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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

687-689

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Aejmelaeus, Anneli, and Tuukka Kauhanen [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Legacy of Barthélemy. 50 Years after Les Devanciers d’Aquila.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 230 S. m. Abb. u. Tab. = De Septuaginta Investigationes, 9. Geb. EUR 130,00. ISBN 9783525540626.

Rezensent:

Eberhard Bons

Der Band umfasst zehn Beiträge in englischer Sprache, die sich al-lesamt textkritischen Fragen des Alten Testaments widmen, die meisten davon den Samuel- und Königsbüchern. Nur ein Artikel be­handelt den Psalter. Die wesentlichen Inhalte der einzelnen Aufsätze werden in der Einführung von Anneli Aejmelaeus und Tukka Kauhanen zusammengefasst. Eine Bibliographie sowie ein Bibelstellenregister beschließen den Band.
Das gemeinsame Thema der Artikel ist das wissenschaftliche Vermächtnis Dominique Barthélemys (1921–2002). Ursprünglich aus Frankreich stammend, hatte Barthélemy, der dem Dominikanerorden angehörte, über 34 Jahre den französischsprachigen Lehrstuhl für Altes Testament an der Universität Freiburg, Schweiz, inne. Bekannt wurde er durch seine textkritischen und textgeschichtlichen Forschungen zum Alten Testament, besonders durch die voluminösen Bände der »Critique textuelle de l’Ancien Testament«, von denen er drei vollenden konnte. Seine Leistungen auf diesem Gebiet fanden jedoch einen ersten Höhepunkt in der Publikation der Monographie Les Devanciers d’Aquila (1963). Auf dieses Werk wird im Titel des zu besprechenden Sammelwerkes Bezug genommen.
Die alttestamentliche Wissenschaft verdankt Barthélemy insofern einen entscheidenden Impuls, als er die Bedeutung der Zwölfprophetenrolle von Naḥal Ḥever für die Textkritik und Textgeschichte erkannte. Diese 1952 in der Nähe des Toten Meeres entdeckte und 1953 von ihm beschriebene Handschrift überliefert einen fragmentarisch erhaltenen griechischen Text des Zwölfprophetenbuchs, der einerseits weitgehend mit dem bekannten Septuaginta-Text übereinstimmt, andererseits aber punktuell von ihm abweicht. Diese Abweichungen lassen sich als Anpassungen an vermutlich gleichzeitig zirkulierende und als verbindlich angesehene protomasoretische Versionen des Bibeltextes erklären. Barthélemy war sich sicher, damit ein bislang fehlendes Element zwischen dem ursprünglichen Septuaginta-Text (»Old Greek«) und seinen bisher bekannten Rezensionen gefunden zu haben, vor allem denjenigen, die mit den Namen Aquilas, Theodotions und Symmachus’ verbunden sind. Mit der Begrifflichkeit des französischen Buchtitels – die »Vorläufer Aquilas« – handelt es sich somit um die anonymen Bearbeiter, die vor Aquila den überkommenen Septuaginta-Text einer ersten uns bekannten Revision unterzogen haben. Aufgrund eines bestimmten sprachlichen Merkmals – die Übersetzung des hebräischen wegam »und auch« durch καί γε – wird diese Rezension mit dem Namen Kaige bezeichnet.
Die Beobachtungen Barthélemys waren nicht nur für die Re­konstruktion der Textgeschichte des Zwölfprophetenbuches wichtig, sondern auch für die Samuel- und Königebücher, die Me­gillot (besonders für das Hohelied, die Klagelieder und das Buch Rut), das Buch Ijob und – in begrenztem Maße – für die Psalmen. Tatsächlich lassen sich diese Bücher – oder bestimmte ihrer griechischen Versionen – den von Barthélemy beschriebenen Initiativen einer Revision des griechischen Bibeltextes zuschreiben.
Für alle inhaltlichen Details muss auf die Artikel selbst verwiesen werden, wovon die meisten textgeschichtliche und textkritische Fragen (besonders Andrés Piquer Otero, Pablo Torijano und Julio Trebolle Barrera) sowie syntaktische Probleme (Raimund Wirth) behandeln. Hervorgehoben seien nur zwei Beiträge, die von übergeordnetem Interesse sind.
Der erste Beitrag (»What Were the Aims of the Palestinian Recension, and What Did They Achieve?«) stammt aus der Feder Adrian Schenkers, Barthélemys Nachfolger an der Universität Freiburg, Schweiz, der auch einige biographische Informationen liefert. Letztere sind wahrscheinlich nur wenigen bekannt. Schenker weist darauf hin, dass die Absicht der – von Barthélemy in Palästina vermuteten – Rezensenten darin lag, den überlieferten griechischen Text der biblischen Bücher an die protomasoretischen Versionen anzupassen. Dies betraf mehrere Ebenen, angefangen von Korrekturen im Detail (z. B. Wortwahl) bis zu Änderungen in der Anordnung von Kapiteln und Büchern (Letzteres im Zwölfprophetenbuch). In zahlreichen Einzelfällen bestätigen die Werke Justins aus dem 2. Jh. n. Chr. die verschiedenen Korrekturen, die zu seiner Zeit bereits vorgenommen worden waren. Diese sind also nicht erst in die Zeit Justins zu datieren, sondern gehen möglicherweise auf die Zeitspanne zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und der Mitte des 2. Jh.s n. Chr. zurück. Wie auch immer, in den jüdischen Gemeinden Pa-lästinas sollten diese Rezensionen mehr und mehr die überlieferte Version der Septuaginta (»Old Greek«) verdrängen. Denn die wurde nicht mehr benötigt, da nunmehr eine dem hebräischen Text näherstehende griechische Version der biblischen Bücher vorlag (21). Letztlich sind aber beide Initiativen denselben Kreisen von Schriftgelehrten zuzuschreiben: die Auswahl von maßgeblichen h ebräischen Bibeltexten, die den Anfang des Prozesses der Stan-dardisierung der hebräischen Bibel bildet, sowie die Anpassung der griechischen Bibeltexte an eben diese protomasoretischen Versionen.
Die an Barthélemy anschließenden Forschungen haben zwar dazu geführt, Varianten im griechischen Bibeltext zu identifizieren und diese in ein Entwicklungsmodell einzuordnen; sie verlassen aber auch das Feld der Textkritik und Textgeschichte. Wie der Artikel von Anneli Aejmelaeus zeigt (»Does God Regret? A Theological Problem that Concerned the Kaige Revisers«), verdanken sich einige Varianten theologischen Debatten, deren Spuren hinter gewissen Korrekturen erkennbar sind. So vermied es die Zwölfprophetenrolle von Nah.al H.ever im Gegensatz zum Septuaginta-Text, von Gottes Reue zu sprechen (Joel 3,9; Jona 3,10). Dieses Phänomen findet sich auch in einem Text wie 1Sam 15, dessen griechische Version nicht der Kaige-Rezension zuzuschreiben ist und wo davon die Rede ist, dass Gott es bedauert, König Saul erwählt zu haben.
Insgesamt gesehen bietet der Band einen wichtigen Baustein zur Erhellung der biblischen Textgeschichte, wofür allen Beteiligten zu danken ist.