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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1273–1275

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Harms, Hartwig F. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aus der Predigtwerkstatt von Pastor Louis Harms. 79 unveröffentlichte Predigten aus den Jahren 1834–1861.

Verlag:

Südheide-Hermannsburg: Ludwig-Harms-Haus-Verlag 2017. XXIV, 708 S. m. Abb. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-937301-86-0.

Rezensent:

Jobst Reller

Louis Harms (1808–1865), genannt Pastor Ludwig, war seinerzeit in Lauenburg, Lüneburg und Hermannsburg einer der beliebtesten Prediger. Die Hermannsburger Missionsfeste um den Johannistag zählten seit 1851 bis zu 10.000 Besucher, die u. a. kamen, um Harms predigen zu hören. Superintendent Althaus in Fallersleben lehnte eine Missionsfestpredigt in Wittingen ab, weil das Volk sowieso Harms hören wolle. Karneades Konrad Münkel wunderte sich über den Mangel an jeglicher rhetorischen Kunstfertigkeit Harmsscher Predigt, der der Verbreitung dennoch keinerlei Abbruch tat. Gerhard Uhlhorn sah Harms als den »volkstümlichen« Prediger, der in besonderer Weise den niedersächsischen Bauernstand erreichte und bewegte. Harms selbst veröffentlichte zeitlebens neben dem Missionsblatt (ab 1854) nur Predigtsammlungen, vor allem die in 100.000 Exemplaren erschienenen Evangelien- bzw. die Epistelpredigten. An seinen Predigten wollte er gemessen werden.
Aus Harms’ Nachlass gab sein Bruder Theodor (1819–1885) nach Zuhörernachschriften u. a. Katechismus- oder Festpredigten, aber auch je einen weiteren Kirchenjahreszyklus nachgelassener Predigten zu den Evangelien und Episteln heraus. In der Fortführung von Vorarbeiten seines Vaters Hans Otto Harms hat der Herausgeber nun 79 bisher unveröffentlichte Predigtmanuskripte gesammelt, transkribiert und im Druck herausgegeben. Ein Bibelstellenregis-ter (696–705) erschließt die Predigten und belegt die tiefe biblische Verwurzelung des Predigers. Hätte man alle biblischen Allusionen mit nachgewiesen, hätte das Register ein Vielfaches an Umfang erhalten. Liest man die Predigten, nimmt man den schlichten Duktus der Predigten wahr, der immer wieder lutherische Gedanken zum ordo salutis, z. B. die Buße, die Wiedergeburt und die Heiligung abhandelt.
Man wundert sich, wie derlei Predigten bis zu einer Stunde und länger dauern und seit 1847 Zuhörer aus der weiten Umgegend bis Hamburg oder Selsingen anziehen konnten. Harms kannte seine im Gros bestenfalls volksschulgebildeten Zuhörer, überforderte sie einerseits ganz offenbar nicht und nahm sie doch ernst, indem er ihnen fassliche Orientierung bot. Der beste Kenner der Harmsschen Predigtweise, Hugald Grafe, der auch zu diesem Band ein Vorwort geliefert hat (IX–XIII), stellte bereits in seiner Dissertation zu Ludwig Harms als volkstümlichem Prediger (Göttingen 1965) am Vergleich von gedruckten Predigten und Nachschriften fest, dass Harms in den Konzepten wie auch in den von ihm selbst in den Druck gegebenen Predigten einen schlichten Gedankengang in langsamen Schritten verfolgte, im Vollzug der Predigten aber vielfältige Bezüge zum Alltagsleben der Zuhörer einflocht. Heinrich Kröger hat in seiner Ausgabe von Harms’ plattdeutscher Katechismuspredigt (Soltau 2009) solche Sammlungen von Beispielgeschichten vorgelegt. Der vorliegende Band ergänzt unsere Kenntnis von den Harmsschen Predigten – vermutlich in der heute letztgültig zu erreichenden Weise.
Der Herausgeber legt seine Editionskriterien (XIX–XXIII) dar, indem sowohl Schreibweise als auch Zeichensetzung original wiedergegeben werden – auch auf Kosten der Einheitlichkeit. Er hat sich entschieden, Korrekturen im Manuskript nur da wiederzugeben, wo sie leserlich waren und den ursprünglichen Gedankengang deutlich änderten. Das mag den kritischen Wert der Edition insofern ge­ringfügig beeinträchtigen, als bereits Hugald Grafe in seiner Dissertation bemerkte, dass in Predigtmanuskripten z. B. das Wort »protestantisch« sekundär durch das Wort »lutherisch« er­setzt wurde. Die Kenntnis der Predigten beeinträchtigt diese Vorgehensweise des Herausgebers jedoch kaum. Interessant ist, dass der häufige Rekurs auf Martin Luther in den Predigten in aller Regel nur bei Verweisen auf den Katechismus nachzuvollziehen ist, andere Zitate in der Regel nicht bei Luther aufzufinden sind. Ähnliches hatte bereits Kröger in seiner oben angeführten Edition bemerkt.
Eine frühe Predigt von Harms soll hier vorgestellt werden. Bisher kennen wir nur eine frühe Epistelpredigt von Ostern 1831, die aus dem Nachlass herausgegeben wurde und nach der Analyse von Jobst Reller (Holzgerlingen 2008) wohl den Abschluss von Harms’ eigener Bekehrung zwischen Frühjahr 1830 und Frühjahr 1831 in Lauenburg dokumentiert. Hier wird nun eine Epistelpredigt vom 2. Pfingsttag 1834 zu Apg 10,42–48, ebenfalls in Lauenburg gehalten, erstmalig im Druck veröffentlicht (1–10). Man muss wissen, dass Harms nach einer Phase ehrenamtlicher diakonischer Aktivitäten zwischen 1831 und 1834 am Epiphaniastag 1834 gegen mancherlei Widerstand den Lauenburger Missionsverein gegründet und damit seine erwecklichen Aktivitäten erheblich bzw. um ein ganz neues Arbeitsfeld erweitert hatte. Auch der Versuch einer Sonntagsschule nach Hamburger Vorbild ist belegt. Nach einem von Eph 1,3–7.11–14 ausgehenden Präfamen und der Lesung des Predigttextes entfaltet Harms seine Predigt in drei Schritten: 1. Der Heilige Geist verklärt Christus als von Gott verordneten Richter (3–5), 2. die Gabe der Vergebung der Sünden durch Jesu Namen (5–7) und 3. Zungenrede und Gottes Lob als Gabe an alle, auf die Gottes Geist herabfiel (7–10).
Dabei fällt die seelsorgerliche Sensibilität auf, die um den durch das Gericht geängstigten Sünder weiß und ihn der Tröstung des Heiligen Geistes versichert. Bei genauerem Hinsehen finden sich durchaus zeitgeschichtliche Anspielungen:
»Christus nimmt die Sünder an, wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet, wer nicht glaubt an den Sohn Gottes, der wird verdammt werden. Wenn denn die Gnade Gottes Allen angeboten ist, und die Zeit ist näher, als ihr denkt, denn die Heiden fallen dem Evangelium in Haufen zu, so wird der HErr Jesus Christus sichtbar erscheinen in den Wolken in aller Seiner Kraft und Herrlichkeit […]« (4).
Zwei Jahre vor dem von Bengel vorsichtig errechneten Weltende 1836 mussten derlei Sätze zur Ankündigung des Gerichts drohend und verheißungsvoll zugleich bzw. durch den Blick auf die Erfolge der Mission weltweit demonstriert erscheinen. Die Bedeutung einer prophetischen Interpretation der Bibel auf die Heilsgeschichte auch in der nordwestdeutschen Erweckung ist bisher unterschätzt worden. Hier ist sie klar belegt (vgl. auch Jobst Reller: Die Spiritualität in der niedersächsischen Erweckungsbewegung, in: Peter Zimmerling: Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 1: Ge­schichte, Göttingen 2017, 606–628).
»Glaubet keinem Menschen, es ist Alles voll Lug und Trug, Gottes Wort wird verdreht, und die Menschen laden sich selbst Lehrer auf, nach denen ihnen die Ohren jücken. Glaubet allein dem Wort Gottes, wie es einfach und schlicht, Allen verständlich in der Schrift verfaßt ist, es ist nur Ein Evangelium, nur Ein Gotteswort, das allein untrüglich ist, aber das nehmet auch an, mag es eurer Vernunft nach so unbegreiflich und thöricht erscheinen.« (9)
Harms sah sich der entschiedenen Gegenwehr des Lauenburger Ortspastors Uthoff ausgesetzt, der alle Aktivitäten des Kandidaten als widerrechtliche Konventikel bekämpfte und im Stil eines Vulgärrationalismus als unzeitgemäß verdächtigte.
Kurz: Dem Herausgeber ist ein wichtiges Werk zur Geschichte der evangelischen Predigt, aber auch der nordwestdeutschen Er­weckungsbewegung gelungen.