Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

819–821

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XV, 307 S. = De Gruyter Studium. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-056347-4.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Dass Krisendiagnosen produktiv sind für die praktisch-theologische Reflexion, wird gegenwärtig durch die literarische Produktivität im Bereich der Kirchentheorie eindrucksvoll belegt. Nachdem erst mit dem gleichnamigen Buch von Rainer Preul 1997 der Begriff »Kirchentheorie« für diese praktisch-theologische Disziplin etabliert wurde und im ersten Jahrzehnt des 21. Jh.s kein vergleichbares Werk entstand, ist mit dem hier zu besprechenden Buch des Münsteraner Praktischen Theologen Christian Grethlein bereits die dritte evangelische kirchentheoretische Gesamtdarstellung er­schienen.
In diesen Kontext der Krisendiagnostik einerseits und der in den letzten 20 Jahren entstandenen Kirchentheorien andererseits ordnet G. seine Ausführungen auch explizit ein, setzt aber einen spezifischen Akzent: Sein Kirchenbegriff beschränkt sich nicht wie sonst kirchentheoretisch üblich auf die verfasste Kirche, sondern er­streckt sich in einer »Grundspannung« gleichzeitig auf Menschen, die »im Namen Jesu versammelt sind« (XIV). Denn das Kriterium für »Kirchesein« liegt für G. in der »Kommunikation des Evangeliums« (diese Figur bildet ja auch insgesamt eine zentrale hermeneutische Grundlage des praktisch-theologischen Denkens von G.), das »auch außerhalb kirchlicher Organisationsformen und Veranstaltungen kommuniziert« (XV) wird und zwar – so eine zentrale These des Buches – tendenziell in sinnvollerer und besserer Weise als innerhalb der verfassten Kirche. Insofern kann der gegenwärti gen Krise kirchlicher Organisationsformen und Handlungsvoll-züge angesichts gelingender Kommunikation des Evangeliums außerhalb der Institution auch mit einer »entspannte[n] Sicht« (295) begegnet werden. Denn gerade die gegenwärtigen Entwicklungen, dass »die Eigenlogik der Menschen in ihrem Bemühen um eine erfolgreiche Gestaltung der Biografie […] zunehmend an die Stelle der Übernahme traditionsbegründeter Vorgaben von Kirche als Institution [tritt]« in Verbindung mit der »Zunahme formaler Bildung« sowie der »pluralistische[n] Gesellschaftsformation, die allgemeine Mündigkeit voraussetzt und fördert« (196), bietet die Chance, Abstand zu nehmen von der pastoralen Versorgungskirche. »Theologisch formuliert: Es scheint die Stunde des Allgemeinen Priestertums der Getauften (und zur Taufe Eingeladenen) anzubrechen« (ebd.). Bereits diese unaufgeregte, theologisch knapp begründete Ergänzung in Klammern hat nachhaltige Folgen, die für produktive Impulse sorgen dürften. Die von potenziell allen Menschen gestaltete Kommunikation des Evangeliums findet in den drei (im Wirken Jesu fundierten) »Modi« »lehren und lernen; ge­meinschaftlich feiern; helfen zum Leben« (37, erläutert 38 f.) statt, bewusst verbal formuliert mit »interaktionellem und damit ergebnisoffenen Charakter« (38). Auf dieser Basis gilt es, Kirche weniger als eine auf sich selbst und ihre Vollzüge bezogene staatsanaloge Institution zu begreifen denn als »Assistenzsystem für die Kommunikation der ›Allgemeinen Priesterinnen und Priester‹, also […] einer diakonischen Kirche für andere« (298).
Mit dieser Ausrichtung ist dieser kirchentheoretische Entwurf stärker normativ als deskriptiv und stärker an Veränderung als an Bewahrung orientiert. Dies macht G. bereits in der Einleitung und in den biblischen Perspektiven (Teil 1) deutlich. Auch der ausführliche historische Durchgang durch die Kirchengeschichte (Teil 2) ist problemorientiert ausgerichtet und zeigt, wie der jeweilige gesellschaftliche Kontext die biblisch erkennbare kaum normierte und an der Nähe zum Gottesreich orientierte Kommunikation des Evangeliums immer stärker verengte und vor allem die helfende Dimension aus dem Blick verlor. Der strukturierte Aufbau dieses Teils in konsequenten 300-Jahres-Schritten und mit Schwerpunkten auf Taufpraxis und Mahlpraxis dient der Übersichtlichkeit und eröffnet Einsichten jenseits der sonst üblichen kirchentheoretischen Überlegungen. Eine Zuspitzung auf die Veränderungen der Organisationsformen der verfassten Kirche einerseits und den (Un-) Möglichkeiten der Kommunikation des Evangeliums außerhalb der verfassten Kirche andererseits wäre allerdings auch im Rahmen dieses Ansatzes interessant gewesen. Für die Neuzeit wird letztere Dimension jedoch thematisiert und an den Beispielen Innere Mission (für den Modus »helfen«), Kindergottesdienst (für den Modus »feiern«), Kirche in den Medien (»lehren und lernen«) sowie »Kirchentag« (für alle drei Modi) konkretisiert.
Die weiteren Teile 3 und 4 des Buches sind dann mit »Bestandsaufnahme: Kirchenmitgliedschaft als Option« und »Kontext: Herausforderungen und Chancen« überschrieben. Beide Teile zeigen in unterschiedlicher Weise, dass die aus früheren gesellschaftlichen Kontexten übernommenen Strukturen und Handlungsvollzüge der verfassten Kirche und die Lebensbedingungen und Orientierungen von Menschen in der Spätmoderne ein schlechtes Passungsverhältnis aufweisen. Dies belegen ebenso kirchensoziologische Erkenntnisse wie rechtliche Konstruktionen, die die »schwierige Spannung zwischen dem juristischen Mitgliedschaftsbegriff und der geistlichen Gliedschaft«, die »durch den Akt der Taufe miteinander verbunden« (155) werden, zementieren. Als sehr produktiv erweist sich dabei die gedankliche Figur der nicht-intendierten, aber äußerst wirkmächtigen »Nebenfolgen« (43.223 und 292) von kirchlichen Entscheidungen wie beispielsweise die Entstehung des monarchischen Episkopats durch das Streben nach Einheit im Kontext einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft oder die enge Verflechtung von Staat und Kirche durch die Inanspruchnahme der Obrigkeit seitens der Reformation. Solche Prägungen durch frühere Kontextualisierungen sind die Ursache für den gegenwärtigen rückwärtsgewandten und dysfunktionalen Charakter von Kirche.
Nicht ganz konsequent ausgewählt und ausgewertet erscheinen mir die anschließend dargestellten kirchenreformerischen »Programme« seit den 1960er Jahren, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind (historische große kirchliche Bewegungen wie die Kirchenreformbewegung oder das 2. Vaticanum und Ansätze einzelner Autoren früherer Jahrzehnte wie Herbert Lindner oder Norbert Mette stehen neben der aktuell viel diskutierten Gemeinwesenorientierung). Sie werden auch nur ansatzweise auf die Frage der Neuorientierung einer Kommunikation des Evangeliums hin ausgewertet, wozu gerade die Gemeinwesenorientierung m. E. große Potenziale besäße. Innovation wird offensichtlich eher von den in Teil 4 thematisierten internationalen Modellen der »Akteure des Evangeliums« in der Erzdiözese Poitiers, den Fresh expressions of Church in der anglikanischen Kirche und den evangelikal orientierten Emergents in den USA erwartet. Auch mit diesen hätte ich mir eine ausführliche Auseinandersetzung zu den Chancen und Problemen ihrer Rezeption im hiesigen Kontext (gerade unter dem Postulat der Kontextualität von Kirche) gewünscht, nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer theologischen Ausrichtung.
Im letzten Paragraphen des Buches werden Praxisbeispiele vorgestellt von »Aufbrüche[n] von Menschen […], die vom Auftreten, Wirken und Geschick Jesu berührt wurden« (284), die zwar »theologisch im strikten Wortsinn als ›kirchlich‹ zu bezeichnen sind, aber manchmal nur in loser, teilweise in keiner organisatorischen […] Verbindung mit verfasster Kirche« (287) stehen. Von diesen sind dann aber doch etliche von ihnen, wie G. es auch selbst formuliert, von der verfassten Kirche initiiert oder unterstützt – Aktivitäten zum Jahr der Taufe beispielsweise, die Telefon- und Notfallseelsorge, das Modell KU3 bzw. 4, evangelische Schulen oder Kirchenpädagogik und Kirchenmusik. Damit aber wird die verfasste Kirche am Schluss des Buches als vielfältiger deutlich, als es vorangehende Passagen beschreiben. In dieser Linie würde es sich vielleicht doch lohnen, Vorschläge und Modelle zur Veränderung kirchlicher Organisationsformen, die passende Rahmenbedingungen für die Kommunikation des Evangeliums bieten könnten, stärker in den Blick zu nehmen, als es das Interesse dieses Ansatzes ist. Denn eine Abkehr von pastoraler Versorgung und eine Ausrichtung der Kirche auf eine »Assistenzfunktion bei sich lebensweltlich ereignenden Kommunikationen« (297) würde unweigerlich Veränderungen der kirchlichen Organisationsformen nach sich ziehen, deren Konturen m. E. konkreter benannt werden könnten als das Stichwort der »mixed economy«, die G. empfiehlt (295). Insofern ist das Werk nicht nur hinsichtlich einer stärkeren kirchentheoretischen Wahrnehmung des theologischen Kirchenbegriffs, sondern auch im Blick auf die verfasste Kirche und ihre Formen äußerst anregend.