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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

745–747

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gallaher, Brandon, and Paul Ladouceur [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Patristic Witness of Georges Florovsky. Essential Theological Writings.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2019. 392 S. Geb. US$ 115,00. ISBN 978-0-567-54018-8.

Rezensent:

Reinhard Thöle

In diesem Buch geht es um viel mehr, als sein Titel auf den ersten Blick vermuten lässt. Es geht auch um mehr als um eine theologiegeschichtliche Einordnung eines der einflussreichsten orthodoxen Theologen des 20. Jh.s. Es geht darum, die Anfänge und die Blüte, vielleicht ja sogar den Siegeszug eines theologischen Phänomens zu entschlüsseln, für das Georgij Florovskij den Begriff »Neopatristische Synthese« gefunden hat. Die Anfänge dieser theologisch-kirchlichen Bewegung finden sich auf dem »Kongress orthodoxer Theologen«, der vom 29. November bis 6. Dezember 1936 in Athen stattfand und auf dem Erzpriester Georgij Florovskij seine Hauptthesen vorstellte. Unterstützt wurde er dabei durch die Ausführungen des griechischen Kanonisten Hamilka Alvisatos. Als wäre der Nerv orthodoxer theologischer Identität getroffen, wurden die Ansätze dieser »Neopatristischen Synthese« in der östlichen und orientalischen Orthodoxie rezipiert und wie ein erleichtertes Aufatmen weitergetragen. Schon die dem Buch vom Verlag vorangestellten Empfehlungen (»Blurbs«) namhafter theologischer Persönlichkeiten weisen darauf hin. Metropolit Joannis Zizioulas spricht von der »Intuition einer theologischen Vision«, die zugleich mit einer »kreativen Synthese der patristischen Tradition« einhergeht. Rowan Williams sieht das Buch als ein Lehr- und Studienbuch für eine theologische Erneuerung quer durch alle Kirchen. Für den Dominikaner Aidon Nichols verschafft das Buch Zugänge zum Geist »russischer religiöser Renaissance«.
Georgij V. Florovskij wurde 1893 in Odessa als Sohn einer Pries-terfamilie geboren. Die Revolution von 1917 zwang die Familie ins Exil. 1925 wurde er zum Professor für Patristik an dem Pariser Institut St. Serge berufen und 1932 zum Priester geweiht. 1949 übernahm er das Dekansamt an St. Vladimirs in New York, das er 1955 niederlegen musste, und lehrte dann an den Universitäten Harvard und Princeton. Er verstarb 1979.
Das Buch erfüllt die Aufgabe der Entschlüsselung des theologischen Phänomens dadurch, dass es verschiedene, sich gegenseitig ergänzende Ebenen bereithält. Bei der Durcharbeitung fühlt man sich ermutigt, zwischen den Ebenen zu springen, um die Ansätze Florovskijs tiefer zu verstehen. Im Mittelpunkt steht eine Auswahl von Texten des Theologen, die aus den russischen, französischen, deutschen und schwedischen Originalen übersetzt wurden. Diese Texte wurden dann nach den Prinzipien einer Dogmatik geordnet. Dem Teil über Schöpfung, Inkarnation und Erlösung folgt der Abschnitt über das Wesen der Theologie, der Schlussteil beschäftigt sich mit Ekklesiologie und Ökumene. So wird das theologische Profil Florovskijs lebendig, das er zwar in dieser Form so selbst nicht geschrieben hat, aber natürlich selbst so vertreten hat. Auf einer zweiten Ebene leistet die Einführung der Herausgeber Brandon Gallaher und Paul Ladouceur die Verbindung von Biographie Florovskijs und der Systematisierung seiner Theologie. Diese Systematisierung enthält die Auseinandersetzung mit dem zeitgeschicht- lichen theologischen Umfeld und bietet einen interessanten Überblick über theologische Diskussionen innerhalb der Orthodoxie des 20. Jh.s. Auf einer dritten Ebene ordnet Metropolit Kallistos Ware in einem kurzen, aber präzisen Vorwort zum Lehrbuch geistlich und emotional die Bedeutung Florovskijs und der »Neopatristischen Synthese« ein. Das Buch schließt mit einem Nachwort, das Georgij Florovskij selbst noch einmal in einer Predigt zu Wort kommen lässt, die er in seiner Zeit als Dekan am »St. Vladimirs Orthodox Theological Seminary« gehalten hat und die 1953 veröffentlicht wurde. Ein sehr gründlich erarbeiteter achtzehnseitiger Index rundet das Buch ab und macht es für Lehrveranstaltungen sinnvoll.
Die Theologie der »Neopatristischen Synthese« versteht sich nicht als ein Formalprinzip oder eine Zitatensammlung aus Kirchenväterschriften, die in einer Theologie der Wiederholung endet, sondern ist im Sinn, in der Vision und im Lebensentwurf der Kirchenväter begründet. »Es reicht nicht, Kirchenväter nur zu zitieren. Den Vätern zu folgen, heißt, das, was sie auf dem Herzen haben, ihr ›phronema‹ zu erlangen.« Die Rolle der Tradition nach orthodoxem Verständnis ist nicht eine konservative Schutzfunktion, sondern Wachstum und Erneuerung, die vom Heiligen Geist begleitet werden. Tradition ist kein historisches, sondern ein charismatisches Prinzip. Fast dialektisch zu verstehen ist Tradition »alt und mo­dern«, »Ewigkeit und Zeit«, »Mystik und Entwicklung«, also lebendige Tradition. Die von Florovskij ähnlich verwendeten Be­griffe »Christlicher Hellenismus« oder »Hellenismus unter dem Kreuz« bezeichnen kein geographisches oder kulturelles Prinzip, sondern ein Qualitätsmerkmal westlicher und östlicher Kirchenväter. Die Betonung der geschichtlichen Offenbarung, der Schöpfungswirklichkeit, der Individualität und Freiheit der Person sind ihre Merkmale und machen sie damit zu Kirchenvätern der una sancta. Insgesamt kann ein solcher Ansatz jedoch nur aus einer tiefen got-tesdienstlichen Erfahrung erwachsen, die das Kontinuum ist. Theologie und Gebet, Dogma und gottesdienstliche Feier müssen untrennbar miteinander verbunden sein. So prägt Florovskij den Begriff von der »Eucharistischen Erfahrung«. »Theologie habe ich nicht in der Schule gelernt, sondern in der Kirche als Betender.«
Die theologische Epoche, die von der »Neopatristischen Synthese« abzulösen ist, wird von Florovskij mit dem Gegenbegriff einer »Pseudomorphose« der Orthodoxie gekennzeichnet. Diese musste zu einem Schisma zwischen theologischem Denken und der orthodoxen kirchlichen Glaubenserfahrung führen. Diese »lateinische Gefangenschaft« ist in die Orthodoxie eingedrungen und hat dazu geführt, dass sie mit fremden Kategorien und Begriffen etwas ausdrücken und verteidigen wollte und damit ein Gesicht gezeigt hatte, das der Orthodoxie von ihrem Wesen her fremd war, nämlich das der Scholastik. Lehrer und Studenten »beteten noch auf slawisch aber theologisierten bereits auf lateinisch.«
Georgij Florovskij nahm von 1948 bis 1968 an den Vollversammlungen des ÖRK teil und wurde dabei mit Hauptvorträgen betraut. Er war Mitglied der Kommission »Faith and Order« und an der Ausarbeitung wesentlicher Dokumente mitbeteiligt. Für ihn konnte die geoffenbarte Kirche nur eine Kirche sein. Dass Spaltungen in der Kirche dazu geführt haben, dass es anscheinend Christen und Kirchen außerhalb der einen Kirche gibt, sah er als eine absurde Situation an. Er betonte, dass die Grenzen der Kirche nicht identisch seien mit den kanonischen Grenzen der Orthodoxie. Auch außerhalb der kanonischen Grenzen gebe es kirchliche Elemente, die sich dadurch auszeichnen würden, dass sie in einer inneren Beziehung zur Orthodoxie stehen. Diese Elementen-Ekklesiologie mache den Dialog zwischen den Kirchen dringend nötig. Außerdem seien die Elemente nicht Besitztümer oder Definitionsmodelle der Einzelnen, sondern dem dynamischen Verwandlungsprozess einer Theosis unterworfen. Dieser ökumenische Ansatz Florovskijs zur Ökumene hatte Auswirkungen bis hin in das Dokument »Be­ziehungen der orthodoxen Kirche zur übrigen christlichen Welt« der »Großen und Heiligen Synode« auf Kreta 2017.
Entscheidend bleibt für ihn der Ansatz der Theosis-Theologie, die er als einen großen Ansatz der Lebensbejahung sieht. »Was soll aus der Geschichte in die Ewigkeit gelangen? Die menschliche Person in all ihren Beziehungen wie Freundschaft und Liebe. Und in diesem Sinne auch die Kultur, denn eine Person ohne ihr eigenes kulturelles Angesicht würde bloß ein Fragment der Menschlichkeit bleiben.« Die Herausgeber sehen in den Ansätzen Georgij Florovskijs den Grund gelegt für eine kreative postmoderne orthodoxe Theologie der Zukunft. Die von ihnen verantwortete Anthologie leistet dazu bereits einen Beitrag.