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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

369–386

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Eckhard Zemmrich

Titel/Untertitel:

Wechselwirkungen
Zur Bedeutung außereuropäischer Religionsgeschichtsschreibung für religionswissenschaftliche Reflexion*


I Abgrenzungen: Zu Ansatz und Einsatz außer-europäischer Religionsgeschichtsschreibung


»Die Religionswissenschaft kommt spät.«1 Dieses 2009 von Jörg Rüpke gezogene Resümee über den Beginn konzeptioneller Arbeit zur europäischen Religionsgeschichte erst in der Zeit kurz nach dem Ende der Nachkriegsordnung konstatierte noch vor einem Jahrzehnt Nachholbedarf: 1993 hatte eine Zeit konzentrierter Be­schäftigung mit dem Thema begonnen, als Burkhard Gladigow konzeptionelle Überlegungen zur Diskussion stellte, die den religionsgeschichtlichen Blick von der vorwiegenden Beschäftigung mit dem »Fremden«, »Exotischen« auf das »Eigene« lenkten.2 Damit wurden nicht nur der positionellen Kirchengeschichtsschreibung gegenüber Ansprüche auf eine multiperspektivische Betrachtung des europäischen Christentums geltend gemacht, die das Diskursfeld veränderten. Es wurde, so Christoph Auffarth, auch eine »Öffnung des Religionsbegriffes« erreicht hin zur Beschreibung von Religion als »Ferment in allen Lebensbereichen«, das sich im »Feld« der »Pluralität religiöser Traditionen« identifizieren lässt.3

Aus dem dafür mittlerweile komplex und facettenreich geführten Gespräch mit anderen Kulturwissenschaften greife ich zwei wichtige Weichenstellungen heraus. Zum einen ist eine Wandlung des Erkenntnisinteresses erkennbar: »Nicht Religion selbst steht im Mittelpunkt, sondern die Bedeutung von Religion.«4 Sozialgeschichtliche Fragestellungen erhalten damit für die europäische Religionsgeschichtsschreibung zentrale Relevanz. Eine andere Orientierungsentscheidung ist mit dem selbstaufklärerischen Diskurs um die eher zeitliche oder geographische Bestimmung des Be­griffs »europäisch« verknüpft. Gegenüber den immer sehr voraussetzungsreichen zeitlichen Kategorisierungsbemühungen5 scheint mir eine räumliche Abgrenzung plausibler und funktionaler, wie sie Rüpke mit einer geographischen Bestimmung als »Religions-geschichte Europas«6 vorschlägt, die aus vielen »regionale[n] Religionsgeschichten«7 besteht. Sie wendet sich damit gegen »das Bild eines monolithisch christlichen Europas, das die Religionsgeschichte zu einer Angelegenheit der Kirchengeschichte werden lässt«8, gegen »Essentialisierung« von Religionen als stabile Einheiten9 und gegen eine »isolierende[] Untersuchung einzelner religiöser Traditionen«, ohne »Differenzen zwischen Organisationen und Diskursen, zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeiten und Zu­schreibungen desselben Individuums erkennen« zu lassen.10 »Diese analytischen Optionen«, so Rüpke weiter, »verlangen den geographischen Europabegriff als Basis der Rede von einer ›europäischen Religionsgeschichte‹ in all seiner Problematik; ›europäische Religionsgeschichte‹ und ›Religionsgeschichte Europas‹ sind damit synonym.«11 Abgrenzungen gegen eine afrikanische oder asiatische Religionsgeschichte werden so sinnvoll; eine zumal vor dem Hintergrund weltweiter europäischer Kolonialgeschichte letztlich na­hezu alles inkludierende und damit nivellierende Ausdehnung des Begriffs etwa auf Nordamerika oder auf alle europäischen Einflussgebiete der Kolonialepoche wird vermieden. Darüber hinaus sollte es so bereits im Ansatz schwerer fallen, ungewollt in der damit einhergehenden postkolonial-europäischen, zutiefst berechtigten Selbstkritik aus bester Absicht ungewollt doch unter der Hand erneut eine imperiale Geste Gestalt gewinnen zu lassen, indem die Auseinandersetzung mit der eigenen Ge­schichte vor allem als er­weitertes Selbstgespräch ohne echtes Gegenüber geführt wird.

Auf echte Gegenüber aber kommt es an, um der Gefahr zu entgehen, die Gayatri Chakravorty Spivak in dem Satz zusammenfasste, dass »die Intellektuellen der Ersten Welt […] sich die Maske abwesender Nicht-Repräsentierer anlegen und die Unterdrückten für sich selbst sprechen lassen.«12 Ebenfalls geographisch bezeichnete, außereuropäische Entwicklungen müssen mit den – für europäische Wahrnehmung oft ›Verschiebungen‹ und Verfremdungen produzierenden – Eigenperspektiven dortiger Regional- und Lokalakteure in die Diskussion einbezogen werden. Nur so können so­ziokulturelle, wirtschaftliche und religiöse Perspektiven und globale Austauschprozesse angemessen – und das heißt nicht hegemonial und unreflektiert-eurozentrisch – Berücksichtigung finden. Eurozentrismen selbst sind ja zumindest aus einer europäischen Sprecherperspektive heraus unhintergehbar. Sie können jedoch bewusst gemacht und durch den Einbezug anderer Perspektiven einem Verfremdungseffekt ausgesetzt werden. Es wäre, so stellte Gregor Ahn bereits 1997 fest, »völlig naiv, davon auszugehen, Eurozentrismen ließen sich nicht nur aufdecken, sondern auch gänzlich durch wertneutrale Begrifflichkeiten ersetzen; und es könnte dadurch dann nach und nach eine objektive, standpunktfreie Kultur- und Religionswissenschaft generiert werden. […] Eine Loslösung von eurozentrischen Vorverständnissen kann […] immer nur in der Aufdeckung und Distanzierung von einem bestimmten Vorurteil erfolgen, nicht aber grundsätzlich.«13 Kritik und Dekonstruktion sind entscheidend, basieren aber selbst wiederum auf positionellen Konstruktionen und Konzeptualisierungen. Eigene Perspektivität ist veränderbar, grundsätzlich aufhebbar ist sie nicht. Dies gilt auch für das von Michael Bergunder noch 2011 als von der Religionswissenschaft »bisher vernachlässigt[]« bezeichnete Forschungsfeld einer »globale[n] Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«14, die sich ihm zufolge auf »ein zeitgenössisches, alltägliches Religionsverständnis«15 stützen sollte. Kann jedoch, so wäre aus einer interkulturellen Begegnungsperspektive zu fragen, das von Bergunder für »nahezu alle[] theoretischen Positionen« vorausgesetzte, »konsensfähige[] heutige[] Alltagsverständnis von Re­ligion«16 wirklich als ein ›globales‹ angenommen werden? Können »wir« als Theoriebildende, »[w]enn wir durch die Welt reisen«, tatsächlich den Anspruch erheben, nicht nur einen überall »etablierte[n] Gebrauch von ›Religion‹«17 wahrzunehmen, sondern damit auch das anderenorts »Zeitgenössische« und »Alltägliche« zu erfassen? Sollte darüber doch Unsicherheit bestehen, so wäre die Frage berechtigt, ob das in Angriff zu nehmende Projekt globaler Reli-gionsgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts im Sinne einer nicht-essentialistischen Verflechtungsgeschichte notwen-dig die Überwindung einer Konzeptualisierung europäischer Reli­-gionsbegrifflichkeit impliziert. Davon wäre jedenfalls auch die Konzeptualisierung spezifisch außereuropäischer Religionsbegrifflichkeit als »ihr Anderes« betroffen. Bergunders Plädoyer für eine Historisierung der Debatte muss der genannte Zweifel keinen Eintrag tun, wie weiter unten an einem konkreten Beispiel aus Indonesien aufgezeigt werden soll.

Nun liegt der Ausgangspunkt europäischer religionswissenschaftlicher Betrachtungen für außereuropäische Phänomene und Prozesse meist bei der Beschreibung und Deutung entsprechen-der Phänomene und Prozesse in Europa. Die im Forschungspro-zess gewonnenen Einsichten über außereuropäische, religionsgeschichtlich relevante Vorgänge sind dann gewissermaßen Nebenprodukt und jenem Hauptinteresse zu- oder im Bemühen um die Konstruktion globaler Verflechtungsgeschichten beigeordnet. Wer dagegen aus europäischer Perspektive bei außereuropäischen Fragestellungen einsetzt, riskiert damit, unreflektiert in hegemonial normierende Deutungsansprüche zurückzufallen, die semantisch der kolonialen europäischen Expansion verhaftet bleiben. Solche Fragestellungen darum jedoch grundsätzlich zu meiden, wäre fa­tal, denn »außereuropäische Religionsgeschichte«, so Christoph Kleine, ist »nicht bloße Erbsenzählerei im exotischen Feld, sondern absolut essentiell für die Theoriediskussion unseres Faches.«18 Warum? Zum Beispiel, so Kleine, für die Frage nach einem nicht-eurozentrischen Religionsbegriff.19

Zudem ist auch eine europäische Religionsgeschichte ohne ihr Anderes, eine bzw. mehrere außereuropäische Religionsgeschichten, nicht sinnvoll beschreibbar: Jedes diskursive Feld – auch jedes noch so amorphe oder hybride – ist nur dann eines, wenn es – wie flüchtig auch immer – von anderen bestimmbar abgegrenzt werden kann. Und nicht zuletzt belebt die wissenschaftliche Betrachtung außereuropäischer Religionsgeschichte erneut die kritische Diskussion zur Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Kultur, wie sie etwa Olaf Schumann bereits vor dem »European turn« der Religionsgeschichtsschreibung in einem Vortrag in Seoul anregte, der bis heute nichts von seinem visionären Charakter eingebüßt hat. 20 Ich gehe also davon aus, dass ein Einsatz bei außereuropäischen Fragestellungen möglich sein sollte und einen un­mittelbaren Gewinn auch für das Verständnis von Aspekten europäischer Religionsgeschichte zeitigen kann. Wie aber lässt sich ein solcher Einsatz vertretbar praktizieren, und welcher Mehrwert wird dabei konkret erkennbar? Die folgenden Ausführungen verbinden dazu eine kurze theoretische Grundlagenbesinnung mit zwei methodischen Hinweisen, die anhand eines außereuropäischen Fallbeispiels im gesellschaftspolitischen Kontext der Republik Indonesien je für sich illustriert werden.

II Wechselwirkungen: Selbst-Bewusstsein und zwei Vorschläge zur Methodik


Dass die jeweilige Gegenwart immer die Konstruktion von Religionsgeschichtsschreibung mitbestimmt, und dass sie jeweils in einer »Geste der Abgrenzung«21 zwischen Gegenwart und Vergangenheit normativ zu verorten ist, hat Lorenz Trein im Anschluss an Michel de Certeau nachdrücklich herausgestellt. Das dadurch entstehende Bewusstsein für die in der Geschichtsdarstellung immer ›mitlaufende‹ Zeit- und Ortsgebundenheit der eigenen Forschungsperspektive ermöglicht, was ich in Anlehnung an das, was Klaus Ko­schorke für das wissenschaftliche Projekt einer Kirchengeschichte als »Global Christian history as a history of transcontinental interactions«22 bezeichnet, eine selbst-bewusste Haltung im religionsgeschichtlichen Forschungsprozess nennen möchte.23 Sie übt gleichzeitig eine begrenzende und entgrenzende Funktion aus und bietet so eine mögliche Antwort auf die Frage, »wie sich Gegenwart als konstitutives Element von Geschichtsschreibung und Religionswissenschaft […] kontextualisieren lässt«24: Mit ›selbst-bewusster‹ Haltung bezeichne ich eine solche, die um die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart für die Geschichtsschreibung und deren Systematisierungen weiß und also um ihre Beschränkung und Angewiesenheit auf andere Perspektiven im Diskurs, wie auch um die Fruchtbarkeit von Verfremdungen und Verflechtungen, die durch die Begegnung mit anderen Perspektiven ausgelöst werden und zustande kommen können. Dieses Bewusstsein, das sich auch als perspektivische oder epistemische Bescheidenheit bezeichnen ließe, öffnet ebenso den Blick für die Begegnung mit anderen Perspektiven und deren Wahrnehmung, wie es die Bereitschaft fördert, diese nicht nur einfach hin-, sondern sie auch ernst zu nehmen, das heißt: sich ihnen bewusst auszusetzen, sie im Sinne aktiver Toleranz zu ertragen, sich jedoch ebenso auch von ihnen herausfordern zu lassen. Das Bewusstsein der Prägung durch die eigene Gegenwart ist unerlässliche Voraussetzung für die Möglichkeit auch von Neukonstituierung eigener Reflexionskontexte und -parameter unter dem Einfluss anderer Perspektiven.

Gleichzeitig ermöglicht genau eine solche, aus der Diskursordnung interkultureller Polyzentrik erwachsende selbst-bewusste Haltung als Bewusstsein perspektivischer Bescheidenheit jedoch auch die Freiheit, die eigene, derart diskursiv formierte Perspektive tatsächlich selbst-bewusst zu artikulieren: Sobald die eigene Kontextgebundenheit erkannt und nach Kräften benannt ist, kann das Bild, das sich damit dem eigenen Auge darbietet, zwar weiterhin nicht ohne ›blinde‹, wohl aber ohne ›weiße‹ Flecken beschrieben werden. Anders ausgedrückt: Sichtbares und Sagbares durchdringen sich nicht nur gegenseitig, sie befruchten sich auch wechselseitig, und in diesen Bewegungen liegt ein subversives Potential den jeweils vorherrschenden diskursiven Formationen gegenüber.25 Interkulturelles ›Wissen‹ wie polyzentrische Geschichtsschreibung verstärken diesen subversiven Effekt, indem sie für den Bezug ›ungleichzeitiger‹ Diskursformationen aufeinander sorgen. Dem Subjekt, gleich unter welchen Konstitutionsbedingungen, eröffnet sich so die Möglichkeit, ›weiße Flecken‹ regional vorherrschender Diskursformationen wahrzunehmen und mit deren Er­hebung in die Sichtbarkeit einen Beitrag dazu zu leisten, »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault). Eine so eingenommene Teilnahmeperspektive hilft, eine »hegemoniale Schließung«26 der eigenen Perspektive zu verhindern oder aufzubrechen. Und sie ermöglicht eine entsprechende Positionierung im Diskurs: Ich kann mich so auch mit meiner Perspektive anderen zumuten, eben weil ich um die eigene Beschränkung und das Vorhandensein an­derer, gleichwertiger Perspektiven weiß, diese ernst nehme, und weil das Bewusstsein einer nicht-transzendierbaren Teilnahmeperspektive den ›doxischen Rückzug‹ auf eine objektivierende Me­taebene mit ihren imperialen Ansprüchen zumindest er­schwert.27 Anders formuliert: Eine diskursive Normierung des Verhältnisses zwischen Sichtbarem und Sagbarem aus einer europäischen Erste-Person-Perspektive enthielte sonst ja eben wieder den gleichsam postkolonial getarnten Herrschaftsanspruch über die Ordnung der Dinge – und verriete damit erneut eine ebenso imperiale wie eitle Haltung anderen Perspektiven gegenüber.

So ist also die methodische wie inhaltliche Reflexion auf die Ge­genwart meiner wie aller anderen Religionsgeschichtsschreibungen Ausdruck eines bescheidenen und gleichzeitig anspruchsvollen Selbst-Bewusstseins. Sofern ich um die Endlichkeit der eigenen Perspektive weiß, darf ich mich anderen mit meiner eigenen Handlungsmacht grundsätzlich zumuten, weil ich gerade damit deren Agency achte. Erst wenn das gewagt wird, kann es zu echten Wechselwirkungen der Perspektiven kommen, und nicht nur zum Pos­tulat eines gleichberechtigten, bloßen Nebeneinanders der Meinungen, das in nicht wahrgenommenen, subtilen Unterströmungen letztlich doch wieder alte Herrschaftsansprüche repristiniert. Postkoloniale Selbstkritik ist für eine europäische Perspektive unverzichtbar. Sie darf jedoch nicht in ein programmatisches Verstummen münden, das das Einbringen der eigenen Stimme mit ihren Intentionen und Intuitionen ersetzt.

Eine solche gewagte, also im Wortsinne riskante Grundeinstellung will operationalisiert sein. Dabei ist zu bedenken, dass sich aufgrund der faktisch nach wie vor manifesten epistemischen, ökonomischen und sprachlichen Dominanz westlicher Wissensproduktion im internationalen Wissenschaftsbetrieb auch heute ein interkultureller Diskurs auf Augenhöhe nicht von allein ergibt, selbst bei Festsetzung einzuhaltender Diskursregeln. Um die Möglichkeit von Wechselseitigkeit und damit auch Wechselwirkung im interkulturellen Fachgespräch zu eröffnen, reicht es daher nicht aus, allen Diskursteilnehmenden zuzutrauen, sich Gehör zu ver schaffen; eine aktive Wahrnehmungs- und Hörbereitschaft ist da­für eigens erforderlich. Außer einer entsprechenden, jeweils individuellen Disposition dafür halte ich auch zwei methodische Hilfestellungen für grundlegend wichtig, weil sie die für eine selbstbewusste Perspektivierung außereuropäischer Religionsgeschichtsschreibung nötigen Verflechtungs- und Verfremdungseffekte in den Forschungsprozess einzutragen und so eine wirkliche Wechselwirkung anzuregen helfen:

(1) Aktuelle außereuropäische Zeugnisse zu gesellschaftlich relevanten Gegenwartsdiskursen sind für die Bestimmung von außereuropäischer Geschichte konsequent zu berücksichtigen. Damit lässt sich meiner Meinung nach von vornherein besser die oben bereits erwähnte Bedeutung der Gegenwart von Religionsgeschichtsschreibung auch in interkultureller Perspektive einbeziehen. Das heißt, ein Bewusstsein über eigene Interessen, die die Geschichtsschreibung bestimmen, kann sich klarer bilden an der Beschäftigung mit aktuellen Interessen in der außereuropäischen Region selbst, über die man schreiben möchte, also zum Beispiel, wie weiter unten an einem indonesischen Beispiel aufgezeigt wird, religionspolitischen Interessen. Das führt zu einer Pluralisierung einzubeziehender Perspektiven, da solche Interessen akteursabhängige Unterschiede aufweisen, die, zueinander in Beziehung gesetzt, außereuropäische Diskurslagen und -prägungen viel besser in eigenem Rechte zur Geltung kommen lassen. Kurz: Es wird von vornherein die eigenständige Sprecherposition derjenigen gestärkt, über die man sprechen möchte. Der Blick nach draußen wird nicht zum »Museumsblick«; das eigene Narrativ erfährt so im besten Falle eine Brechung.

Damit legt sich ebenfalls nahe, (2) aktuelle interkulturelle Kommunikation in die Religionsgeschichtsschreibung explizit einzubeziehen. Solche Kommunikation prägt idealerweise bereits die Erarbeitung des Forschungsdesigns, denn, so Angelika Rohrbacher: »Da die Form der Wissenschaft, wie sie heute an Universitäten weltweit betrieben wird, nachhaltig von europäischen Mustern des Wissens geprägt ist, können nicht-eurozentrische Impulse wohl nur von WissenschaftlerInnen aus jeweils anderen Kulturkreisen bzw. Kontinenten kommen.«28 Vor allem geht es jedoch auch um die Wahrnehmung und Einbeziehung von inhaltlichen Diskursen im Forschungsfeld. In den Worten ›klassischer‹ Forschungsmethoden: Die teilnehmende Beobachtung kann nur eine notwendige Vorstufe zur Focussed Group Discussion sein – mit den Forschenden in der Doppelrolle von Protokollierenden und Teilnehmenden an solcher Kommunikation.

Beide auf den ersten Blick vielleicht unspektakulären Aspekte bergen meines Erachtens das Potential, nicht nur polyzentrische, sondern auch – um einen Grundbegriff interkultureller Philosophie aufzunehmen – polylogische Geschichtsschreibung nicht nur im Sinne eines deskriptiven Nebeneinanders zu ermöglichen, sondern – im Sinne einer wie oben beschriebenen, selbst-bewussten Grundeinstellung – als Impulsgeberin für aktuelle Theoriebildung zu nutzen. Wird doch die Aufmerksamkeit durch den interkulturellen Gegenwartsbezug vermehrt auf postkoloniale Entwick-lungen gelenkt, also auf die jüngere Religionsgeschichte der verschiedenen Räume und deren eigene geschichtliche Perspektivierungen– und dies ebenfalls im Dienst erwünschter Selbstperspektivierungen der historisch Forschenden: Es werden Potentiale der Entdeckung und Konstruktion von Wechselwirkungen erschlossen, die sich als Verfremdungen und Verschiebungen eigener Perspektiven bemerkbar machen und die so auch der Tatsache Rechnung tragen, dass im Bemühen um Weltverständnis immer der Wunsch nach Selbstverständnis mitschwingt.

Für Wahrnehmung oder Entdeckung, schließlich auch begriffliche Konstruktion solcher Wechselwirkungen ist erneut die be­wusste Hinwendung Forschender zu nachkolonialen Entwicklungen beziehungsweise deren Konstruktion im außereuropäischen Raum erforderlich. Denn mag eine globale Verflechtungsgeschichte und die Annahme beiderseitiger, wenn auch unterschiedlicher Handlungsmacht zwischen hegemonialen und subalternen Ak­teurinnen und Akteuren mittlerweile unstrittig sein: Anders als die unter direktem, physisch-psychischem, ökonomischem und sozialem Zwang erfolgten Wirkungen auf die der Kolonialherrschaft Unterworfenen, werden nach Auflösung jener unmittel-baren Herrschaft Rückwirkungen auf Europa viel schwerer fests tellbar. Selbst wenn die Auseinandersetzung mit Wirkungen europäischer Kolonialpolitik wie europäischer Denktraditionen und deren Kategorisierungen weiterhin spürbar die Entwicklungen in den immer noch jungen Nationalstaaten beeinflussen, wie dies die Geschichte der Subaltern Studies eindrücklich zeigt.29 Eine Rückwirkung auf europäisches Denken, so die immer wieder ge­machte Erfahrung im globalen Wissenschaftsbetrieb, ›geschieht‹ nicht einfach. Sie setzt Kommunikation, im besten Falle Diskurs voraus und ist auf bewusste Hinwendung und Reflexion angewiesen, jedenfalls wenn man wie Jürgen Habermas Diskurse als »eine Art reflexiv gewordenen kommunikativen Handelns« bestimmt und damit einen durchgängigen Anspruch aktiver wechselseitiger Wahrnehmung erhebt.30

Die Entstehung von Wechselwirkungen zwischen außereuropäischer und europäischer Religionsgeschichtsschreibung setzt also zuallererst ein genuines Wahrnehmungsinteresse auf europäischer Seite voraus. Darüber hinaus auch die Bereitschaft und Fähigkeit zu einer Kommunikation auf beiden Seiten, die von einer Hermeneutik nicht nur des Verdachts, sondern auch des Vertrauens geprägt ist. Bei Letzterem geht es nicht um die Verteidigung machtvergessener, idealistischer Diskurse, sondern zum einen um die Annahme von inhaltlichen »Überlappungen« zwischen kulturell geprägten Konzepten und Begrifflichkeiten, wie sie der Pionier interkultureller Philosophie Ram Adhar Mall postuliert.31 Zum anderen denke ich hier an eine Nutzung von »discursive entanglements«, wie sie die postkoloniale Literatur- und Medienwissenschaftlerin Rey Chow beschreibt: Im Wissen um die eigene, unhintergehbare und notwendig ordnende ›Zentralperspektive‹ können sehr verschiedene Diskurszusammenhänge aufeinander bezogen werden im Vertrauen darauf, dabei Verfremdungseffekte zu erzielen, die die eigene Perspektive verändern und die in der Reflexion darauf einen Erkenntniszuwachs generieren.32 Solche Wirkungen – oder besser: Rückwirkungen – dürfen jedoch nicht einfach abgewartet werden; ihre Wahrnehmung will in konstruktivistischem Sinne erwartet und gestaltet werden. Dann jedoch können Rückwirkungen und im besten Falle Wechselwirkungen einsetzen, die es methodisch gerechtfertigt erscheinen lassen, außereuropäische Religionsgeschichte auch heute zu treiben.

An einem ausgewählten Fallbeispiel möchte ich das Gesagte unter zwei Aspekten verdeutlichen. Sie beziehen sich exemplarisch auf die beiden Begriffsbestandteile von Religionsgeschichte, »Religion« und »Geschichte«.

III Anregungen: Religionsbegriff und Geschichtsschreibung – ein indonesisches Fallbeispiel


Michael Bergunder hat in dem bereits zitierten, vielbeachteten Aufsatz »Was ist Religion?« den Vorschlag unterbreitet, den nach wie vor anhaltenden Meinungsstreit um die Begriffsbestimmung von »Religion« zu entschärfen, indem »Religion« nicht als normativ bestimmungsbedürftiger, systematischer Begriff verstanden wird, sondern als deskriptiv erfassbarer, historisch in religiösen Alltagsverständnissen sedimentierter »Name«. Religionsgeschichte lasse sich dann als »Namensgeschichte«33 auf der Grundlage »unerklärte[r] Religion«34 schreiben. Was das konkret in einem außereuropäischen Kontext bedeuten kann und wie stark dabei eine globale Verflechtungsgeschichte durch Begrifflichkeiten markiert wird, die Impulse für Wechselwirkungen geben kann, soll hier exemplarisch gezeigt werden.

Das von mir ausgewählte Beispiel ist der gesellschaftlichen Wirklichkeit Indonesiens entnommen, einem Land also, dessen religionsgeschichtlich relevante Prozesse sich in Vielfalt und Dichte mit denen in Europa durchaus messen lassen können. Es soll um die Betrachtung einer aktuellen Primärquelle der Geschichtsschreibung gehen, um einen 114-seitigen, 2011 veröffentlichten indonesischen »Atlas der Geschichte Indonesiens und der Welt«, bestimmt für den Schulunterricht der Mittel- und Oberstufe. Dieser Geschichtsatlas ist erkennbar auch als Atlas der Religionsgeschichte konzipiert, worauf bereits die Eibandgestaltung hinweist: Insgesamt in der Farbe des Islam, Grün, eingefärbt, enthält sie vorn zwei Bildmotive: zum einen den Blick auf eine der vielen Buddhastatuen sowie auf die Hauptstupa der gewaltigen buddhis-tischen Tempelanlage Borobodur in Zentral-Java; zum anderen, im Hintergrund, eine kartographische Darstellung der Ausbreitung des Islams in Indonesien vom 13. Jh. an: Man erkennt das ma­laiische Malakka, mit Verbindungslinien des Seeverkehrs westlich nach Aceh auf Nord-Sumatra und östlich nach Borneo.

Konzeption und Gestaltung des Geschichtsatlasses lassen auf ein stark politisch konturiertes Religionsverständnis schließen, wie es in europäischer Religionsgeschichtsschreibung zwar als wichtiger Aspekt in religionsgeschichtlichen Darstellungen auch Berücksichtigung findet, dort jedoch kaum als implizite Leitvorstellung für eine konzeptionelle Ordnung aktueller Religionsgeschichtsschreibung anzutreffen ist. Diese tut sich kund in einer auf den ersten ›westlichen‹ Blick irritierenden (1) Kategorisierung und (2) Periodisierung.

1. Anerkannte und nicht anerkannte Religion – ein außereuropäischer Beitrag zur Geschichte des politischen Religionsbegriffs


Der Atlas zeigt auf seiner ersten Seite die im indonesischen Staatswappen illustrierte Staatsphilosophie Indonesiens: »Pancasila«, die »Fünf Gebote/Prinzipien«.35 Das erste Prinzip bezeichnet die Grundlage der postkolonialen Religionspolitik Indonesiens: »Ketuhanan yang Maha Esa«, wörtlich: »die groß-einzige Herrschaft«, seiner Bedeutung entsprechend: »die all-eine göttliche Herrschaft«36. Sie wird symbolisiert durch einen fünfzackigen Stern in der Mitte des Wappens, dessen Licht gleichsam durch die vier anderen, untereinander gleichrangigen Prinzipien ausstrahlt. Das Prinzip »Ketuhanan yang Maha Esa« markiert die Exklusivität der seit beziehungsweise nach der Staatsgründung offiziell als verfassungs-konform anerkannten Glaubensgemeinschaften, die als agama be­zeichnet werden: Islam, protestantisches und römisch-katholisches Christentum, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus.37 Im Zuge von Auseinandersetzungen in den 1950er Jahren um die Frage, welche Glaubensgemeinschaften als agama anerkannt werden sollten, wurden vom Religionsministerium (Departemen Agama, heute: Kementerian Agama) Kriterien dafür vorgeschlagen:38 1952 waren dies ein heiliges Buch, Berufung auf (einen) Propheten, einheitliche Lehren und internationale Anerkennung. 1959 wurde das letztgenannte Kriterium gegen »göttliche Of-fen­barung« (wahyu Allah) ersetzt. Proteste gegen diese deutlich islamisch-monotheistisch modellierten agama-Kriterien konnten nicht verhindern, dass sie in der Folgezeit eine gewisse faktische Normativität erlangten für diejenigen Glaubensgemeinschaften, die nach dem agama-Status strebten und daher versuchten, sich ›agama-förmig‹ zu präsentieren. Brachte doch eine staatliche Anerkennung als agama Privilegien mit sich: Nur für die agama sind im Religionsministerium Abteilungen eingerichtet; für alle anderen Glaubensrichtungen ist das Kultusministerium zuständig, und die dort erfassten werden staatlicherseits als aliran kepercayaan klassifiziert, als »Glaubensströmung«39. Beide Begriffe, agama und kepercayaan, sind im offiziellen, den Alltagsgebrauch mitprägenden Sprachgebrauch entsprechend unterschiedlich konnotiert. Da­bei zeigen sich eine hohe Differenzierung und entsprechend komplexe historische Verflechtungs- und Interaktionsmuster dieses Gebrauchs:

Wortfeld und Differenzierung
Das vom Ministerium für nationale Bildung – also einem staatspolitischen Akteur – herausgegebene Große Indonesisch-Indone-sische Wörterbuch definiert die beiden Begriffe agama und keper-cayaan in klarer formaler, aber auch nuancierter inhaltlicher Ab-grenzung gemäß dem religionspolitischen status quo in der Indo­nesischen Republik: Agama ist demzufolge eine »Lehre, ein System, das eine Glaubens- oder Gläubigkeitsordnung regelt sowie den Gottesdienst für den allmächtigen Herrn mitsamt den Sprachregelungen, die die Beziehungen der Menschen untereinander sowie ihre Beziehungen mit ihrer Umwelt betreffen.«40 Kepercayaan da­gegen wird äquivok bestimmt: zunächst als Dimension des gläubigen Vertrauens innerhalb einer agama, und also als indonesisches Äquivalent zum aus dem Arabischen stammenden Lehnwort iman (Glauben). Daneben dient kepercayaan jedoch auch als »Bezeichnung für ein Religionssystem (sistem religi) in Indonesien, das nicht zu den […] offiziellen Religionen (agama yg resmi) ge­hört«41. Das hier verwendete Lehnwort religi wird im indonesischen Religionsdiskurs so gut wie nicht gebraucht. Es hat keinen erkennbar spezifischen Bedeutungsgehalt und Gebrauchsumfang, sondern kann wahlweise im Zusammenhang mit agama und kepercayaan eingesetzt werden.42 Kepercayaan steht damit als Synonym für indigene Religionen. Deren Anhänger werden im offiziellen Sprachgebrauch häufig immer noch abschätzig als »Menschen, die noch keine agama haben«, bezeichnet. Sie sind oft Repressalien ausgesetzt. So gab es seit 1967 und bis 2017 eine Pflicht, im Personalausweis die Religionszugehörigkeit vermerken zu lassen im Sinne der Zugehörigkeit zu einer agama. War diese nicht gegeben, blieb das entsprechende Feld auf der Ausweiskarte frei. Derart exponiert, hatten Inhaber und Inhaberinnen solcher Personalausweise nicht nur Schwierigkeiten, Geburten, Heiraten und Todesfälle amtlich registrieren zu lassen. Sie konnten auch in den Verdacht geraten, Atheisten zu sein – eine vor dem Hintergrund des landesweiten Massenmordes 1965/66 bis heute für derart Bezeichnete nicht ungefährliche Unterstellung.43 Anhängerschaften indigener Glaubensgemeinschaften tauchen so im offiziellen Ge­schichtsbild In­donesiens kaum und in dem hier als Beispiel herangezogenen Schulatlas überhaupt nicht auf.

Das in Indonesien staatspolitisch sanktionierte Reputationsgefälle im Verständnis von agama und kepercayaan lässt sich vor dem Hintergrund christlich-missionarischer Verflechtungsgeschichte als Aus- und Nachwirkung der europäischen Kategorisierung von primitiven und Hochreligionen verstehen, wie sie im Gefolge evolutionistischer Geschichtsentwürfe gängig wurde und sich in der europäischen Öffentlichkeit auch weiterhin hält. Diese Unterscheidung ist im postkolonialen Indonesien immer lebendig ge­blieben, auch wenn im indonesischen Grundgesetz beide Begriffe nebeneinander syntaktisch nahezu gleichberechtigt erscheinen.44 Die damit erzeugte semantische Spannung diente Betroffenen als Basis für Proteste gegen die gesellschaftspolitische Hierarchisierung beider Begriffe im Versuch der Status-Angleichung von kepercayaan an das anerkannte agama-Konzept – so in dem epochalen Urteil des Indonesischen Verfassungsgerichts vom November 2017, den Eintrag einer Zugehörigkeit zu lokalen Religionen im Personalausweis als agama leluhur (›Ahnenreligion‹) zuzulassen,45 oder indem man von agama suku (Stammes-Religionen) o. Ä. spricht. Solche Versuche zur Status-Aufwertung von kepercayaan im offiziellen Sprachgebrauch werden auch an strategischer Wortwahl erkennbar, etwa indem gewissermaßen die schon vorhandene Binnendimension der Glaubenspraxis von agama – als kepercayaan – bewusst auf das Anerkennungskriterium der offiziellen Pancasila-Definition bezogen wird: So bringt ein 2010 erstelltes in­terreli-giöses Positionspapier indonesischer Menschenrechtsgruppen mit Forderungen zur Änderung der Ausweisgestaltung kepercayaan direkt mit einer personalisierenden Formulierungsvariante der ersten Sila in Verbindung, wenn es dort heißt: »kepercayaan pada Tuhan yang Maha Esa«, also »Glaube an den groß-einzigen Herrn«. Damit entfernt man sich andererseits aber wieder vom spezifisch indonesischen Gehalt des agama-Begriffs: Das Wort agama selbst stammt aus dem Sanskrit und wurde im indischen Kontext nicht im Sinne von »Religion« ge­braucht, sondern steht für ein Corpus tantrischer Schriften, die sich stark mit magischen und rituellen Praktiken befassen. Über das Mahayana-buddhistische Königreich Sri Wijaya auf Sumatra drang der Begriff agama ins Malaiische ein und kam mit seiner aufs Magische und Rituelle bezogenen Prägung umfassender für Verehrungsformen auf indonesischem Ge­biet in Verwendung. Diese besondere Akzentuierung von agama zeigt sich auch daran, dass es, wie erwähnt, den Begriff religi im Indonesischen zwar ebenfalls gibt, auf ihn jedoch in den hier in-teressierenden Zusammenhängen praktisch nicht zurückgegriffen wird.

Während religi also im indonesischen, religionspolitischen Diskurs unterbestimmt bleibt, dominieren diesen agama und kepercayaan begrifflich. Anschlussfähig an das, was mit agama gemeint ist, war offenbar immerhin das Verständnis von religio im Sinne des europäisch-reformatorischen Zeitalters, das die konfessionellen Unterschiede der Gottesverehrung herausstellte und das etwa in der Bezeichnung »Augsburger Religionsfriede« bis heute nachklingt. In Indonesien wurde die agama katolik der Portugiesen ab 1602 radikal bekämpft und ersetzt durch die agama Kristen der Holländer – und so werden bis heute Protestanten und Katholiken in Indonesien religionspolitisch als zwei unterschiedliche agama be­handelt.46 Indonesische Kirchen wiederum verwenden heute diese Unterscheidung nicht mehr. Ihre Wahrnehmung ist weitgehend geprägt vom ökumenischen Kontext. Man unterscheidet hier bei einer agama Kristen zwischen Gereja Katolik und Gereja Protestan, zwischen katholischer und protestantischer Kirche. Seit Be­ginn des indonesischen Unabhängigkeitskampfes im 20. Jh. wird ein Diskurs über die Einheit aller Kirchen geführt.47 Unterschiede in den klassischen Denominationen verblassen zusehends, zumal im Gegenüber zu evangelikalen und (neo-)pentekostalen Kirchen.

Wahrnehmungsimpulse und Transfers
Die breite Auffächerung des Wortfeldes zu agama und kepercayaan zeigt exemplarisch: Zum einen ist eine Identifizierung außereuropäischer Worte, die als Äquivalente für den Namen »Religion« in Frage kommen, ohne hermeneutische Anschlussbemühungen – und damit ohne begriffliche Bestimmungen – nicht zu haben. Zum anderen sind neben dem Alltagsverständnis konstitutiv auch andere unausgesprochene Verständnisprägungen konstitutiv in die historische Beschreibung einzubeziehen, wie hier zum Beispiel religionspolitische Interessen. All dies verlangt eine differenzierte Bereitschaft zur Wahrnehmung der Kontexte einschließlich ihrer Fremdheitspotentiale, die sie für das jeweils eigene Verstehen be­reithalten. Ob die Bemühung um globale Religionsgeschichtsschreibung gut daran tut, sich dafür als Überwindung der Kategorisierung von europäischer und außereuropäischer Religionsgeschichte zu stilisieren, erscheint mir, wie gesagt, fraglich. Vertretbarer wäre es vielleicht, aus der eigenen, spezifischen Perspektive heraus Beiträge zu religionsgeschichtlicher Verflochtenheit zu leisten, die in der Wechselwirkung mit anderen perspektivischen Beiträgen das Diskursfeld erweitern und verändern, und zwar, im Sinne echter Wechselwirkung, auch das eigene. Drei Beispiele sollen das knapp erläutern.

(1) Aus der Wortfeldanalyse zu indonesischen Religionsbegriffen und deren aktueller Beschreibung könnten sich im Sinne einer bewusst anzustrebenden Wechselwirkung Anregungen für die europäische religionsgeschichtliche Arbeit am Religionsbegriff ergeben. Etwa – nicht als direkte Parallele, sondern mutatis mutandis – auf dem Feld der Deutung und religionsgeschichtlichen Klassifizierung nicht nur in der Auseinandersetzung mit Phänomenen wie Esoterik48 oder mit religiösen – beziehungsweise von ihren Gegnern pseudo-religiös genannten – Formationen wie der »Scientology-Kirche«, sondern auch derjenigen von neo-paganen oder auch besonders deutlich von sogenannten Online-Religionen: Wie das Beispiel der monotheistische Religionen parodierenden »Kirche des fliegenden Spaghettimonsters« zeigt, gewinnt diese zunächst virtuell konzipierte Fundamentalismus-Kritik ihrerseits durchaus soziale Realität und wird damit auch Gegenstand religionspoli-tischer Aushandlungsprozesse im Ringen um gesellschaftliche An­erkennung und Deutungsmacht. Die Frage nach der staatlichen Anerkennung als Religion wird, wie das besonders bekannt gewordene Beispiel aus dem brandenburgischen Templin zeigt, dabei vor allem juristisch geführt. Die Selbstdarstellungen der Anhängerschaft des »Pastafarianismus« im Zusammenhang mit diesem Rechtsstreit und die damit befassten juristischen Texte schwanken zwischen der Kategorisierung dieser Formation als »Religion« und »Weltanschauung«. Am Rückgriff auf theologische Klassifikationen zeigt sich dabei deutlich die Abhängigkeit deutscher Rechtsprechung von institutionalisierter religiöser Deutungsmacht.49 Eine theoriefähige religionswissenschaftliche Aufarbeitung und Einschreibung solcher Phänomene in religionsgeschichtliche Zu­sammenhänge Europas steht meines Wissens noch aus.50 Dafür könnten Reflexionen zur Verwendung der Begrifflichkeit anerkannter und nicht anerkannter religiöser Lebensäußerungen im außereuropäischen Kontext hilfreich sein.

(2) Auf diese Weise würde vielleicht ebenfalls eine überzeugende Kontextualisierung der in europäischer Religionswissenschaft im­mer noch weithin diskursprägenden Säkularisierungsthese er­leichtert,51 und Fragen nach konstitutiv religionspolitischen Wirkungsgrößen erhielten eine angemessenere Berücksichtigung. Perspektiven, die etwa Olaf Schumann für den Anerkennungsdiskurs und seine Folgen innerhalb indonesischer Religionsgeschichte in Auseinandersetzung mit Hans Küng und Samuel Huntington – unter Aufnahme der Unterscheidung zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« in der Tradition Ferdinand Tönnies – scharf herausgearbeitet hat, wären auf ihre Weise in ›westlichem‹ Kontext lohnend zu bedenken.52 Gerade auch, weil für die Prägung religiöser Identitäten in Europa in deren theologischem Selbstverständnis der Aspekt religionspolitischer Einflussnahme im Zuge des Aufklärungsparadigmas oft ausgesprochen kritisch bewertet und nach Möglichkeit ausgeschlossen wird.53 Der Begriff agama Be­landa, »Religion Hollands«, der sich in kolonialer Zeit als Bezeichnung für das calvinistische Christentum in Indonesien einbür-gerte, verlangt geradezu nach einer solchen konstitutiven Berücksichtigung der politischen Dimension des Religionsverständnisses. Einen Vorschlag, diesem Erfordernis in einer integrierten Gesamtschau ge­recht zu werden, hat jüngst Andreas Feldtkeller vorgelegt, indem er in einer Kategorisierung von Grundformen sozialer Religionsformationen »expressions of an order of power« als bei reli-gionsgeschichtlichen Analysen durchgängig zu prüfende Grundform benannt hat.54

(3) Nicht zuletzt ließe sich im ›Habitus‹ der Offenheit für außereuropäisch generierte Diskursimpulse die Frage nach der Eigenständigkeit von Religionsgeschichtsschreibung gegenüber der Kirchengeschichtsschreibung noch gezielter und forcierter stel-len: Reicht es religionswissenschaftlich schon aus, gegenüber der notwendig parteiischen Kirchengeschichte ›heterodoxe‹ religiöse Gruppen in ihrer Eigenentwicklung und Wirkungsgeschichte zu profilieren, wie das zunehmend geschieht? Oder müsste die dogmengeschichtlich dominierte Nomenklatur für religiöse Strömungen und Gemeinschaften insgesamt auf den Prüfstand? Dies natürlich nicht als Umbenennung auf empirischer Ebene, sondern im Sinne metasprachlicher Zuordnungen, wie sie etwa im religionssoziologischen Diskurs bereits erprobt werden.55

Die Wahrnehmung außereuropäischer Erfahrungen und Deutungsmuster kann so nicht nur zu einer Verfremdung und Verunsicherung, also sozusagen zum Eingeständnis einer Schwächung der Deutungspotenz europäischer Religionssystematik führen, sondern zielgerichtete Anregungen zu einer angemesseneren Verarbeitung solcher Wahrnehmungen geben. Damit komme ich zum zweiten Aspekt des Fallbeispiels, einer Betrachtung zur systematischen Prägung von Religionsgeschichtsschreibung.

2. Indonesische Religionsgeschichtsschreibung –ein Plädoyer für differenzierte Wahrnehmungen


Das Themenspektrum des erwähnten indonesischen Schulatlasses reicht von der Vorgeschichte Indonesiens bis zur Landkarte der ASEAN-Staaten. 17 Seiten sind der Entwicklung Indonesiens unter den prägenden kulturellen Einflüssen vom 2. bis zum 17. Jh. gewidmet, und zwar nach folgender Gliederung:

1. »Die Entwicklung des hinduistisch-buddhistischen Einflusses in Indonesien«,

2. »Die Entwicklung des islamischen Einflusses in Indonesien«, und

3. »Die Entwicklung von Kolonialismus und Imperialismus«.

Die Gliederung folgt also zweimal einer dominierenden religiösen Prägung,56 während die dritte Periode, anders als im Gefolge dieser Kategorienbildung erwartbar, nicht als »Entwicklung des christlichen Einflusses«, sondern ausschließlich unter dem Aspekt der tief eingreifenden politischen Fremdherrschaften seit dem 15. Jh. subsummiert werden. Ein Einfluss christlicher Religion wird gar nicht eigens wahrgenommen und thematisiert. Der einzige Satz, der die christliche Religion in diesem Schulatlas ausdrücklich er­wähnt, findet sich noch im Abschnitt zum Islam und lautet: »Diese westlichen Völker begannen schließlich die dichtbevölkerten islamischen Häfen zu beherrschen und verbreiteten die christliche Religion (agama Nasrani) mit den Symbolen Gold, Glory, Gospel.«57

Die Verflochtenheit außereuropäischer Religionsgeschichte mit europäisch-kolonialem Machtstreben liegt klar zutage. Wie ließe es sich aber deuten, dass Kolonialismus und Imperialismus in diesem Atlas aus dem Jahre 2011 ›Eins zu Eins‹ an die Stelle der eigentlich ebenfalls zu erwartenden Erwähnung christlichen Einflusses treten? Und zwar nicht nur, weil auch die Etablierung anderer re-ligiöser Formationen auf dem indonesischen Archipel immer ebenfalls mit politischen Machtansprüchen und gewalthaltigen Machtkämpfen einhergingen,58 sondern vor allem vor dem Hintergrund, dass Protestantismus und römischer Katholizismus heute die nach dem Islam zweit- und drittgrößte agama des postkolonialen Indonesien darstellen? Ist, dass dies im Atlas übergangen wird, allein aus der auch heute noch anhaltenden Nachwirkung des kollektiven Traumas der Kolonialherrschaft erklärbar? Oder kommt darin etwa auch die ideologisierende Geschichtsschreibung einer sehr aktuellen, religionspolitisch geprägten Perspek-tive zum Ausdruck, die der kommenden Generation vermittelt werden soll? Kurz: Welche Gegenwart ist in dieser Historiographie wirksam und also mit in die Betrachtung einzubeziehen, um eine solche außereuropäische Quelle der Geschichtsschreibung angemessen würdigen zu können?

Solche Fragen lassen sich natürlich methodisch sorgfältig mit Hilfe vorhandener Publikationen zur Begegnungsgeschichte von Islam und Christentum weiterverfolgen. Ergänzt werden sollte eine solche Bewertung jedoch, wie oben gefordert, im Interesse einer selbst-bewussten Religionsgeschichtsschreibung durch ein auf den jeweils konkreten Sachverhalt direkt gerichtetes, interkulturelles Gespräch, um so Selbsteinordnungen von durch die jeweilige Geschichte in ihrem Kontext unmittelbar Geprägten stärker einfließen zu lassen, sowie um gerade in der neueren historiographischen Forschung anzutreffende, gruppenbezogene Nivellierungen korrigieren zu können.59 Ich selbst habe ein solches Ge­spräch im vorliegenden Fall in Gestalt einer kleinen, nicht repräsentativen, qualitativen Kurzumfrage gesucht, die ich gemeinsam mit den entsprechenden Bildern des Atlasses an einige mir von einem indonesischen Aktivisten des interreligiösen Dialogs be­nannte indonesische christliche und islamische Frauen und Männer versandte. Der facettenreiche Rücklauf spricht insgesamt eine deutliche Sprache: Die indonesischen Christinnen und Christen reagierten überwiegend alarmiert und werteten mehrheitlich diese Art von Religions-Geschichtsschreibung als bewussten Versuch, die Geschichte des indonesischen Christentums, so wörtlich, »verschwinden zu lassen«, mit gravierenden Auswirkungen für die Zukunft ihrer Kirchen. Die muslimischen Respondentinnen und Respondenten hingegen konnten sich die fehlende Erwähnung des Christentums mehrheitlich entweder nicht erklären oder schrieben sie dem Fokus des Atlasses auf die Kolonialherrschaft zu. Auch sie jedoch äußerten Unbehagen über die Darstellung und erklärten sie für nicht angemessen.

Die beschriebenen Reaktionen verweisen demnach sowohl auf die anhaltende Wirkung der Kolonialgeschichte als auch auf postkolonial gewachsene, epistemische Gewalt: Letzteres gegenüber Christen als religiöser Minderheit in Indonesien, die sich in ihrem Ringen um Identität und Anerkennung in einem mindestens dreiseitigen Spannungsfeld befinden: Sie müssen Identität und Anerkennung gewinnen (1) angesichts des gesellschaftlichen Stigmas, Anhänger der »Religion Hollands« und »des Westens« zu sein, (2) angesichts einer aktuellen Religionspolitik, die Minderheitenrechte nach wie vor häufig zu gering achtet und Religionsunterschiede machtpolitisch instrumentalisiert, und (3) angesichts des Zwangs zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, für die eine radikale Loslösung von westlicher Beeinflussung keine realistische Option ist, weil dies die Trennung von den eigenen Wurzeln bedeutete.

Auf Seiten der Muslime und Muslimas besteht die Schwierigkeit darin, angesichts immer noch fortschreitender Polarisierung und ›Wahabitisierung‹ maßgeblicher Teile der indonesischen Gesellschaft den Geist einer pluralen Gesellschaftsform zu verteidigen, ohne sich selbst dem – strafrechtlich bewehrten – Vorwurf der Häresie auszusetzen.60 Das gelingt etwa im Bereich der Frauenrechte noch vergleichsweise gut, weil die Stellung von Frauen in der indonesischen Zivilgesellschaft verhältnismäßig stark ist. Doch insgesamt wird die Lage des sogenannten liberalen Islams in Indonesien immer prekärer.61 Der einst durchaus einflussreiche liberale muslimische Diskurs wird in jüngster Zeit zunehmend marginalisiert und diskriminiert.62

Von diesem Befund her lässt sich erneut im Sinne eines Konzepts der Wechselwirkung ein Impuls der Rückwirkung gewin-nen: Für die europäische Religionswissenschaft könnte daraus der Schluss gezogen werden, dass sie bei ihren Reflexionen auf die eigene Geschichte viel stärker als bisher die aktuelle Rezeption der von dieser Geschichte geprägten außereuropäischen Akteure selbst berücksichtigen sollte. Sie müsste also idealerweise die im heutigen außereuropäischen Kontext entstehenden und sich wandelnden Beurteilungen zur Religionsgeschichte vor dem Hintergrund religionspolitischer, sozial- und ideengeschichtlicher Entwicklungen nicht nur als gleichberechtigte Perspektiven in einem globalen polyzentrischen Diskurs zu Wort kommen lassen, wie es bereits immer häufiger geschieht; sie müsste diese Perspektiven in die eigenen Betrachtungen und systematischen Bemühungen laufend integrieren und rückkoppeln. So könnte es ihr gelingen, die Selbstbezüglichkeit und die sich immer wieder einstellenden, den jeweiligen, heimischen Diskursordnungen verpflichteten (Global-)Perspektiven denen gegenüber noch wirksamer aufzubrechen, deren Geschichte europäische Religionsgeschichte in die eigene Ge­schichtsschreibung einbezieht.

IV Ergebnisse: Zusammenfassung und Ausblick


Außereuropäische Religionsgeschichte zu treiben ist auch heute notwendig und sinnvoll, sofern man an Begriff und nicht-essentialisierender Konzeptualisierung europäischer Geschichtsschreibung festhält. Solche Ge­schichtsschreibung entkommt methodisch den Fallen eines unreflektierten Eurozentrismus im Gefolge der weltweiten politischen, gesellschaftlichen und diskursiven Aus- und Überdehnung europäischer Einflusssphären und einer damit drohenden, fortwährenden Selbstbezüglichkeit besser, wenn sie dafür die Entwicklungen in außereuropäischen Kontexten nicht nur als europäische Wirkungsgeschichte begreift, sondern die eigene Perspektive noch viel entschiedener dem Verfremdungspotential ak­tueller außereuropäischer Quellen zur Religionsgeschichtsschreibung einschließlich deren Konzeptualisierungen europäischer Ge­schichte aussetzt – und damit solche Quellen als konstitutive und konstruktive Beiträge zur eigenen systematischen, religionsgeschichtlichen Reflexion verstehen lernt. Die Problematik von Anerkennung und Nicht-Anerkennung religiöser Formationen in Indonesien, die sich auch im Sprachgebrauch zu erkennen gibt, kann dafür als Beispiel dienen.

Zudem sollten Reflexionen auf aktuelle religionsgeschichtliche Perspektiven von Gesprächspartnerinnen und -partnern in den betreffenden außereuropäischen Regionen laufend mit einbezogen werden – nicht nur in der Zusammensetzung von Forschungsteams, sondern auch im direkten Bezug zu den eigenen Forschungsfragen auf empirischer Basis. Dadurch wird eine Dynamik von Wechselwirkungen befördert, die religionspolitischen Verflechtungen gerechter wird, unbeabsichtigte Deutungsgefälle zu überwinden hilft, sich in Erweiterungen, Verschiebungen und Verfremdungen der eigenen Forschungsperspektiven bemerkbar macht und die eine selbst-bewusste, interkulturelle Diskursfähigkeit stärkt. Eine Diskursfähigkeit, die mit dem von Olaf Schumann geforderten »Hinaus aus der Festung«63, das als ein wissenschaftsethisches Leitmotiv seines Schaffens gelten kann, auch im Bereich der Religionsgeschichtsschreibung ernst macht.

Abstract


During the last three decades, a new field of interest has been devel-oped in Western history of religion: Whilst turning away from the »Exotic«, European history of religion became a focus of attention. Though this confirms to postcolonial awareness, it in turn may trigger the question whether, and if, then how an extra-European historiography of religion from a European perspective should still be possible without falling prey again to eurocentrism. This article argues that such extra-European historiography of religion not only is possible but needed – for non-hegemonic, equal ›interac-tions‹ between agents of religious historiography worldwide. For this, the essay reflects on a basic attitude of ›self-conscience‹ and makes two methodological suggestions. The benefit of this ap­proach is, then, been shown by a case example taken from an Indonesian school atlas and the potential it can provide for such intend-ed ›interactions‹: in describing the atlas’ contextual notions of »religion« and »history«, which in turn may stimulate the identification of topics and ways also of doing European history or religion.

*) Professor Dr. Olaf Schumann zum 82. Geburtstag..

Fussnoten:

1) Jörg Rüpke, Europa und die Europäische Religionsgeschichte, in: Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hrsg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen 2009, 3.
2) Vgl. dazu programmatisch: Ders., Europäische Religionsgeschichte, in: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi, Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, 21–42.
3) Europäische Religionsgeschichte – ein kulturwissenschaftliches Projekt, in: ThLZ 135 [2010], H. 6, 755.757.
4) Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002, 543.
5) Die Diskussion um zeitliche Abgrenzungsversuche hat meines Erachtens noch zu keinem mehrheitlich überzeugenden Ergebnis geführt: Ob etwa mittelalterliche Religionsgeschichte eine eigene mediterrane Religionsgeschichte repräsentiert und nur als Wegbereiterin oder schon als frühe Vertreterin europäischer Religionsgeschichte gelten darf, hängt von einer Vielzahl von Vorentscheidungen ab. Und der Versuch, eine zunehmende Schwächung an kultureller Prägungsmacht verfasster Kirchentümer – sowie darauf bezogener theologischer Deutungen – mit einem Ende europäischer Religionsgeschichte zusammenzudenken, könnte sich angesichts der jüngeren sozial- und machtpolitischen Entwicklungen in Osteuropa nicht nur als voreilig erweisen, sondern auch im Blick auf sich immer facettenreicher präsentierende Dynamiken religionssoziologischer Verflechtungen moderner Gesellschaften als zu einlinig gedacht. Vgl. jüngst die Teilbände 2.1 und 2.2 »Religionssoziologie« von Wolfgang Eßbach, Paderborn 2019.
6) Rüpke, Europa und die Europäische Religionsgeschichte, a. a. O., 10.
7) A. a. O., 12.
8) A. a. O., 9.
9) A. a. O., 10.
10) Ebd.
11) A. a. O.
12) Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien/Berlin 2011, 67.
13) Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft, ZfR 5 [1997], 41–58, hier: 43.47.
14) Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, ZfR 19 [2011] (1/2), 3–55, hier: 55.
15) A. a. O., 13.
16) A. a. O., 54 f.
17) A. a. O., 50.
18) Wozu außereuropäische Religionsgeschichte? Überlegungen zu ihrem Nutzen für die religionswissenschaftliche Theorie- und Identitätsbildung, ZfR 18 [2010], 4.
19) Nötig seien dafür »die Einbeziehung emischer Diskurse und objektsprachliche Terminologien (zum Beispiel aus der asiatischen Religionsgeschichte)«. Kleine, a. a. O., 3.
20) Zur Begegnung des Christentums mit anderer Kultur, in: Olaf Schumann, Hinaus aus der Festung. Beiträge zur Begegnung mit Menschen anderen Glaubens und anderer Kultur, Hamburg 1997, 117–134. Der 1986 zweimal in Seoul gehaltene und dort erstveröffentlichte Vortrag führt exemplarisch an Analysen zur Begegnungsgeschichte von konfuzianistisch und islamisch geprägten Diskursformationen mit dem Christentum vor, welches Potential solche Geschichtsschreibung für die etische, machtkritische Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Kultur, aber ebenso für den emischen, interreligiösen Dialog der Gegenwart bereithält und freisetzen kann.
21) Lorenz Trein, Die Gegenwart der Religionsgeschichtsschreibung, ZRGG 3 [2013], 220.
22) Polycentric Structures in the History of World Christianity (Inaugural lecture), in: Klaus Koschorke/Adrian Hermann (Hrsg.), Polycentric Structures in the History of World Chrsitianity. Polyzentrische Strukturen in der Geschichte des Weltchristentums (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte, 25), Wiesbaden 2014, 26.
23) Die Begriffe ›selbst-bewusst‹ und ›Selbst-Bewusstsein‹ werden im Folgenden nicht gebraucht in Anlehnung an Hegelsche Traditionslinien oder andere umfassende philosophische (Paul Ricœur) oder psychologische (Carl Gustav Jung) Selbstwerdungskonzepte, sondern im Sinne subjektbezogener, punktueller Perspektiv- und Horizontbeschreibungen.
24) Lorenz Trein, Die Zeit der Gegenwart. Historiographische Aspekte von Religion in religionswissenschaftlicher Perspektive, ZfR 24/1 [2016], 3.
25) Mit dem Begriffspaar ›Sichtbares und Sagbares‹ nehme ich Bezug auf die Interpretation von Gilles Deleuze: Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen), in: Ders., Foucault, Frankfurt a. M. 2019, 69–98.
26) Bergunder, Was ist Religion?, a. a. O., 41.
27) Der Begriff ›doxisch‹ ist hier im Sinne der »Doxa«-Definition von Pierre Bourdieu zu verstehen als »Verhaftung an Ordnungsbeziehungen, die, weil gleichermaßen reale wie gedachte Welt begründend, als selbstverständlich und fraglos hingenommen werden.«, in: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1987, 734 f.
28) Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methodik an den Grenzen von Ost und West, Marburg 2009, 193.
29) Vgl. für einen kompakten Überblick Dipesh Chakrabarty, Eine kleine Geschichte der Subaltern Studies, in: Ders., Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./New York 2010, 19–40.
30) Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M., 17.
31) Vgl. Ddrs. zusammenfassend in: Hamid Reza Yousefi/Ram Adhar Mall, Grundpositionen der interkulturellen Philosophie (Interkulturelle Bibliothek, 1), Nordhausen 2005, 114–119.
32) Chow hat dies eindrücklich anhand von Theater-, Film- und Kunstwerkanalysen nachgewiesen, in denen sie auf kreative Weise westliche und östliche Diskursfelder erörtert und unmittelbar aufeinander bezieht. Vgl. ihren Sammelband: Entanglements, or Transmedial Thinking about Capture, Durham/ London 2012.
33) Bergunder, Was ist Religion?, a. a. O., 28 ff.
34) A. a. O., 12 f.
35) Im Indonesischen spricht man von »Staatsideologie« – zunächst ohne die bei uns im normalen Sprachgebrauch damit verbundenen Assoziationen einer selbstabschließenden Weltanschauung. Der Begriff ›Ideologie‹ wird vielmehr ähnlich wie im wissenssoziologischen Sinne verwendet: Im Verhältnis zu ›Philosophie‹ steht er im indonesischen Sprachgebrauch für handlungsorientierte, ethisch-moralische Überzeugungen gesellschaftlicher Gruppen, während Philosophie als theoretisches Wissen um Mensch und Welt und deren wissenschaftliche Systematisierung steht, vgl. die Artikel »filsafat« und »ideologi« in: Departemen Pendidikan Nasional (Hrsg.), Kamus besar Bahasa Indonesia, Edisi keempat, Jakarta 2008, 392.517. Der erste Staatspräsident Indonesiens, Sukarno, hat diesen Sprachgebrauch maßgeblich etabliert, vgl. exemplarisch seine Rede »Die Welt wiederaufbauen« auf der 15. Vollversammlung der Vereinten Nationen 1960, in der er an die Repräsentanten westlicher Staaten gewandt ausführte: »Ja, wir haben viel von Europa und Amerika gelernt. […] Und wir lernen noch immer viel von Ihnen auf vielen Gebieten. Aber heute sind die Gebiete, auf denen wir im jetzigen Zeitalter weiter von Ihnen lernen müssen, die Gebiete von Technik und Wissenschaft, nicht jedoch die von einer Ideologie beherrschten des Begreifens oder der Aktion.« Zitiert im indonesischen Original und ins Deutsche übersetzt bei Matti Schindehütte, Zivilreligion als Verantwortung der Gesellschaft. Religion als politischer Faktor innerhalb der Entwicklung der Pancasila Indonesiens, Diss. Hamburg 2005, 310 (vorliegende Übersetzung von mir).
36) So mit Schindehütte, a. a. O., 168.
37) So festgeschrieben im als Präsidialerlass in Geltung gesetzten Gesetz 1/PNPS/1965 über die »Prävention von Missbrauch und Diffamierung von Religion«, dem jüngst wieder verstärkt angewandten »Blasphemiegesetz«. In der Erläuterung zu diesem Gesetz werden Judentum, Zoroastrismus, Shinto und Taoismus als Beispiele von Religionen erwähnt, die nicht verboten sind. Vgl. dazu Simone Sinn, Religiöser Pluralismus im Werden. Religionspolitische Kontroversen und theologische Perspektiven von Christen und Muslimen in Indonesien, Tübingen 2014, 23. Volle staatliche Anerkennung erfuhren von Anfang an Islam, protestantisches und römisch-katholisches Christentum. Dies lässt sich an der Einrichtung von jeweils zuständigen Abteilungen im Religionsministerium festmachen. 1958 kam der (balinesische) Hinduismus hinzu, 1965 folgten die Anerkennung des Buddhismus und des Konfuzianismus als agama. Der Konfu- zianismus schied 1979 wieder aus, wurde erst nach dem Fall Suhartos unter Staatspräsident Abdurrahman Wahid rehabilitiert und im Jahr 2006 schließlich erneut als agama anerkannt. Heute gibt es daher in Indonesien sechs voll anerkannte »agama«. Zur letztgennannten, wechselvollen Geschichte des Konfuzianismus in Indonesien vgl. den Überblick bei Edith Franke, Einheit in der Vielfalt. Strukturen, Bedingungen und Alltag religiöser Pluralität in Indonesien, Wies-baden 2012, 95–107.
38) Vgl. dazu Hyung-Jun Kim, The Changing Interpretation of Religious Freedom in Indonesia, in: Journal of Southeast Asian Studies 29.2 [1998], 357–373; für das Folgende besonders 363.
39) Diese Formulierung gilt als inhaltlich eng verbunden mit kebatinan, der mystischen Innenseite von Religionen. Aufwertend wird sie als agama suku bezeichnet.
40) Departemen Pendidikan Nasional (Hrsg.), a. a. O., Art. Agama, 15.
41) A. a. O., 1053.
42) Dies verdeutlicht die Worterklärung von religi im Indonesisch-Indone-sischen Wörterbuch: »Glaube (kepercayaan) an den Herrn; Glaube, dass eine übernatürliche Kraft über der Menschheit vorhanden ist; Glaube (Animismus, Dynamismus); Religion (agama).«, in: Departemen Pendidikan Nasional (Hrsg.), a. a. O., Art. religi, 1159.
43) Dieser Massenmord an Mitgliedern der bis heute verbotenen kommunis-tischen Partei Indonesiens (PKI) und ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängerschaft ist mit geschätzten 500.000 bis 3 Millionen Todesopfern einer der größten des 20. Jh.s. Er rückte jüngst durch die Filme Joshua Oppenheimers, »The Act of Killing« (2012) und »The Look of Silence« (2014) auch international deutlicher ins Bewusstsein. Deren Aufführung ist in Indonesien verboten; eine dem Umfang und der Tragweite dieses gesellschaftstraumatisierenden Verbrechens angemessene, offizielle Aufarbeitung scheint in Indonesien nach wie vor nicht möglich.
44) »Der Staat garantiert die Freiheit jedes Einwohners, seiner jeweiligen Religion (agama) zu folgen und fromm gemäß dieser seiner Religion (agamanya) und Gläubigkeit (kepercayaan) zu sein.« Undang-Undang Dasar Negara Republik Indonesia Tahun 1945 (UUD 45), Art. 29.
45) Vgl. dazu Samsul Maarif, Pasang Surut Rekognisi Agama leluhur dalam Politik Agama di Indonesia (»Ebbe der Anerkennung von Ahnenreligionen in der Religionspolitik Indonesiens«), Yogyakarta 2018.
46) So auch in anderen asiatischen Ländern: In China beispielsweise steht als Gottesbegriff im römisch-katholischen Kontext »T’ien Tzu« – »der Himmelsherrscher«. Protestantischerseits spricht man dagegen von »Shang Ti« – »der Herr oben«, eine alte, persönlich verstandene chinesische Gottesbezeichnung.
47) Dabei wiederum fanden die wichtigsten Abgrenzungs- und Identitäts-Diskurse über die Jahrzehnte nicht im Bereich der Dogmatik statt, sondern im für die kollektive Glaubenspraxis wichtigsten Bereich, dem der Kirchenordnungen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Christentum eingeführt wurde mit Kritik an vorhandenen und Vorschlägen oder Verordnungen neuer ritueller Praxis, während die von den Missionaren verkündeten Lehrgehalte einen europäisch kontextualisierten Reflexionsstand voraussetzten.
48) Vgl. dazu Daniel Cyranka, Eingrenzungen und Ausgrenzungen. Elemente europäischer Religionsgeschichte, in: Michael Meyer-Blanck (Hrsg.), Christentum und Europa, Leipzig 2019, 731–747.
49) 2005 hatte der US-amerikanische Physiker Bobby Henderson in einem offenen Brief das »Flying Spaghetti Monster« in Parodie auf kreationistische und auf Überzeugungen des »Intelligent Design« beschrieben. Bereits 2006 wurde dann der als gemeinnützig anerkannte Verein »Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Berlin-Brandenburg« in Templin gegründet, der sich bald darauf zur »Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland e. V.« (KdFSMD) erweiterte. Im Jahr 2014 waren von der Stadt Templin Hinweisschilder auf die wöchentlich freitags stattfindende »Nudelmesse« genehmigt und direkt unter denjenigen der evangelisch-freikirchlichen, evangelischen und römisch-katholischen Kirchengemeinden am Ortseingang von Templin angebracht worden. Nach Protest wurden die Schilder auf eine landespolitische Intervention hin wieder abmontiert. Daraufhin reichte der Verein Klage beim Landgericht Frankfurt (Oder) ein. Diesen Rechtsstreit verlor die KdFSMD 2016, ging jedoch vor dem 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Brandenburg dagegen in Berufung. Diese wurde 2017 zurückgewiesen (Az. 4 U 84/16). Das Urteil wurde unter anderem damit begründet, dass die KdFSMD keine Religion, sondern eine »Religionsparodie« oder »Religionssatire« sei. Für die Beurteilung dessen, ob es sich bei einer Vereini gung um eine Kirche, eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft handle, reiche, so das Urteil im Anschluss an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1991, »die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei Religionsgemeinschaft, […] nicht. Vielmehr muss es sich auch tatsächlich, nach geistigem Inhalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln. Selbst- einschätzung und Form der Organisiertheit reichen dazu nicht aus.« Für diese Argumentation wurde auch auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2005 zurückgegriffen, demzufolge »unter Religion oder Weltanschauung eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens zu verstehen« sei (alle Zitate nach www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, zuletzt aufgerufen 6.2.2020). Religion lege dabei eine transzendente Wirklichkeit zugrunde, Weltanschauung beschränke sich auf immanente Bezüge. Nach der Abweisung einer Berufung beim Bundesverfassungsgericht am 2018 legte die KdFSMD Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, dessen Entscheidung derzeit noch erwartet wird.
50) Während der Rechtsstreitigkeiten 2017 erschien das die Position der KdFSMD stützende Buch »Das fliegende Spaghettimonster – Religion oder Religionsparodie?« von Daniela Wakonigg und Winfried Rath (mit einem Vorwort von Michael Schmidt-Salomon) im Alibri Verlag Aschaffenburg. Meines Wissens hat es bislang keine eigene religionswissenschaftliche Rezeption erfahren.
51) Vgl. dazu Andreas Feldtkeller, Umstrittene Religionswissenschaft. Für eine Neuvermessung ihrer Beziehung zur Säkularisierungstheorie, Leipzig 2014.
52) Ders. zuletzt in: Pendekatan pada Ilmu Agama-Agama (Annäherung an die Religionswissenschaft), Jakarta 2013 (inzwischen in 3. Auflage), 473–476. Dieses Werk ist der erste einer auf mindestens fünf Bände angelegten, bisher nur auf Indonesisch publizierten Einführung in die Religionswissenschaft, deren zweiter Band »Filsafat dan Agama« (Philosophie und Religion) 2017 erschien (inzwischen in 2. Auflage). Dem Judentum ist Band 3 gewidmet (demnächst in 2. Auflage), Bände zu Islam, Hinduismus und Buddhismus, Taoismus, Shinto und afrikanischen Religionen sind druckfertig, in Arbeit oder geplant.
53) Eine machtpolitische Instrumentalisierung von Religion steht ja der Behauptung eigener konfessioneller, theologisch-spiritueller Ausrichtung und deren göttlicher Legimitierung entgegen. Sie zersetzt zudem früher oder später die Glaubwürdigkeit religiöser Praxis.
54) Ders., Social Formations of Religion and Their Relevance for Public Theol-ogy Worldwide, in: Torsten Meireis/Rolf Schieder (Hrsg.), Religion and Dem-ocracy. Studies in Public Theology, Baden-Baden 2017, 55–69, hier besonders 58.
55) Vgl. Wolfang Eßbach in seinen drei Bänden »Religionssoziologie«, a. a. O., 2014/2019, in denen zumindest für jüngere Entwicklungen begriffliche Neuschöpfungen wie »technofiktive Religion« oder »ritual-technische Verfahrensreligion« Verwendung finden.
56) Indigene Religionen finden, wie gesagt, keine Erwähnung.
57) A. a. O., 36.
58) Das gilt eingeschränkt auch für den Islam auf dem Territorium des heutigen Indonesien: Auch er verbreitete sich dort, entgegen einer häufig anzutreffenden Verallgemeinerung, nicht ausschließlich friedlich. Vgl. kompakt Fritz Schulze, Kleine Geschichte Indonesiens. Von den Inselkönigreichen zum modernen Großstaat, München 2015, 43–51.
59) Als in dieser Hinsicht für die indonesische Religionsgeschichtsschreibung wohl unbeabsichtigt sehr wirkmächtiger Autor wäre hier Robert Hefner zu nennen, dessen profunde Untersuchung »Civil Islam«, erschienen zwei Jahre nach dem Sturz Suhartos 1998, religionspolitische Entwicklungen im indonesischen Islam vor allem während des 20. Jh.s in hoher Differenzierung analysiert. Kritisch weitergeführt wurden diese Analysen jüngst in seinem Beitrag »Whatever Happened to Civil Islam? Islam and Democratisation in Indonesia, 20 Years On«, in: Asian Studies Review 43/3 [2019], 375–396. Andere Religionen werden in diesen Analysen, der angekündigten Fokussierung gemäß, nur am Rande thematisiert; der Diskurs erscheint weitgehend als ein innerislamischer. Da »Civil Islam« jedoch auch zu einem Haupt-Referenzwerk für an der jüngeren Religionsgeschichte Indonesiens insgesamt wissenschaftlich Interessierte wurde, hatte dies zur Folge, dass die Rolle, die andere Religionen neben und in Interdependenz mit dem Islam in Indonesien in den sich auf Hefner stützenden Untersuchungen spielen, häufig marginalisiert wird. Das führt in solchen Darstellungen immer wieder zu einer Verzerrung des Gesamtbildes, das der Korrektur bedarf.
60) Hierzu gibt es sowohl Bestimmungen im Strafgesetzbuch (KUHP §156a) als auch ein Präsidialdekret (Dekret Presiden No. 1/PNPS/1965) und entsprechende Ministerialverordnungen. Sowohl eine 2009 vom Indonesischen Verfassungsgericht abgelehnte Revision von 156a KUHP, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen beantragt worden war, als auch die öffentlichkeitswirksame Verurteilung des Gouverneurs von Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama (genannt Ahok), im Jahre 2017 zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe wegen Blasphemie halten diese Thematik in Indonesien hochaktuell.
61) Dies besonders nach dem Tod von geistlichen und intellektuellen Autoritäten wie Nurcholish Madjid (1939–2005) und Abdurrahman Wahid (1940–2009).
62) Weltweite Aufmerksamkeit erhielt der bereits erwähnte Blasphemie-Prozess gegen Basuki Tjahaja Purnama 2017, aber bereits 2009 etwa musste das Erscheinen des in Jakarta verlegten und von Abdurrahman Wahid herausgegebenen Buches »Ilusi Negara Islam. Ekspansi Gerakan Transnasional di Indonesia« (›Die Illusion eines Islamstaates. Expansion einer transnationalen Bewegung in Indonesien‹) wegen massiver Gewaltandrohung extremistischer Kräfte verschoben werden.
63) So der gleichnamige Titel des Sammelbands von Aufsätzen und Vorträgen Olaf Schumanns (Hamburg 1997), aus dem oben bereits zitiert wurde.