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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1050–1052

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Anter, Andreas, u. Verena Frick[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Politik, Recht und Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 246 S. = POLITIKA, 18. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-156322-5.

Rezensent:

Hendrik Munsonius

Der Band geht zurück auf eine Tagung, die unter gleichem Titel im September 2017 in Erfurt von der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft durchgeführt worden ist. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von Politik, Recht und Religion aus der Perspektive der Politik- und der Rechtswissenschaft sowie der Theologie zu betrachten. Dabei geht es zum einen um das Verhältnis zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften, zum anderen um die (quasi-)religiöse Valenz des Rechts und schließlich um die Frage, wie dies Gegenstand von Politik sein kann. Die zwölf Beiträge sind in fünf Teile gegliedert.
Der erste Teil »Religion, Recht und Politik im Konflikt« ist von grundsätzlichem Charakter. Nach einer Einführung der beiden Herausgeber widmet sich Stefan Korioth der Frage: »Wie lassen sich religionspolitische Konflikte rechtlich regeln?« Nach einer historischen Betrachtung von »Konfliktkonjunkturen« seit der Reformation widmet er sich detailliert fünf »Konfliktkonstellationen« in individueller, religionsgemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass das religionsrechtliche System des Grundgesetzes immer noch zukunftsfähig ist. Ino Augsberg widmet sich der Frage, ob »religiöse Identität ein Problem für das Recht« ist, und kommt anhand der Analyse der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch der Referendarin zu dem Ergebnis, dass problematisch vor alle die mangelnde Differenzierung zwischen der individuellen und der kollektiven Dimension religiöser Identitätsbildung ist.
Im zweiten Teil »Recht der Religion, Religion des Rechts« erörtern zunächst Christian Waldhoff und Holger Grefrath die Frage: »Gehört Gott in die Verfassung?« und interpretieren die nominatio dei der Präambel im Anschluss an Horst Dreier als Demutsformel, die einem positivistischen Rechtsverständnis nicht entgegensteht, sondern vielmehr entspricht, indem die Verfassung so selbst die Differenz zwischen Recht und Religion markiert. Christoph Enders widmet sich dem »Bekenntnis zur Menschenwürde als Glaubensartikel des Grundgesetzes« und stellt unter Bezug auf Martin Luthers Behauptung des Gewissens und auf die Philosophie Immanuel Kants den Zusammenhang zwischen innerlich begründeter Würde und äußerlichen Rechten zum Schutz dieser Würde heraus. Verena Frick problematisiert eine »Sakralisierung des Rechts« in Konzepten des Global Constitutionalism. Dabei meint Sakralisierung nicht eine originär religiöse Aufladung, sondern die Behauptung der Unantastbarkeit universaler Gerechtigkeitsprinzipien. Problematisch daran erscheint, dass diese damit dem politischen Diskurs entzogen werden.
Der dritte Teil »Religion und Ordnung« bietet zwei lesenswerte Studien. Oliver W. Lembkcke widmet sich der Unterscheidung von Religion und Politik bei Thomas Hobbes und arbeitet heraus, dass es Hobbes vor allem um den Eigenstand von Politik und Religion geht, die nicht vermengt werden sollen. Mirjam Künkler und Tine Stein bieten einen instruktiven Überblick über Entwicklungen und Akzente im politischen Denken Ernst-Wolfgang Böckenfördes, dessen Diktum von den Voraussetzungen des freiheitlichen Staats, die dieser nicht garantieren kann, aus den Debatten zum Themenkreis des Bandes nicht mehr wegzudenken ist.
Im vierten Teil wird »Die Religion in der Rechtsprechung« des Bundesverfassungsgerichts (Kathrin Groh) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EMGR) (Sebastian Wolf) untersucht. Groh sucht herauszustellen, welche Kontinuität das Bundesverfassungsgericht im Gegensatz zu Forderungen der Wissenschaft, das Religionsrecht angesichts zunehmender Pluralität neu zu formatieren, gewahrt hat. Dabei scheinen mir aber sowohl die Evolution in der Rechtsprechung wie auch die unterschiedlichen Tendenzen in der Wissenschaft zu wenig deutlich zu werden. Wolf widmet sich in einer »Oberflächenanalyse« der Frage, ob der EGMR einem pro-christlichen oder Gender-Bias unterliegt, was verneint wird, und welche Bedeutung die politische Salienz der Fälle in den betroffenen Staaten, die unterschiedlich zu werten ist, bzw. die Pfadabhängigkeit der eigenen Rechtsprechung hat, der hohe Be­deutung zugemessen wird.
Der fünfte Teil »Mythos staatliche Neutralität?« beginnt mit einer theologischen Studie zu »Trauerfeiern nach Großkatastrophen« von Benedikt Kranemann, die für die kirchlichen und staatlichen Akteure diffizile Herausforderungen darstellen, um das Po­tential der Religion unter Wahrung staatlicher Neutralität zur Geltung zu bringen. Der Band schließt mit einem instruktiven Beitrag von Manfred Baldus über »Die religiös weltanschauliche Neutralität des Staates«, der eher einführenden Charakter hat und an dieser Stelle etwas überraschend kommt.
So lesenswert alle diese Beiträge sind, scheinen an diesem Buch auch gewisse Probleme der Gattung »Tagungsband« auf. So stehen allgemeinere und systematische Beiträge neben solchen, die einen stärker exemplarischen Charakter haben und damit etwas isoliert wirken. Beispielsweise wäre es reizvoll, neben den Studien zu Hobbes und Böckenförde weitere Untersuchungen der gleichen Fragestellung im Hinblick auf andere Autoren zu lesen, doch das hätte einen anderen Tagungszuschnitt bedeutet. Auch fällt auf, dass von den drei angesprochenen Wissenschaften die Theologie mit nur einem Vertreter eklatant unterrepräsentiert ist. Zudem stellt das Christentum (aus historischen Gründen verständlich) den (still schweigend vorausgesetzten) Prototypen vorhandener Religion dar; der Islam erscheint vor allem als Herausforderung des geltenden religionsrechtlichen Modells. Hier hätte möglicherweise religionswissenschaftliche Expertise den Blick weiten und schärfen können.
Gleichwohl bietet der Band insgesamt eine lohnende Lektüre, die dazu anregt, die angesprochenen Themen in der einen oder anderen Richtung zu vertiefen. Die den Beiträgen beigegebenen Literaturhinweise bieten dazu eine gute Hilfe. An der Aktualität und Bedeutung des Themas dürfte ohnehin kein Zweifel bestehen.