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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

70–72

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bertoglio, Chiara

Titel/Untertitel:

Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XXXV, 836 S. Geb. EUR 89,95. ISBN 9783110518054.

Rezensent:

Konrad Klek

In den Publikationen zum Reformationsjubiläum 2017 im deutschen Sprachraum wurde die Rolle der Musik, abgesehen von drei Lutherlied-Editionen, kaum berührt. Dem steht dieses englischsprachige Opus magnum der jungen Italienerin Chiara Bertoglio gegenüber, die in vorbildlich weitem Horizont – musikologisch, theologisch, philosophisch, kultur- und sozialgeschichtlich – souverän agiert und die spezifische Rolle von geistlichem Lied und Kirchenmusik bei den Entwicklungen im ganzen 16. Jh. (also nicht nur bis zu Luthers Tod) und in ganz Europa im Kontext der verschiedenen konfessionellen Prägungen darlegt.
Anders als bei den meisten bisherigen Arbeiten zur Musik der Reformationszeit, die jeweils einen konfessionellen Bereich im Blick haben, stellt sich B. dem Anspruch einer Gesamtschau und löst diesen auf fast 700 Seiten Darstellung auch beeindruckend ein. Nicht nur Luthers Wittenberg, Zwinglis Zürich, Calvins Genf und deren Ausstrahlung, auch (mit Recht betont) Straßburg, die Böhmischen Brüder, England, Schottland, Spanien sind erfasst. Mit dem Tridentinum und den post-tridentinischen Entwicklungen steht nicht nur das spätere 16. Jh., sondern namentlich Italien – mit verschiedenen Zentren! – im Fokus. Dieser gesamteuropäische Horizont mit seiner spezifischen Diversität sollte fortan nicht mehr unterlaufen werden.
Der Buchtitel »Reforming Music« ist tiefsinnig dreidimensional gemeint: Musik der Reformationszeit war gleichzeitig »music reformed, reforming music and the reform of music« (Umschlagtext). Solche »Musikreform« ist keine exklusiv protestantische An­gelegenheit. Sie beginnt in der Kirche weit vor Luther mit vielerlei kritischen Stimmen zum Singen (z. B. schon Augustin) oder zur kirchlichen Musikpraxis (Dauerthema Polyphonie) und mit neuem geistlichen Singen (im Einflussbereich des Florentiner Reformers Savonarola). Durch das ganze Buch zieht sich als roter Faden, wie zeitgenössische humanistische Interessen mit der Forderung nach Textverständlichkeit bei der Kirchenmusik korrelieren, un­abhängig von konfessioneller Zuspitzung. Und was nach Luther und Calvin von römischer Seite aus unternommen wird, kann nicht nur unter dem Label »Gegenreformation« abgehandelt werden. Das spezielle Interesse B.s liegt darin aufzuzeigen, wie »Mu­sikreform« Anliegen aller war und die Stoßrichtungen gar nicht so divergierend waren, weshalb es ja auch weiter Überschneidungen i m Musikrepertoire zwischen (bestimmten) Konfessionen gab. Dem Phänomen des Parodierens – also Übernahme mit signifikanten (Text-)Modifizierungen – widmet sie sich mehrfach. Ebenso wird akzentuiert, dass es neben der liturgiebezo-genen (und so konfessionell determinierten) Musik auch einen offeneren, fluiden Bereich der Musik zur Erbauung in privaten Kontexten gab. Die Gesamtschau will also auch dezidiert zusammensehen, was nicht strikt getrennt war. Geradezu genüsslich präsentiert B. im­mer wieder Beispiele dafür, wie das an sich fluide Phänomen Mu­sik zu Praktiken führt, die der Dogmatik eigentlich entgegenste hen. Bezeichnenderweise ist »notwithstanding this« eine fast pe­ne­trant häufig benutzte Wendung im Buch (gefolgt von »though«).
In ihrer Gesamtschau rezipiert die ungemein belesene Autorin vorwiegend englischsprachige Studien der jüngeren Zeit, die bei der Erschließung und Deutung (gerade auch deutscher) Quellen oft tatsächlich ergiebiger sind als deutsche Publikationen. Dass hier ausgerechnet auf den 60er-Jahre-Klassiker »Geschichte der evangelischen Kirchenmusik« von Fr. Blume häufig verwiesen wird, liegt wohl daran, dass es davon eine englische Version gibt. Leider lag die vor wenigen Jahren abgeschlossene, zehnbändige Enzyklopädie der Kirchenmusik des Laaber-Verlags, ein dezidiert ökumenisches Projekt im Sinne B.s, nicht auf ihrem Schreibtisch.
Die vielen zitierten Quellentexte sind nur in englischer Übersetzung wiedergegeben, was hinsichtlich der Platzökonomie plausibel ist, aber doch ein erhebliches wissenschaftliches Manko darstellt. Nicht nur die einstige europäische Wissenschaftssprache Latein, auch O-Ton Luther, Bucer, Calvin etc. sind im heutigen europäischen Diskurs unersetzlich. Mit den Quellentexten im Original, beigefügt in einer CD-ROM (oder per Link im Internet ab-rufbar), wäre das Buch ein fantastisches Kompendium für weitere Detailforschung, wozu B. ausdrücklich ermuntert.
Als Gesamtdarstellung verzichtet das Buch auch gänzlich auf Notenbeispiele sowie Liedtexte, was bei der Leserschaft eine breite musikologische Bildung und Liedkenntnis in Anspruch nimmt, wie sie gerade bei Vertretern anderer Fachdisziplinen, für die dieses Buch so spannend sein könnte, kaum vorausgesetzt werden kann. Auch diesbezüglich wäre eine CD-Beilage mit Hörbeispielen oder ein Internet-Depot weiterführend. Ebenso ist das Fehlen bildlicher Darstellungen ein Manko. Das für die Reformationszeit essentielle, neue Medium Gesangbuchdruck etwa kann ohne Faksimilia nur defizitär erfasst werden. (So wird denn auch auf S. 605 f. verschwiegen, dass das katholische Gesangbuch von Leisentrit 1567 sein lutherisches Vorbild Babst 1545 auch hinsichtlich der optischen Aufmachung »parodiert«.)
Die vielleicht spannendste Passage des ganzen Buches bezieht sich signifikant auf die einzige bildliche Darstellung, nämlich das Umschlagbild, wo aus Holbeins berühmtem Gemälde »Die Ge­sandten« die dort abgebildeten beiden Notenseiten aus J. Walters »Geistliche[m] Gesangbüchlein« (1524) mit Flöte und Laute wiedergegeben sind. Die Deutung durch B. unter der Überschrift »Flutes, lutes and Luther« (569–571) mit Bezug auf Röm 8,3 f. ist als kleine Spezialstudie ein Highlight des Buches.
Die potentielle Stärke B.s in Spezialstudien zeigt sich auch bei ihrer Untersuchung einzelner musikkritischer Texte italienischer Provenienz, wo sie präzise erhebt, inwieweit die Vorwürfe (wie zumeist angenommen) gegen polyphone Musik als solche gerichtet sind oder nur gegen deren Ausführung (z. B. beim 1549 abgefassten Brief von B. Cirillo, 155–163), ebenso bei der Erörterung, was der oft geäußerte Vorwurf der Laszivität tatsächlich meinen könnte (391–395). Auch in der detaillierten, alle verbreiteten Pauschalitäten zurückweisenden Erfassung der auf dem Tridentiner Konzil verhandelten musikalischen Fragen und Deklarationen liegt eine Stärke des Buches (Kapitel 8).
Der deutsch-evangelische Rezensent registriert dann umso emp­findlicher Verallgemeinerungen sein »Territorium« betreffend: Luthers Liedschaffen (Kapitel 5) lässt sich in seiner formalen wie inhaltlichen Vielschichtigkeit nicht mit den reformatorischen »Sola«-Prinzipien erklären und seine (relativ späte) Propagierung des Volksgesangs mit dem Grundsatz vom Priestertum aller Gläubigen. Hier bleibt für das 500-Jahr-Jubiläum des volkssprachlichen evangelischen Liedes 2023/24 einiges zu präzisieren. Es stellt sich auch die Frage, ob bei der Behandlung des Liedes unter dem Oberbegriff »Musik« wesentliche Dimensionen des Liedes als allgemeines Kommunikationsmedium unterbelichtet bleiben. Der Hia-tus von »Kunstmusik« und Liedgesang wird im Buch geradezu schmerzlich spürbar in der Abfolge von Kapitel 9 – posttridentinische Kunstmusik mit ihren ökumenischen Valenzen – und Kapitel 10 – Lieder als Waffe in den konfessionellen Auseinandersetzungen wie als letztes Zeugnis der Märtyrer auf dem Scheiterhaufen .
Das Schlusskapitel 12 widmet B. der Musikpraxis von Frauen, wie sie in jüngerer Zeit mit Studien zur bescheidenen Quellenlage (auch in einer deutschen Arbeit – L. M. Koldau 2005) erhoben worden ist. Das ist nicht nur unter Gendergesichtspunkten »recht und billig«. Neben der Musikpraxis der Nonnenklöster sind die evangelischen Namen Elisabeth Cruciger (s. EG 67) und Katharina Zell (Straßburger Gesangbucheditorin) der Rede wirklich wert. Die Mutmaßung, dass die Mütter in der Weitergabe des neuen geist-lichen Liedgutes an ihre Kinder allenthalben eine zentrale Rolle spielten, dürfte allerdings die späteren Verhältnisse barocker, häuslicher Innerlichkeitskultur vom 17. ins 16. Jh. zurückspiegeln. Luther jedenfalls adressiert am 24. Januar 1529 seine Predigt-Vermahnung, im häuslichen Bereich mehr für das Lernen der Lieder zu tun, explizit an die Haus-Väter.