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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

587–589

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sander, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Glaubensräumen nachgehen.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag (Schwabenverlag) 2019. 403 S. = Glaubensräume – Topologische Dogmatik, 1. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-7867-3021-7.

Rezensent:

Henning Theißen

Mit diesem ersten von vier geplanten Bänden eines Gemeinschaftswerkes mit Gregor Maria Hoff führt Hans-Joachim Sander seinen Ansatz der loci alieni theologici fort, zu denen das aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Dogmatik heute rufe. »Topologische Dogmatik« revidiert und erweitert also die üblichen Themenkapitel oder Loci und stützt sich dafür auf Foucaults Konzept der Heterotopien; sie dekonstruiert wie dieses durch die Diskursivierung von Macht leitende Begriffsoppositionen und zielt auf einen Glauben und eine Kirche, an deren Ohnmacht sich die Gewalt totläuft. Dass der Vf. gelegentlich Papst Franziskus konstruktiv mit diesem Glaubens- und Kirchenbegriff in Verbindung bringt, verdient Erwähnung.
Nur an der Oberfläche folgen die vier Kapitel des Buches mit den Themen Schöpfung, Anthropologie, Gnadenlehre und Eschatologie einer klassischen Loci-Methode. Die tatsächliche Vorgehensweise verdeutlicht Kapitel 1. Hier wird der dogmatische Begriff der Schöpfung aus nichts (creatio ex nihilo) als hochscholastischer Machtdiskurs zwischen Laterankatholizismus und Rigoristengruppen (z. B. Katharer) vor- und im Schöpfungsglauben dem ganz anderen Nichts gegenübergestellt, das heute z. B. als Klimawandel sehr real den Planeten bedroht. Auch in den übrigen Kapiteln wirkt der Vf. darauf hin, dogmatische Ausschließlichkeitsansprüche und Letztbegründungen wie den augustinischen Gnadenbegriff (Kapitel 3), aber auch die Eschata Himmel und Hölle (Kapitel 4) entgegen ihrem Selbstverständnis an topologische Relationen – etwa die Anthropologie als Segen und Fluch der Urbanität (Kapitel 2) – zu binden und damit die Gewalt einzudämmen, die von jenen dogmatischen Ansprüchen ausgeht.
Das ist immer scharf beobachtet, meist zupackend geschrieben, oft bereichernd zu lesen, aber – zumindest für die Teile der Leserschaft, die wie der Rezensent theologisch nicht mit Foucaults me­thodischem Zugriff sozialisiert wurden – theoretisch nicht leicht nachzuvollziehen. Letzteres könnte jedoch die verborgene Stärke eines Buches, in dem zum Glück kein Theoriefuror waltet, darstellen – nämlich bei der Frage, ob die loci alieni überhaupt theoriefähig sind. Vf.s eigene Darstellung liefert gute Argumente dafür, dass die Dogmatik, die sich theoretisch mit der heutigen Weltrelevanz von Glauben und Kirche befasst, der Ergänzung durch die pastorale Konstitution der Kirche in der Welt bedarf (z. B. 163.383), wie es in der katholischen Theologie seit der Konzilserklärung Gaudium et Spes heißt, die der Vf. für »Herders Theologischen Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil« behandelt hat.
Mit der Welt treten dem Glauben und der Kirche »unausweichlich« (das Schlüsselwort der gut 50-seitigen Einleitung) Infragestellungen entgegen. Sie beschränken sich nicht auf christliche Fehlleistungen wie Kreuzzüge einst oder Missbrauchsskandale heute, sondern sind »Menschheits-« (140) und »Lebensprobleme« (139) wie die ökologische Krise oder die Auflösung von privatem und öffentlichem Raum im digitalen Zeitalter der social media. Erstere hebelt die theologisch vertraute Gleichsetzung von Schöpfung mit Natur aus (73–76), während Letztere für die Nutzerinnen und Nutzer der modernen, nie vergessenden elektronischen Speichermöglichkeiten einem apokalyptischen Tribunal gleichkommen kann (326–329). Bei der Identifikation und theologischen Beschreibung dieser und weiterer Probleme sehe ich die größte Stärke des Vf.s; hier bringt er auch in fruchtbar fremder Weise die biblischen Texte ein wie z. B. die Versuchung Jesu (281–310) oder den Topos vom Buch des Lebens (310–318). In erster Linie sind es diese Probleme und nicht unbedingt der dogmatische Entwurf und Ansatz, die die vorliegende Dogmatik topologisch erscheinen lassen. Der Titelbegriff »Glaubensräume« wäre missverstanden, wollte man sich darunter abgegrenzte Bereiche des Glaubens vorstellen; der Vf. zielt vielmehr auf die räumlichen Relationen, in die der Glaube sich verstricken lassen muss. Topologie wird in diesem Sinne besonders in Kapitel 4 von einer Topographie abgegrenzt (262 u. ö.), die Himmel und Hölle, aber auch das Paradies, den Menschen oder die Gnade zu lokalisieren sucht.
Neben aller Beschreibungsleistung steht aber die Frage: Was kann eine topologische Dogmatik zur Lösung der erwähnten Probleme – die nach vorherigen Andeutungen (139 f.) erst im Postskript (375 u. ö.) zum Leitwort wird – überhaupt beitragen? Es fällt auf, dass das dogmatische Kerngeschäft der Gnadenlehre, von der man eine solche Lösung vielleicht am ehesten erwarten würde, in Kapitel 3 entlang der Lehrgeschichte und damit kaum topologisch gearbeitet ist. Auch das Pilgern (225–234), das als Topologie der Gnade erscheint, kam ja nicht nach Art einer Heterotopie von der Welt zur Kirche, sondern umgekehrt. Und der schöpfungsethische Appell, der latent Kapitel 1 und 2 durchzieht, kann kaum als theologischer Problemlösungsansatz gelten, da er angesichts universeller Krisenlagen wie Klimawandel und Überbevölkerung gerade kein theologisches Spezifikum reklamieren kann. So liegt der Mehrwert topologischer Dogmatik womöglich tatsächlich in einer Problem be-schreibung der pastoralen Konstitution von Glauben und Kirche im Verhältnis zur Welt, die beide auf den Boden der Versöhnung stellt und die gängigen Dualismen und Abgrenzungen hinter sich lässt. Der Vf., der als Theologe auch studierter Mathematiker ist, gebraucht zur Veranschaulichung dessen die aus der mathematischen Topologie bekannte Figur des Möbius-Bandes (386). Ein solches erhält man, wenn man einen Papierstreifen in sich »verdrillt« (ein Vorzugswort des Vf.s) zu einem Kreis zusammenklebt, so dass Vorder- und Rückseite des Bandes nicht unterschieden werden können. Analog führt die topologische Dogmatik zur Durchdringung der Kirche mit Welt.
Der Verlag hat auf das Außencover des Buches kein Möbius-Band, sondern ein Unendlichkeitszeichen ∞ gedruckt und damit eine Quelle theologischer Tradition (Mystik) aufgerufen, die im vorliegenden Buch interessanterweise nicht vorkommt (wenn man von dem wohl abgrenzend gemeinten Rekurs auf die weibliche Beginenmystik in der Interpretation von H. Keul absieht: 261). Könnte die Mystik diejenige Tradition sein, die dem Glauben am Ort der loci alieni gerecht wird? Dass das Unendliche die menschliche Endlichkeit begrenzt, ohne dadurch selbst an eine Grenze zu stoßen, wird hier für den Menschen gern durch die Vorstellung vom Glauben als einem leeren Gefäß symbolisiert, das sich von der Unendlichkeit füllen und überfließen lässt. Wie der Vf. in der allerletzten Fußnote seines Buches vermerkt, entspricht dem, was das Möbius-Band im dreidimensionalen Raum ist, in höherdimensionalen Räumen die Kleinsche Flasche (387, Anm. 191), deren Innenraum zugleich der Außenraum ist. In eine solche Flasche – die sich übrigens im dreidimensionalen Raum mittels sogenannter Selbstdurchdringung tatsächlich konstruieren lässt – kann man sinnvoll weder gießen noch aus ihr trinken. Hier ist derselbe Übergang von Innen und Außen am Werk, den der Vf. mit dem aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Verhältnis von Glauben und Kirche zur Welt reklamiert und den Goethe in seinem »Epirrhema« (1819) auf das »Naturbetrachten« so ausgedrückt hat: »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen« (J. W. Goethe, Sämtliche Werke, hrsg. von E. Beutler [Artemis Gedenkausgabe], Zürich 1950, Bd. 1, 519).