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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

936–938

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Engler, Fynn Ole, u. Jürgen Renn

Titel/Untertitel:

Gespaltene Vernunft. Vom Ende eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Philosophie.

Verlag:

Berlin: Matthes & Seitz 2018. 204 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-95757-342-1.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Im Jahr 1934 wurde Albert Einstein zwangsweise ausgebürgert und siedelte wenig später nach Princeton über. 1936 wurde der Philosoph Moritz Schlick von einem früheren Schüler im Hauptgebäude der Universität Wien erschossen. Einstein und Schlick kannten sich seit einer ersten Begegnung in Berlin 1915. Es folgte nicht nur ein reger Austausch über die Fächergrenzen hinweg, sondern diese Arbeitsgemeinschaft ermöglichte wesentliche physikalische Einsichten und Theoreme. Mit dem Weggang des einen und dem Tod des anderen sei, so die These des hier anzuzeigenden Buches, Höhepunkt und Abschluss einer gesamten Epoche erreicht, in der es noch einen Dialog zwischen Naturwissenschaften und Philosophie gegeben habe. Doch diese Ära sei vorüber; zurück bleibe eine »ge­ spaltene Vernunft« samt der melancholisch kommentierten, gegen-seitigen Sprachlosigkeit und einer bedauerlichen Selbstimmunisierung der Fächer, die jenes Gespräch verunmögliche, aber auch obsolet erscheinen lasse (11.20).
Nimmt man diese These beim Wort, widerlegt dieses Buch auf glückliche Weise seine eigene Ausgangsprämisse, stehen doch beide Autoren genau für jene Kooperation, die angeblich einem vergangenen Zeitalter angehöre. Fynn Ole Engler ist Wissenschaftsphilosoph und Physiker am Zentrum für Logik, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Universität Rostock; Jürgen Renn ist Wissenschaftshistoriker, Physiker und Mathematiker und seit 1994 einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Was beide Autoren überaus gut, wenn auch notwendig skizzenhaft nachzeichnen, ist eine »Spaltung der Rationalität« (20.22) in vor allem zwei Domänen. Dieser Bruch ist weitgehend deckungsgleich mit dem, was in der späteren Philosophie als Differenz zwischen fact and values beschrieben, beklagt oder zurückgewiesen worden ist. Diese Zwei-Reiche-Lehre sorge dafür, dass sich die einen um Tatsachen kümmerten und die anderen lediglich um Evaluationen und Präferenzen. Entsprechende Immunisierungsstrategien seien schon bei Kant zu beobachten (25), so dass die Bemühungen des Wiener Kreises um Schlick bereits eine Reaktion auf die wachsende Parzellisierung wissenschaftlichen Arbeitens dargestellt haben, um nun einen er­neuten – und finalen – Integrationsversuch zu starten (24). Er­folgreich – aber nicht nachhaltig.
Es wird in diesem Narrativ sehr anschaulich, dass Einsteins Nachdenken über genuin philosophische Themen, vor allem im Gefolge von David Hume, von großer Bedeutung für die Formulierbarkeit physikalischer Theoreme gewesen war. Man denke an die Varianz von Geschwindigkeiten bei dem Wechsel des Bezugs-systems, was alternative Begriffe von Raum und Zeit erfordern wird (43 f.). Was sich in der Humeschen Tradition eines skeptischen Empirismus abzeichne, sei ein »Denkstil«, der weitreichende Be-züge und gegenseitige Beeinflussungen aufweise: zur Architektur und Archi-Theorie des Bauhauses, zur sogenannten »Neuen Sachlichkeit«, ebenso zu Brechts Theater (51 f.).
Schlick selbst aber hatte der skizzierten Trennung von wissenschaftlicher Objektivität einerseits und dem Reich der Werte andererseits Vorschub geleistet, hielt aber unbedingt daran fest, dass die Philosophie in beiden Arenen zuhause sei. Hier zeigt sich eine zusätzliche Spaltung, diesmal innerhalb des Wiener Kreises, die zuletzt zu dessen Erosion beitragen sollte. Während Schlick auch für Ethik und Ästhetik an einem philosophischen Allgemeinheitsanspruch festhielt, wurde dieser von Schülern wie Rudolf Carnap abgewiesen – und, entgegen Schlicks Absichten, der Philosophie die Aufgaben belassen, als Wissenschaftstheorie und Begriffsanalytik dem Geist der Naturwissenschaften zuzuarbeiten (57.69.88). Beide Positionen werden vor den politischen Verirrungen von Martin Heidegger kritisch konturiert.
Carnap aber steht für eine Tendenz, die sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg verstärken sollte: den schleichenden Rückzug auf die Sprache. Auch in Schlicks Gesprächen mit Wittgenstein Ende 1929 und Anfang 1930 ging es genau um dieses Refugium (90). In einer auf Rekonstruktionen und Analyse fokussierten Philosophie müssten die Lebensfragen aus dem Blick geraten und die ge­sellschaftlichen Wirklichkeiten vernachlässigt werden (98). Umso bedauerlicher sei es, so die Autoren weiter, dass der vom Mediziner und Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck gesuchte Kontakt zu Schlick eine »verpasste Chance« geblieben sei. Denn hier hätten sich die Gelegenheiten geboten, jene Lebensfragen zurückzugewinnen, sofern man sich auf Flecks »Soziologie des Denkens« und dessen vergleichende Lehre der Denkstile eingelassen hätte. Doch musste Flecks »historischer Realismus« Schlick fremd bleiben. Die Pluralität der Denkstile vertrug sich schlecht mit dem Anspruch auf universale Geltungsansprüche von Aussagen und Theorien (106.112 f.).
Es liegt nahe, Flecks Ansätze in der dann klassisch werdenden Wissenschaftstheorie von Thomas Kuhn aufgehoben zu sehen. Doch ist es mit Blick auf das Anliegen des Buches ganz konsequent – und sachlich zutreffend –, Fleck von Kuhn stärker als gemeinhin üblich abzuheben. Kuhn verbleibe bei einem Individualismus, der das Flecksche »Denkkollektiv« nicht integrieren könne, aber auch – dabei ähnlich zu Carnap und gegen Fleck – politische und soziale Aspekte im Hinter- und Untergrund wissenschaftlicher Arbeit kaum zur Geltung bringe (116.122). Und so werde die hier nachgezeichnete Trennung zwischen dem Reiche der Fakten und der Werte auch von Kuhn fortgeschrieben.
Die beiden letzten Abschnitte kehren zurück zu jener Ära, die diese Trennung zwar kannte, aber fruchtbar suspendierte. Es wird anschaulich, wie sehr Einstein selbst Teil eines Kontextes gewesen ist, der für die Entdeckungen des magical year 1905, aber auch für die späteren Arbeiten entscheidend gewesen sei. Einsteins »Relativitätsrevolution« ließe sich, so die methodische Annahme, treffend im Lichte Flecks nachzeichnen und sei durch Schlicks Zuarbeiten, Korrekturen und Überlegungen begünstigt, vielleicht gar ermöglicht worden (126.129). So sei Schlick nicht nur zu einem Teil des Denkkollektivs um Einstein avanciert (135), sondern auf ihn ginge zugleich das sogenannte »Relativitätsprinzip« (nach dem Naturgesetze nur Aussagen über zeiträumliche Koinzidenzen seien) zurück (143). Das spätromantische Bild des vereinzelt arbeitenden Genies wird hier dadurch korrigiert, dass Einstein mit Fleckscher Begrifflichkeit in eine komplexe Konstellation des Denkens, Arbeitens, auch des Empfindens und Wertens eingezeichnet wird, welche die Signifikanz von implizitem Vorwissen, oft nur latenter Beeinflussung, aber auch kontingenten Begegnungen deutlich macht (133).
Dieses Buch lebt von seiner überzeugenden, manchmal ›dichteren‹, zuweilen skizzenhaften Beschreibung eines der spannendsten »Denkkollektive« des letzten Jahrhunderts. Spürbar ist, dass im Zu­griff auf das Material und seine Protagonisten Ludwik Fleck nicht nur Gegenstand, sondern dessen »›historische Epistemologie‹ avant la lettre« zugleich methodisches Werkzeug ist (109). Dadurch wird greifbar, wie sehr Einstein eingebunden war in einen intellektuellen Zusammenhang, der das auch von ihm selbst geförderte Bild eines Einzelgängers durch Elemente des Gemeinschaftlichen an­reichert; und es wird ein Panorama aufgebaut, in dem die Kollektive des Wiener Kreises um Schlick, Carnap oder Otto Neurath sowie der Berliner Gruppe um Hans Reichenbach porträtiert werden, bevor sie durch die politische Situation in Mitteleuropa verdrängt werden – um jene »Epoche der wissenschaftlichen Philosophie« zu beenden, wohl unwiederbringlich.
Nur, soll man in diese Klage einstimmen? Die Autoren stellen selbst fest, dass die Motive zur »Spaltung« auch auf innerwissenschaftliche Dynamiken der sich beschleunigenden Differenzierung und Spezialisierung zurückgingen. Ob aus der exempla-rischen Kooperation zwischen Schlick und Einstein jene »Epoche« extrapoliert werden kann, um weit über dieses Duett hinausgehend eine umfassende »Denkstimmung« jener Zeit um 1930 einzufangen, ist zweifelhaft. Ebenso fragwürdig ist, jene positivistische Einheitswissenschaft, die Schlick und anderen Mitstreitern des Wiener Kreises vorschwebte, als Modell zu preisen. Gerade das Scheitern jener Einheit hatte ja zu Reaktionen des philosophischen Rückzugs, auch der immer noch wirkenden binären Spaltung zwischen Tatsachen und Werten, zwischen Theorien und Applikationen, zwischen analytischer Tradition und kontinentalem »Denkstil« beigetragen. Doch Anzeichen, dass jene Dualismen ihrerseits einer Revision unterzogen werden, um womöglich einen veritablen Nachfolger jener »Epoche der wissenschaftlichen Philosophie« zu etablieren, gibt es durchaus. Die Verbindungen, die die philosophy of mind mit den Kognitionswissenschaften, die Tierethik mit der Zoologie und Biologie oder die Wissenschaftstheorie mit kultur- und ideengeschichtlichen Beiträgen eingehen, lassen doch – um’s mit Fleck zu sagen – ein gewisses »Widerstandsaviso« gegenüber der »epochalen« Wehmut der Autoren aufkommen.