Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2021

Spalte:

832–833

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Mieth, Dietmar, u. Regina D. Schiewer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Selbstbestimmung. Anfänge im Spätmittelalter.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. VIII, 337 S. = Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte, 5. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783170333512.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Angesichts des in den westlichen Gesellschaften aktuell beobachtbaren Trends zur Individualisierung des religiösen Lebens lässt die Fragestellung der vorliegenden, im Kern auf Meister Eckhart fo­kussierten Publikation nach den Anfängen der »religiösen Selbstbestimmung« im Spätmittelalter aufhorchen. Mit Dietmar Mieth in seinem einleitenden Aufsatz gesprochen: »Gemeinsam ist der religiösen Bewegung des Spätmittelalters und der Moderne die Suche nach Unmittelbarkeit und damit die Distanz zum ›Außen‹, zum ›Institutionellen‹, zum ›Auferlegten‹. Die religiöse Selbstbe stimmung richtet sich auf das Innere, sie belauscht es.« (13 f.) Freilich wendet sich der anzuzeigende Sammelband – ungeachtet des allgemein verständlich klingenden Titels – erstrangig an Spezialisten, die mit den Forschungen zu Meister Eckhart vertraut sind. So steht im Hintergrund der Aufsätze ein 2016 abgehaltenes Forschungskolloquium, das die »Erfurter Meister-Eckhart-Forschungsstelle« und die Kolleg-Forschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« am Max-Weber-Kolleg Erfurt initiiert haben.
Das »Beiheft« ist in drei große Hauptkapitel unterteilt, die einem »Vorwort« (VII–VIII) und einem einleitenden Aufsatz von Dietmar Mieth, »Religiöse Selbstbestimmung. Anfänge im Spätmittelalter – Hermeneutische Perspektiven« (1–19) folgen.
Hauptkapitel I »Meister Eckharts Beitrag zur religiösen Selbstbestim­mung« umfasst vier Beiträge: Freimut Löser, »Religiöse Selbstbestimmung im Konvent? Eine Skizze zu den ›Erfurter Lehr­gesprächen‹« (21–43); Martina Roesner, »Die Freiheit eines Bibellesers. Die Heilige Schrift als Spielraum der religiösen Selbstbestimmung bei Meister Eckhart« (45–58); Jana Ilnicka, »Göttliche Selbstbestimmung und Konstituierung der göttlichen Personen nach Meister Eckhart« (59–83); Julie Casteigt, »Selbstbestimmung vor dem religiösen Gesetz. Die Auseinandersetzung Meister Eckharts mit der Avignoneser Kommission« (85–110). – Hauptkapitel II »Meister Eckhart im Gespräch mit vorausgehenden Entwürfen« bietet drei Aufsätze: Christian Ströbele, »Religiöse Selbstbestimmung. Das Modell des Moses Maimonides und seine Rezeption bei Eckhart von Hochheim« (111–131); Markus Vinzent, »Mechthild von Magdeburg, Dietrich von Apolda und Meister Eckhart. Zur Konzeption religiöser Selbstbestimmung« (133–174); Dietmar Mieth, »Marguerite Porete als ›Spiegel‹ einer kontemplativen Lebenswende und Meister Eckharts ›Wirken in der Zeit‹. Kontrastive Wege zur religiösen Selbstbestimmung« (175–199). – Hauptkapitel III »Die religiöse Selbstbestimmung in der Moderne« besteht aus vier Beiträgen: Andrés Quero-Sánchez, »›The Head and Father of True Philosophy‹. Schelling’s Philosophy of Identity, Meister Eckhart’s Mysticism, and Plato’s Understanding of Being« (201–238); Matthias Engmann, »Vorbehaltlosigkeit und Behutsamkeit. Anmerkungen zur Frage der Selbstbestimmung bei Sören Kierkegaard« (239–264); Magnus Schlette, »Die Idealisierung der ›inneren Natur‹. Zur Archäologie des modernen Individualismus« (265–280); Ben Morgan/Niamh Burns, »How to Write a Phenomenology of Religious Life. Charles Taylor, William James, Martin Heidegger, Gerda Walther and a Practical Example from the Manuscript Transmission of the ›Sister Catherine‹ Treatise« (281–315). – Im Anschluss an die Zu­sammenfassungen (Summaries) der einzelnen Beiträge (316–321) folgen ein »Abkürzungsverzeichnis« (323–328) und ein »Regis-ter« (Register der Namen und Werke; Sachregister) (329–337).
Ohne hier alle Aufsätze gleichermaßen würdigen zu können, seien exemplarisch einige Beiträge herausgegriffen, die bei der Vorstellung ihrer Forschungsergebnisse den Horizont des Spätmittelalters zumindest andeuten. So erläutert Martina Roesner, Mitglied der Meister Eckhart-Forschungsstelle in Erfurt, Eckharts Umgang mit der Heiligen Schrift als »Ort religiöser Selbstbestimmung« (57). Die Logoi der Heiligen Schrift seien für Eckhart keine in sich abgeschlossene Größe, sondern vielmehr ein Potential, das erst zur Fülle gelangt, wenn es bibellesende Menschen in sich aufnehmen und es dort zur Wirkung kommt: »Das erste und ursprünglichste Offenbarungswort Gottes ist somit nicht der biblische Text, sondern das sich im Intellekt des Menschen aussprechende Verbum, das nicht schriftlich niedergelegter Buchstabe, sondern im ursprünglichen Sinne Geist und Leben ist.« (58) Dieser Beitrag macht deutlich, dass es als »Reaktion« auf den (früh- und hoch-)mittelalterlichen Umgang mit der Heiligen Schrift im Spätmittelalter durchaus noch andere Weisen des Schriftverständnisses gab als das sola scriptura.
Dietmar Mieths Reflexionen zur religiösen Selbstbestimmung bei Marguerite Porete († 1310) zeichnen sich dadurch aus, dass er seine primärtextbasierte Einzelanalyse perspektivreich mit entsprechenden Überzeugungen nicht allein von Meister Eckhart vergleicht: »Bezogen auf die Frage nach der religiösen Selbstbestimmung setzt Eckhart das mannigfache ›Gewerbe‹, das das lateinische Bibelwort vom ›frequens ministerium‹, vom ›wiederholten Dienst‹ der [biblischen] Martha positiv – und nicht wie Marguerite negativ – aufgreift, auf eine Bahn, die über Johannes Tauler und Martin Luther bei Max Webers Analyse des Kapitalismus und seiner religiösen Motive landet.« (198)
Der Altgermanist Ben Morgan und die Germanistin Niamh Burns legen einen Auszug aus einem pseudo-eckhartischen Traktat aus dem 15. Jh. zugrunde, wenn sie auf dieser spätmittelalterlichen Basis das Modell der Säkularisierung von Charles Taylor kritisch hinterfragen. Anstelle einer gesamtgesellschaftlichen disziplinären Reform, die Taylor als Charakteristikum der Moderne ansieht, betonen die Autoren und Autorinnen auf der Basis der spätmittelalterlichen Primärquelle eine »flexible und dialogische Neuanwendung bereits vorhandener institutioneller Praktiken« (319).
Angesichts der beigebrachten inhaltlichen Fülle sei abschließend nicht verschwiegen, dass der Anspruch der Gesamtpublikation nur zum Teil eingelöst wird. Wenn der Herausgeber Dietmar Mieth im Rahmen seiner einleitenden »hermeneutischen Perspektiven« festhält: »Wir haben das Spätmittelalter als Fallbeispiel aus der Geschichte [für Selbstbestimmung und Individualisierung] be­trachtet« (16), bleibt bereits in diesem Aufsatz an Referenzpunkten fast alles unberücksichtigt, was historische Disziplinen innerhalb und außerhalb der Theologie gerade während der beiden letzten Jahrzehnte zum Spätmittelalter – vor allem: im Rahmen einer forschungsgeschichtlich neuen (!) Sicht auf das Spätmittelalter – erarbeitet haben. Dietmar Mieths eher angedeuteter Bezug zum (titelgebenden!) »Spätmittelalter« zeigt sich auch in den meisten anderen Aufsätzen – übrigens erkennbar bis hinein in die Fußnoten.
Insgesamt darf die hohe Spezialisierung der Forschungsbeiträge zugleich als Vorteil und Nachteil der Veröffentlichung gelten. Eine echte Erkenntnisfreude wird der oft schwer lesbare Band wohl erstrangig den engen Freunden der Eckhart-Forschung bieten.