Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

391–393

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Beckmayer, Sonja

Titel/Untertitel:

Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 432 S. = Praktische Theologie heute, 154. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-17-034592-8.

Rezensent:

Ferenc Herzig

»Pfarrer und Pfarrerinnen sind Bibelleser. Das Bibelbuch als Artefakt macht ansichtig, dass sie häufig in der Bibel lesen, doch bevorzugt individuell und oft anlassbezogen« (211), stellt die Theologin und Buchwissenschaftlerin Sonja Beckmayer, die mit dieser Arbeit bei Kristian Fechtner in Mainz promoviert wurde, fest. B. leistet mit dieser empirischen Studie, die hauptsächlich aufgrund von qualitativen Interviews mit Gemeindepfarrern durchgeführt wurde, einen wichtigen Beitrag nicht nur für die Pastoraltheologie, sondern für eine ästhetisch orientierte Praktische Theologie insgesamt, weil sie eine Lücke schließt, die erstaunlicherweise noch nicht oder bislang nur in sehr kleinen Anläufen gefüllt wurde: Buchwissenschaftler beschäftigen sich mit dem Medium Buch unter ökonomischen, kulturellen oder historischen Gesichtspunkten, nehmen aber höchst selten die Bibel als Buch wahr (vgl. 30). Theologen hingegen nehmen die Bibel fast ausschließlich inhaltlich bzw. hinsichtlich ihres Textgebrauchs wahr, kaum aber als materiellen Gegenstand (vgl. 60 et passim). B. verbindet diese beiden Perspektiven und fördert so mit dieser »artefaktorientierten Untersuchung« erstaunliche und dabei aufgrund des Forschungsdesigns schlicht objektive Erkenntnisse über das vor allem pastorale Lesen der Bibel zutage. Denn B. befragt nicht eigentlich »Pfarrer Chorweiler«, »Vikar Ehrenfeld« und andere, sondern die Bibel(n) selbst als Gesprächspartner in den »artefaktfokussierten Interviews« dieser Studie (vgl. 80 f.). Dadurch »spricht« die Bibel selbst und erzählt von ihrer Verwendung und so von den Pfarrern, die sie benutzen – teilweise rührend, oft erhellend und überraschend, immer von B. pastoraltheologisch mit größter Wertschätzung dem Pfarrberuf gegenüber wiedergegeben. Dabei besticht diese Studie vor allem durch eine seltene Art der nüchternen Leidenschaft, mit der B. mit nahezu detektivischer Akribie und Lust der Bibel als Buch in ihren Gebrauchskontexten nachspürt. (Und, am Rande nur sei’s erwähnt, weil es besonders bei und nach der Lektüre einer so liebevollen Wahrnehmung des Facettenreichtums äußerer und innerer Gestaltungsmöglichkeiten und -zustände von Büchern auffällt: Gerade die Titelgestaltung der Bücher aus der blau-gelben PTh-Reihe des Kohlhammer-Verlags fällt auch mit einer solchen Publikation nicht zwangsläufig nur positiv auf.)
Unterteilt ist die Studie in fünf Kapitel, die ihren Zentrifugalpunkt im dritten Hauptkapitel finden. Kapitel 1 »Grundlegung: Die Bibel als Buch« (15–63) geht nach einer Romanszene aus Jonas Jonassons »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« knapp der Geschichte der Bibel als Buch (17–34), Grundlagen der materiellen Kulturforschung (35–48) und Streiflichtern der praktisch-theologischen Wahrnehmung materieller Kultur allgemein und der Bibel insonderheit nach (49–63).
Kapitel 2 »›Artefaktorientierung‹. Ein Forschungsdesign« (65–90) begründet das methodische Vorgehen der Studie: die datentriangulierende Artefaktorientierung als Kombination von Artefaktanalyse, artefaktfokussierten Interviews, Teilnehmender Beobachtung und Sekundäranalysen (vgl. 67) als »abduktive Haltung« (65) zur Erfindung eines neuartigen Analyseverfahrens für die Praktische Theologie, um o. g. Lücke zu schließen.
Das wirkliche Herzstück dieser Studie, nicht nur dem Umfang nach, ist Kapitel 3 »Bibeltypen und pastoraler Bibelgebrauch« (91–275). Hier entwirf B. eine heuristisch sehr hilfreiche und überzeugende Typologie der Bibel (vgl. 87): »Arbeitsbibel« (105–124), »angesammelte Bibel« (125–145), »Dienstbibel« (156–173), »Frömmigkeitsbibel« (174–194), »biographische Bibel« (213–244) und »berufsbiographische Bibel« (260–275), denen sie den Grundtypus »Normalbibel« (92–104) vorordnet. Nicht nur erfährt man etwa hierzu en passant sehr interessante Fakten etwa zur »gestalterische[n] Entwicklung der Bucheinbände der letzten rund 100 Jahre« (95), sondern man wird durch B.s prosaische Passion vor allem in den jeweiligen Buchtypenbeschreibungen in einen Bann gezogen, wie das bei Dissertationsschriften nicht oft der Fall ist.
In diesem Kapitel finden sich auch drei »Exkurse« zu »Lutherbibel und -übersetzung« (146–155), »Das gelesene Bibelbuch« (195–212) und »Das Ende eines Bibelbuches« (245–259). Auch hier erfährt man Interessantes – etwa, dass ein Gefälle zwischen gelesenem Alten und Neuen Testament zwar besteht, »das aber weniger deutlich ist, als manchmal unterstellt wird. 56,6 % aller Bearbeitungsspuren fanden sich im Neuen Testament und 43,4 % im Alten Testament« (197). Die nüchterne Leidenschaft der Buchwissenschaftlerin spürt man dem Entsorgungsexkurs erneut ab, wenn B. anhand der »waste studies« zunächst objektiv in die Forschungsnotwendigkeit und -grundlage dieses Aspekts einführt und dann die rührende Geschichte vom komplizierten Wiederfinden eines verlorenen Bibelbuches über Ländergrenzen hinweg berichtet (vgl. 247) und »Vikar Ehrenfeld« mit den Worten zitiert: »Ich kann zum Beispiel Romane oder so was, was mir nicht gefällt, wegschmeißen. […] Bei Bibeln kann ich das nicht. Wirklich nicht. […] Also wegwerfen ist gar nicht. Ne.« (249) Einzig am Exkurs zur Lutherübersetzung wird deutlich, dass die Abfassungszeit dieser Studie in ein unglückliches Zeitfenster gefallen ist: Weil die bibelfokussierten Interviews um das Jahr 2013 geführt wurden, kann B. nur sehr wenig über die vermutlich mittlerweile als Standardbibel wenigstens »im Dienst« gebrauchte Lutherrevision 2017 sagen. Das aber würde ich gern lesen!
Kapitel 4 »Liturgische Perspektivierung: das Bibelbuch im evangelischen Gottesdienst« (277–325) ist ein größerer liturgiewissenschaftlicher Exkurs, der sich dem Phänomen des Gebrauchs der Bibel und dessen Aussagekraft anhand ihrer nicht nur liturgischen Verwendung in Kirchgebäuden widmet. B. untersucht hier den nicht eindeutig klassifizierbaren und als liturgischen kaum er­forschten Gegenstand Bibel in den Typen ›Gemeindebibel‹, Lesungsbibel und Kanzelbibel. Ein eigenes, größeres Unterkapitel stellt »Die Altarbibel, ein unterschätztes protestantisches Charakteris-tikum« (299–323) dar, unterschieden vor allem in die »historische« und die ›zeitgenössische‹ Altarbibel. B. geht in diesem Kapitel der Frage Martin Nicols nach, wie es die »›Kirche des Wortes‹ mit dem Gotteswort in Gestalt des Bibelbuches« halte (vgl. 277), stellt die »Unmöglichkeit der fehlenden Altarbibel« (312) wie überhaupt irgendeiner Bibel im Gottesdienst(raum) fest und kann schlussfolgern: »Das Bibelbuch und dessen Gebrauch im evangelischen Gottesdienst sind der Normalfall« (325), es ist nicht weniger denn »Konstitutivum eines evangelischen Gottesdienstraumes« (324).
Kapitel 5 »Praktisch-theologische Sehweisen des Bibelbuches« (327–394), das letzte Kapitel dieser Studie im eigentlichen Sinn vor Kapitel 6 »Schlussbemerkung« (395) und 7 »Anhang« (397–407) mit schematischen Abläufen der Artefaktanalyse und der Interviews sowie einem hilfreichen Glossar, schließt mit zahlreichen Thesen, die sowohl die Studie selbst zusammenfassen als auch darüber hinaus anregende und überraschende Perspektiven generieren: Das Spektrum reicht von »Der Textgebrauch des Bibelbuches ist ein bewusstes Hinaustreten aus dem Alltäglichen« (359) über »Das Bibelbuch in Codexform ist ein ›zeitgemäßer Anachronismus‹« (375) bis zu »Durch die Artefaktorientierung kann ein Anliegen der ›religiösen Volkskunde‹ wieder aufgenommen werden«, nämlich, mit Paul Drews’ Worten von 1901, »›den Stand des religiösen Lebens‹ zu erheben« (393).
So ist B. eine außergewöhnliche empirische Studie gelungen, die die Bibel als Wort und Ding wertschätzt und über ihren Gebrauch den Pfarrberuf wohlwollend-deskriptiv darstellt, obwohl gerade das Wohlwollen methodisch von vornherein ausgeschlossen und auch nicht B.s Absicht war. Das ist, gerade bei den nicht enden wollenden Krisenwahrnehmungen des Pfarrberufs innerhalb gegenwärtiger Praktischer Theologie, für sich schon eine Erfrischung und markiert noch einmal, wie gut ein wissenschaftlich fundierter Perspektivwechsel – etwa der einer Theologin und Buchwissenschaftlerin – der Theologie insgesamt tun kann.