeitskritik und seiner Freiheits- und »Friedenslehre« (39). Er betont die enge Verbindung des Reformators mit Johann Hus (159–172), wobei man ergänzen müsste, dass Luther indirekt schon 1505 in engste Verbindung mit dem Prager Vorreformator kam, weil in der Klosterkirche, in der Luther als Mönch täglich mehrmals betete, der Ankläger von Hus, Johannes Zachariae, begraben lag und Luther seine Grabplatte ständig vor Augen hatte.
Der Vf. sieht Luther als Vertreter eines »vorwärtsdringenden Humanismus« (194) und als »Mann des Gedankens wie der Tat zugleich« (194) und – in Anlehnung an Friedrich Engels – als einen »Riesen« (194). Der Vf. widerspricht allen Versuchen, Luther, wie um 1983 verbreitet, als »katholisch« (328–333) und – wie auch heute noch und wieder möglich – als Mensch des Mittelalters (346) zu sehen, und stellt ihn vielmehr auf die Seite der modernen Demokratie (346). Die »Großkirchen«, so schließt er sein Buch, hätten »ihr Anrecht auf das Erbe Luthers [dagegen] längst verloren« (347).
Originell an dieser Darstellung ist, Luthers Formel »Von der Freiheit eines Christenmenschen« die Formulierung »Von der Gleichheit aller Christenmenschen« an die Seite zu stellen (106) als alternativen Titel für die Adelsschrift, aus der er Textauszüge zum allgemeinen Priestertum abdruckt. Ebenfalls originell, ja anregend ist das Erasmus-Kapitel, das Erasmus und Luther sowie die Freiheitsthematik unter humanistischen Vorzeichen diskutiert (173–194). Originell ist die Einbeziehung Thomas Murners in die Lutherdeutung (196–207), woraus der Vf. Argumente schöpft, Luther als Revolutionär anzusehen und einen »welthistorisch[en] […] Zusam menhang« von Reformation und »bürgerlicher Revolution« zu behaupten (206). Richtig ist es, nicht von »der Reformation«, sondern von den »Reformationen« zu sprechen (159). So gesehen kann der Fachmann dem Buch bei genauer Lektüre doch auch das eine oder andere Positive abgewinnen, aber es überwiegt doch ein negativer Gesamteindruck.

Übrigens verbrannte Luther 1520 nicht die »Bannbulle« (36), sondern die Bannandrohungsbulle, und die Romreise war nicht 1510 (367), sondern 1511/12, wie die neuere, allgemein anerkannte Forschung (Hans Schneider) gezeigt hat.