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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

876–877

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Orlov, Andrei A.

Titel/Untertitel:

Yahoel and Metatron. Aural Apocalypticism and the Origins of Early Jewish Mysticism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XII, 238 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 169. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-155447-6.

Rezensent:

Beate Ego

Andrei A. Orlov, Professor an der Marquette University in Milwaukee/Wisconsin und Spezialist für die in kirchenslavischer Sprache überlieferten Pseudepigraphen (z. B. 2 Henoch, Apokalypse Abrahams), erweitert und vertieft mit diesem Werk seine Forschungen zur Figur des Engels Metatron (eine für die frühe jüdische Mystik bedeutende Engelsfigur) sowie zur Beziehung zwischen den antikjüdischen apokalyptischen Traditionen und den Hekhalotüberlieferungen. Nachdem O. bereits im Jahre 2005 in seinem Werk The Enoch-Metatron Tradition (TSAJ 107; Tübingen: Mohr Siebeck, 2005) die Verbindung zwischen dem Engel Metatron in der Hekhalot-literatur und der Henochfigur aus dem Äthiopischen Henoch nachgezeichnet hat, leuchtet er nun deren Beziehungen zu der Engelsfigur Yahoel aus, die vor allem in der Apokalypse Abrahams eine prominente Rolle spielt. In enger Verbindung dazu wird die Frage nach dem Modus der Repräsentation Gottes in der biblischen, apokalyptischen frühjüdisch-mystischen Tradition abgehandelt, die in den verschiedenen Quellen sowohl visueller als auch auditiver Art sein kann.
Das hier vorliegende Werk besteht aus drei Teilen, dazu kommen eine knappe Einleitung (1–8) sowie die »Conclusion« (205–210), eine interessante Bibliographie (211–224) sowie verschiedene Regis-ter (225–238). Das erste Kapitel (9–60) behandelt die »Vorgeschichte und Einflüsse« der Thematik. In diesem Kontext verweist O. darauf, dass für die Interpretation der frühen jüdischen Mystik, wie sie vor allem in der Hekhalotliteratur vorliegt, traditionell der visuelle Aspekt stärkere Beachtung gefunden hat. Als entscheidende Traditionslinie erscheint hier die Verbindung mit der biblischen Kabod-Theologie aus priesterlichen Traditionen, die in der sogenannten »Thronwagenvision« Ezechiels ihre prominenteste Vertretung findet. So sah Gerschom Scholem die Vision Gottes als Ziel der Himmelsreise des Mystikers, der in der Hekhalot-Literatur in die himmlische Welt aufsteigt; die Überlieferungen selbst konnte er dann auch als »Merkaba- oder Thronmystik« bezeichnen.
Neben diesem visuellen Zugang zur Gottheit existiert nun, und hier zeigt sich O.s spezifischer Zugang zu der Thematik, eine andere Tradition, die in der Hebräischen Bibel mit dem Deuteronomium und dem Theologumenon vom »Namen Gottes« verbunden ist. Gottes Offenbarung erfolge, so O.s These, in diesem Kontext nicht visuell, sondern akustisch (»aural«); als Belege für die Vermittlung des Namens werden zahlreiche unterschiedliche Figuren, so der Engel des Herrn, Mose, der Hohe Priester, der Erzengel Michael, der M enschensohn, der Patriarch Jakob, der »Kleine Jao«, der Logos sowie Jesus Christus genannt. Als zentrale Vorstellung erscheint dabei die Figur des »Engel des Herrn«: »a figure who functions as a crucial blueprint at the very beginning of the biblical Shem ideologies« (60). Wie die folgenden Ausführungen zeigen, können sowohl Yahoel als auch Metatron mit dem »Engel des Herrn« verbunden und als Verkörperungen des göttlichen Namens verstanden werden.
Kapitel 2 (61–140) wendet sich zunächst den Sabbatopferliedern als einem Paradigma einer »akustischen Mystik« zu (cf. die Rede von der »Stimme göttlicher Stille« – 4Q405 20 7–8). Als wichtigster Vertreter dieses Zugangs dient freilich die Apokalypse Abrahams, entstanden in den ersten Jahrhunderten n. Chr. In diesem Kontext bietet O. eine umfassende Bestandsaufnahme der Rollen und Titel Yahoels, so als Vermittler des Namens, als Verkörperung der Gottheit, als Chorleiter, als Enthüller der Geheimnisse, als »Fürst der Tora«, als himmlischer Hoherpriester, als Bewahrer der Schöpfung, als Führer und Beschützer des Visionärs, als liminale Gestalt, als Figur, die die menschlichen Sünden entfernt, und als zweite Macht im Himmel. Die akustische Namenstheologie erreicht einen Höhepunkt in Kapitel 18 der Apokalypse Abrahams, wo der Seher dem göttlichen Wagen begegnet, aber nicht einer Figur, die auf dem Thron sitzt. Anstatt die Erscheinung eines Menschen zu sehen, wie in Hesekiels Vision, hört Abraham etwas »wie die Stimme eines Menschen« (68).
Interessant ist nun – so die Ausführungen in Kapitel 3 (141–204)–, dass die Hekhalotüberlieferungen, insbesondere Sefer Hekhalot, auf die gleichen Kategorien wie die Apokalypse Abrahams zurückgreifen, um die Rollen und Titel des Engels Metatron zu beschreiben. O. findet eine Bestätigung seiner Argumentation, wonach das auditive Moment in den Hekhalotüberlieferungen eine wichtige Rolle spielt, in einem Aufsatz Peter Schäfers. Dieser betont, dass die Hekhalotüberlieferungen beinahe nichts darüber aussagen, was der Mystiker sieht, wenn er am Ziel seiner Himmelsreise angekommen ist; Ziel der Himmelsreise ist vielmehr die Partizipation an der himmlischen Liturgie (cf. P. Schäfer, The Aim and Purpose of Early Jewish Mysticims, in: P. S., Hekhalot-Studien [TSAJ 19], Mohr Siebeck, 1988, 277–295). Dabei betont O., dass visuelle Elemente nicht völlig aufgegeben werden, sie werden aber oft überarbeitet, so von einer polemischen Re-Interpretation der Ka­bod-Vorstellung ausgegangen werden muss (142 ff.). Die unterschiedlichen Motivberührungen zwischen der Apokalypse Abrahams und den Hekhalottexten deuten nach O. auf einen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang.
Es ist das Verdienst der Arbeit, die Aufmerksamkeit auf die bislang meist nur marginal beachteten akustischen Elemente bei der Himmelsreise zu lenken, und der Verweis auf die großen Traditionslinien zwischen der hebräischen Bibel, der antikjüdischen Apokalyptik und der frühen jüdischen Mystik ist beeindruckend. Manches freilich ist zu allgemein formuliert: Bereits die sogenannte Thronwagenvision Ezechiels, klassisches Paradigma der Kabod-Theologie, enthält akustische Elemente (s. Ez 1,24 f.; 3,12 f.); der »Engel des Herrn« kann in der biblischen Tradition auch in einem visuellen Kontext stehen (so Ri 6,21), und sowohl die Sabbatopferlieder als auch Sefer Hekhalot mit der großen Schau der weinenden göttlichen Hand in § 68 enthalten eindrückliche visuelle Elemente. So wäre weitergehend zu fragen, ob tatsächlich von einem Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören gesprochen werden kann und wie das Verhältnis der auditiven und visuellen Offenbarungselemente – abgesehen von der Kategorie der polemischen Auseinandersetzung – noch differenzierter beschrieben werden kann. Insgesamt handelt es sich um eine sehr interessante Studie, die einem zentralen theologischen bzw. religionsgeschichtlichen Thema ge­widmet ist. Was auf den ersten Blick als eine thematisch enge Fragestellung erscheint, entpuppt sich schnell als ein wichtiger Beitrag, der zentrale theologische und traditionskritische Fragen der antikjüdischen Literatur und ihrer Verbindung mit der Hebräischen Bibel beleuchtet und innovativ vorantreibt.