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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

686–688

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Dynamik des Glaubens (Dynamics of Faith). Neu übers., eingel. u. m. e. Kommentar versehen v. W. Schüßler.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XII, 201 S. = de Gruyter Texte. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-060993-6.

Rezensent:

Stefan S. Jäger

Nachdem Christian Danz 2015 Tillichs wirkungsgeschichtlich bedeutende Schrift über den Glauben von 1952 »Der Mut zum Sein« (The Courage to Be) in der Reihe De Gruyter Texte neu herausgegeben und mit einer werkgeschichtlichen Deutung versehen hat, folgt mit dem vorliegenden Band die zweite wesentliche Veröffentlichung Tillichs über den Glauben aus dem Jahr 1957 in einer neuen Edition von Werner Schüssler. Beide Ausgaben dieser Reihe unterscheiden sich in Ansatz und Ausstattung. Schüssler, Ordinarius für Philosophie an der katholischen Theologischen Fakultät Trier und wohl einer der besten Kenner von Tillichs Werk, hat es in textkritischer Arbeit unternommen, einen neuen, möglichst authentischen Text aus den englischsprachigen Originalen (handschriftliches Manuskript und Typoskript der englischsprachigen Erstveröffentlichung aus dem Tillich-Archiv in Cambridge/Mass.) zu erstellen und diesen neu übersetzt. Der textkritische Apparat umfasst sieben Druckseiten (98–104) und dokumentiert 140 (!) Korrekturen – in der Regel nach dem handschriftlichen Manuskript. Neben dem Haupttext (13–97) enthält der Band eine Einführung in Tillichs Schrift (1–10) und einen Kommentar zu jedem Abschnitt (107–190). Das Literaturverzeichnis ist begrenzt auf Referenzen zu Bibliographien und Einführungen (in sieben der neun genannten Titel zeichnet Schüssler als Verfasser oder Mitverfasser). Die be­nutzte Sekundärliteratur ist auf ein Minimum beschränkt und wird in den Fußnoten der Kommentierung verzeichnet. Dem Band sind eine Zeittafel zu Leben und Werk Tillichs sowie ein kurzes, auf die im Haupttext erwähnten Personen bezogenes, und ein ausführlicheres Sachregister beigegeben.
Die Übersetzung beruht auf der Rekonstruktion einer Art »Urtext«, der sich vor allem auf das handschriftliche Manuskript gründet. Die Berechtigung für den Vorzug dieses Manuskripts wird mit der gewagten Hypothese begründet, dass die Aussage in der Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung der Ullstein-Ausgabe (1961, 8), dass diese »von dem Verfasser selbst durchgesehen und stark verändert worden« ist (sprich: Tillichs letzter Hand), unzutreffend sei (5). Das mag vielleicht so sein, führt aber zu zahlreichen inhaltlichen Korrekturen, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. Zwei Beispiele, aus Abs. 81 r-r und 108 l-l, zeigen, dass bereits die Ullstein-Ausgabe im Unterschied zur englischsprachigen Ausgabe und der Übersetzung in GW VIII gelegentlich, aber nicht durchgängig, auch im Sinne des handschriftlichen Manuskriptes korrigiert wurde. Auch offensichtliche Fehler wie in Abs. 137 j-j wurden bereits in der Übersetzung in GW VIII und der Ullstein-Ausgabe korrigiert. Eine Kollationierung der Fassungen mit der Ullstein-Ausgabe hätte sich sicher gelohnt (anders Schüssler: 8, Anm. 18).
Ein prägnantes Übersetzungsbeispiel soll genügen, da es Tillichs berühmte und viel behandelte Glaubensdefinition betrifft. Lautet sie in der bisherigen Übersetzung in GW und der Ullstein-Ausgabe »Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht« (ultimate concern), so findet sich hier im Unterschied zum englischen Text die Erweiterung um den Begriff »Ergriffensein«. Da dieser aber vom englischen Text noch nicht zur Verfügung steht, wird »ultimate concern« als »Kurzform« von Schüssler mit »letztgültiges Ergriffensein« wiedergegeben. »Ergriffensein« ist jedoch etwas anderes als »concern«. Selbst im englischen Text unterschied Tillich zwischen »being grasped« und »concerned« (z. B. Abs. 45; 80; 82; 95; 100). In Abs. 123, zweiter Satz, wird sogar concern/ed einmal mit »Ergriffensein« und einmal mit »Anliegen« inkonsistent übersetzt.
Aus den genannten Gründen ist nach wie vor eher die Ullstein-Ausgabe als »ultimate/letztgültiger« Text zu bevorzugen. Dennoch ist die Neuausgabe hilfreich für die Erschließung des handschriftlichen Manuskriptes und die Korrektur einiger weniger Fehler, die sich eingeschlichen haben. Sie hätte für wissenschaftliche Arbeit noch an Nutzwert gewonnen, wenn diese Textfassung im Original mit publiziert worden wäre. Dann könnte man darüber hinaus die Übersetzung ins Deutsche besser nachverfolgen und hätte einen zitierfähigen Text. Zumindest in Abs. 85 wird ein ganzer Abschnitt aus dem handschriftlichen Manuskript (gegen das Typoskript) eingefügt und in der Anmerkung auf Englisch zitiert. Man wird zwar nicht sagen können, dass nun ein Standardtext vorliegt, der allein herangezogen werden sollte. Vielmehr bietet er einen zusätzlichen Text, der die Diskussion um diese wichtige Schrift bereichern kann.
Der Kommentarteil ist gut lesbar und changiert zwischen Paraphrase, theologie- und philosophiegeschichtlichen Hintergrundinformationen und gelegentlichen Aktualisierungen. Dass Schüssler die Schrift werkimmanent interpretiert, ist ein Grundprinzip der Kommentierung. Dabei geht er von der Voraussetzung aus, dass es zwar Entwicklungen, aber keinen Bruch in Tillichs Denken gibt. Dieser These wurde auch widersprochen durch die vieldiskutierte Annahme, dass Tillich nach seiner ontologischen Phase in Deutschland eine existenzialistische bzw. bewusstseinsphilosophische Kehre vollzogen habe. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Kontinuität in Tillichs Werk besteht aber vor allem in der apologetischen Intention, die auch in »Dynamik des Glaubens« tragend ist. Leider kommt dieser Aspekt in der Kommentierung nicht zum Ausdruck. Übrigens wird Glaube als Ergriffensein im Unterschied zu einem »Fürwahrhalten« bereits von Tillichs Marburger Vorgänger Wilhelm Herrmann gebraucht, der nicht nur hier als Quelle für Tillichs Werkdeutung hinzuzuziehen wäre. Außen vor bleibt auch Luthers berühmte Auslegung zum 1. Gebot im Großen Katechismus mit seiner Korrelation von Gott (als das, »woran du dein Herz hängst«) und Glaube, deren Grundstruktur Tillichs Ausführungen entsprechen. Analoges gilt für das Verhältnis von Glaube, Liebe und Tun in Abschnitt 151. Das Gespräch mit der breiten Tillich-Forschung (gerade auch zum Glaubensbegriff) hätte dem Band sicher gut angestanden.
Alles in allem ist dem Verlag, der das Werk Paul Tillichs und die Tillich-Forschung beheimatet und fördert, und insbesondere dem Übersetzer und Kommentator dafür zu danken, dass diese kleine, aber wichtige Schrift zum Glaubensverständnis in einer leicht zugänglichen Ausgabe einem großen Leserkreis neu erschlossen wurde. Werner Schüssler endet seine Einführung mit dem Ziel und der Hoffnung, die Tillich selbst im Blick auf seine Schrift formuliert hat: »einige Leser von der verborgenen Macht des Glaubens in ihnen selbst und von der unendlichen Bedeutung dessen, worauf sich der Glauben bezieht, zu überzeugen«. (10) Dem ist nichts hinzuzufügen.