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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

638–640

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haacker, Klaus

Titel/Untertitel:

Die Apostelgeschichte.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 463 S. m. 2 Abb. = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 5. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-17-026990-3.

Rezensent:

Rainer Metzner

Der renommierte Neutestamentler Klaus Haacker stellt mit diesem Kommentar dem wissenschaftlichen und dem breiteren Publikum eine Auslegung der Apg zur Verfügung, die auf einer langjährigen Beschäftigung (s. Vorwort) mit dieser »einzigen erhaltenen Quelle über die Anfänge des Christentums« (1) beruht. Das theologische Profil der Kommentarreihe kommt sowohl in der Übersetzung als auch in der Auslegung des Textes voll zur Geltung. In Bezug auf das christlich-jüdische Gespräch grenzt sich H. von judenfeindlichen Aussagen früherer Kommentare ab, die in be­schämender Weise von einem hoffnungslos verstockten Judentum und von einer endgültigen Verwerfung Israels reden (427.432 f. zu 28,23–28). Der geschlechtergerechte Zugang dokumentiert sich zum einen in der Öffnung der griechischen Begriffe für »Männer« und »Brüder«, wenn aus Sicht H.s allgemeiner »Leute«, »Menschen«, »Mitbürger«, »Geschwister« u. Ä. gemeint sind, zum anderen in der Betonung der Rolle der Frauen, die Lukas hervorhebt. Und die sozialgeschichtliche Perspektive zeigt sich vor allem darin, dass H. das frühe Christentum nicht als »Kirche« (im späteren institutionellen Sinn), sondern als Jesusbewegung mit schulischem Charakter (nach Art antiker philosophischer Strömungen) versteht (11 f.127 f.202). Der im Deutschen üblicherweise mit »Kirche« übersetzte Begriff wird daher an verschiedenen Stellen mit »Jesusgemeinde«, »Versammlung«, »Schule Jesu« o. Ä. wiedergegeben. Entsprechend ist die kommentierte Schrift nicht, wie der in der Überschrift be­zeugte Titel »Taten von Aposteln« nahelegt, als Sammlung christlicher Heldenlegenden zu lesen, sondern als Dokument der »Gotteswort-Bewegung« (12), die sich in Apg 1–12; 15,1–35 als innerjüdische und in Apg 13–14; 15,36–28,31 als zu den Enden der Erde geöffnete Jesusbewegung zu erkennen gibt.
Der Kommentar enthält ein persönliches Vorwort, eine Einleitung, eine in 14 Teile untergliederte Auslegung, ein Literaturverzeichnis und ein Register über Personen, Orte, Sachen, griechische Begriffe und Quellen. Die relativ knapp gehaltene Einleitung (11–23) geht nicht nur auf klassische Einleitungsfragen ein, sondern legt auch Rechenschaft ab über die von H. gewählte Übersetzung und die Auseinandersetzung mit anderen Auslegungen der Apg. Die Übersetzung, die auch abweichende Lesarten des Codex Bezae aufführt, verzeichnet dort Korrekturen, wo aus Sicht H.s die Lutherbibel oder die Einheitsübersetzung fehlerhaft sind. Sie verzichtet auf die Verwendung kirchlicher Sondersprache zugunsten der heute gebräuchlichen Alltagssprache. Hermeneutisch lässt sich H. von W. von Humboldt leiten, wonach es nicht ratsam ist, den überlieferten Text in der Übersetzung nur sprachlich nachzuahmen, sondern ihn an den modernen Leser oft unter »Abweichung von der Treue« anzupassen (18). Das führt zu interessanten, bisweilen ungewöhnlichen Übertragungen wie »Phantom« (15,20; 17,16), »Intellektuelle« und »Kulturbanause« (17,18), »Bleichgesicht« (23,3) und »Eingeborene« (28,2). Die Auseinandersetzung mit anderen Auslegungen bezieht sich vor allem »auf die Korrektur antijüdischer Traditionen und Fehlurteile« in früheren Kommentaren (22). Zudem zieht H. wegen der auferlegten Beschränkung des Manuskriptes auf einen Band vorzugsweise deutschsprachige Publikationen heran, die den Lesern und Leserinnen dieses Kommentares leichter zugänglich sind. Mit Blick auf ein breiteres Publikum werden griechische und hebräische Begriffe in deutscher Umschrift und wichtige antike Quellen auf Deutsch wiedergegeben.
Die Einleitung trifft gewisse Grundentscheidungen, die in der Auslegung verifiziert werden. H. versteht die Apg als ein im frühen Christentum einmaliges literarisches Werk, das zeitgenössische Berichte über die ersten Jahrzehnte der Kirchengeschichte liefert. Ihr Autor (»Lukas« ist Chiffre für den Verfasser) ist vermutlich ein zu den »Hellenisten« (8,1; 11,19–21) gehörender Proselyt, der sich als Glied einer Gemeinschaft sieht, »die das Erzählte erlebt hat oder davon betroffen war« (13). Er ist ein literarisch gebildeter Schriftsteller, der seine Quellen kritisch prüft und nicht nur für Gemeindeglieder schreibt, sondern »interessierten Kreisen genauere Informationen über die Bewegung, der er angehört« verspricht (15). Dabei sollen auch inzwischen aufgekommene Vor- und Fehlurteile über die Jesusbewegung überwunden werden. Der Schluss über die ungehinderte Predigttätigkeit des Paulus (28,30–31) »plädiert für weitere Toleranz gegenüber der Jesusbewegung« (434), und die Widmung des lukanischen Doppelwerkes an den Würdenträger Theophilus hat den Zweck, dass dieser »sich für die Beachtung und Verbreitung des betreffenden Buches einsetzen« soll (15). Über die Zeit der Abfassung gibt es keine konkreten Angaben, da eine annähernd gesicherte Datierung des Werkes aus H.s Sicht nicht möglich ist. (Terminus a quo ist die Romreise des Paulus um 59 n. Chr. Setzt 27,24 eine Begegnung mit dem Kaiser Nero voraus?)
Der Hauptteil der Auslegung wartet mit interessanten Überschriften zu den einzelnen Blöcken und Textabschnitten auf, die die Leser und Leserinnen gespannt machen auf das, was folgt (z. B. 2,1–13: Eine geistliche Überschwemmung; 11,1–18: Ein Missionar an der »Heimatfront«; 13,1–3: Aufbruch zu neuen Ufern; 20,7–12: Glück gehabt!; 28,30–31: Paulus im Wartestand – nicht im Ruhestand!). Sie dokumentieren die auch in der Auslegung erkennbare lesefreundliche Auslegung H.s, die sich einem breiteren Publikum öffnet, ohne auf wissenschaftliche Genauigkeit zu verzichten. Die Auslegung zeigt auf, wie sich die Jesusbewegung in Erfolgen, Konflikten und Krisen von der Zeit des Weggangs Jesu (1,1–26: »Der Meister geht – sein Auftrag bleibt«) bis zum paulinischen Wirken in Rom (28,17–31: »Erste Schritte in Rom – Ende offen!«) entwickelt hat. Der Schluss der Apostelgeschichte ist offen, dennoch schulden wir nach H. »dem Lukas (oder ›Lukas‹) großen Dank und Respekt vor seiner Arbeit« (435).
Die Kommentierung der Apg ist weitgehend fließend. Bisweilen werden kleinere und gelegentlich auch größere Exkurse eingestreut, die dogmengeschichtliche und gegenwartsbezogene Auslegungsfragen aufgreifen. Zu ihnen gehören der sich in der Alten Kirche entwickelnde Streit um die Präexistenz und »göttliche Natur« Jesu (66 f.), die Frage, ob Jesus Christus als Messias Israels zu verstehen ist (83 f.), die an 4,12 (»kein anderer Name«) anknüpfende Behauptung der »Absolutheit des Christentums« (94 f.), das Verhältnis Apg 15/Gal 2,1–10 (266–268), Probleme der galatischen Reiseroute des Paulus (274), die Frage einer »natürlichen Theologie« im Munde des Paulus (304 f.), die Bedeutung der Gallio-Episode für die neutestamentliche Chronologie (311 f.) u. a. Die Exkurse verdeutlichen, dass die Apg für das Verständnis des frühen Christentums und wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung ist (vgl. auch die Gedanken zur Rezeption von »Christi Himmelfahrt« im heutigen Evangelischen Gesangbuch, 37). Erhellend ist zudem die Auswertung nichtchristlicher antiker Quellen, die über zeitgenössische Personen und Ereignisse berichten (Judas der Galiläer, Agrippa I., Claudiusedikt, Gallio, Felix, Festus, Agrippa II. u. a.). Bisweilen geht H. eigene Wege, wenn er z. B. den in 5,36 genannten Theudas nicht wie üblich mit dem bei Josephus erwähnten Aufrührer gleichen Namens, sondern mit dem zu seiner Zeit umstrittenen römischen Rabbi Todos identifiziert (123).
Summa summarum ist dieser neue Kommentar zur Apg sehr zu empfehlen. Er bietet nicht nur für Fachtheologen, sondern auch für interessierte Laien eine kompetente, innovative, gegenwartsbezogene und gut lesbare Auslegung, die ihren festen Platz in der Reihe anerkannter Kommentare zur Apg gewinnen wird.