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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1215-1218

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Jörg

Titel/Untertitel:

Justin, Apologien. Übersetzt u. erklärt.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 704 S. = Kommentar zu frühchristlichen Apologeten, 4/5. Geb. EUR 135,00. ISBN 9783451290435.

Rezensent:

Rolf Noormann

In der Herder-Reihe »Kommentar zu frühchristlichen Apologeten« hat der Hallenser Patristiker Jörg Ulrich einen umfangreichen Kommentar zu den Apologien Justins vorgelegt, der sich auch als Frucht seiner Mitwirkung an einem »Forschungsprojekt[s] zur frühchristlichen Apologetik an der Universität Aarhus« versteht (V). Neben Übersetzung und Kommentar (127–646) enthält der Band eine ausführliche Einleitung (1–125), ein umfangreiches Literaturverzeichnis (648–676) sowie diverse Register (677–704). Inzwischen ist außerdem der zweisprachige Band Justin. Apologiae. Apologien. Eingel., übers. u. komm. v. J. Ulrich (FC 91), Freiburg i. Br. 2021, erschienen.
Angesichts der schwierigen Überlieferungslage des justinischen Textes legt U. seinem Kommentar die Textrekonstruktion von D. Minns/P. Parvis (Oxford 2009) zugrunde, die zwar sehr »konjekturfreudig« sei, aufgrund ihrer »rigorosen Kritik« jedoch »eine imponierende Geschlossenheit« erreiche (1–11, hier 10; eine Liste mit 26 Abweichungen von Minns/Parvis findet sich 124 f.) – eine weitreichende Entscheidung, da sich die Konjekturen keineswegs auf textkritische Probleme im engeren Sinn beschränken, sondern auch die Streichung zahlreicher vermuteter »Glossen« umfassen. Auch im Blick auf das »Verhältnis der beiden Apologien zueinander« (43–58) schließt U. sich Minns/Parvis an, die 2apol. 14 f. als ursprünglichen Schluss von 1apol. verstehen; diese Kapitel erscheinen im Kommentar demgemäß als 1apol. 69 f. Der verbleibende Rest von 2apol. wird »als (postum herausgegebene?) Stoffsammlung« charakterisiert (56).
Nach einem Überblick über die »neuere Forschungsgeschichte« (11–17) skizziert U. Leben und Werk Justins, das zeitgenössische »geistig-kulturelle Umfeld« in Rom sowie die »christenfeindlichen Maßnahmen im Römischen Reich und ihre Rechtsgrundlage« (18–42) und erörtert »Entstehungszeit und -ort« sowie »Adressaten und Ziel der Apologien« (59–64). Unter dem Titel »Profil der Apologien« (64–72) diskutiert U. die philosophische Prägung Justins und damit verbunden die vieldiskutierte Frage der »Hellenisierung des Chris-tentums«. Mit Recht betont U., dass die Inanspruchnahme der hoch angesehenen Philosophie für das Christentum »sich aus dem geistigen Werdegang Justins […] gleichsam von selbst« ergeben habe; es könnte allerdings dennoch, anders als U. meint, zugleich eine »bewusst gewählte[n] Strategie« sein (67). Als »ganz und gar hellenistisch geprägte Persönlichkeit seiner Zeit« sei Justin »Teil eines in vollem Gang befindlichen kulturellen Kommunikations prozesses«, seine »Identität als platonisierender Philosoph« die »unhintergehbare Voraussetzung für seinen Weg zum Christentum« (71). Statt eines »Entweder-oder-Denkens« schlägt U. deshalb im Blick auf die Hellenisierungsfrage ein »In-, Mit- und Untereinander-Modell« vor (72).
Nach einer hilfreichen Übersicht zum nicht leicht zu durchschauenden »Aufbau der Apologien« (73–75) und einem Abschnitt zu »Sprache und Stil« (76–79) bietet U. in dem Abschnitt »Theolo-gische Themenfelder« (79–98) eine kompakte Einführung in die Theologie Justins. Im Blick auf mögliche Quellen Justins (98–111) rechnet U. mit »enge[n] Verbindungen zum hellenistischen Judentum« sowie mit einer Kenntnis rabbinischen Quellenmaterials. Zu den paganen Quellen bietet U. eine knappe Auflistung der expliziten Bezugnahmen und verweist im Übrigen auf die Untersuchung P. Lampes (Die stadtrömischen Christen), die Justins »gute Kenntnis der Texte« und seine Fähigkeit »zu einem eigenständigen Um­gang mit ihnen« gezeigt habe (101). Demgemäß bemerkt U., die »platonischen Dialoge[n]« stünden »bei Justin häufig im Hintergrund der Argumentation« (595). Gleichwohl führt er Zitate und A nspielungen auf die im Schulbetrieb üblichen Handbücher, Doxo­graphien und Anthologien zurück (102). Ein Abschnitt zur Rezeption Justins in Antike und Spätantike schließt sich an (112–122).
Der Kommentar bietet »am Anfang der meisten Abschnitte […] eine kurze Hinführung, sodann die Übersetzung des Abschnitts und danach folgend eine Satz-für-Satz-Kommentierung«. Die Übersetzung strebt einen Mittelweg zwischen einer »peinlich genauen wörtlichen Übersetzung« und einer »allzu freien Wiedergabe« an. Ein besonderes Augenmerk gilt den Bezügen innerhalb der Apologien Justins, der Dialog mit Tryphon tritt eher in den Hintergrund. »Auf Referenzen aus der antiken Literatur […] wird in der Regel lediglich verwiesen«. Textkritische Probleme werden »im Rahmen der Sachkommentierung« mit verhandelt (123).
Übersetzung und Kommentar stellen für die deutschsprachige Justin-Forschung einen erheblichen Fortschritt dar. Erstmals liegt eine durchgängig und sorgfältig kommentierte Übersetzung seiner Apologien vor, die zudem der aktuellen Forschungslage Rechnung trägt. Die Intensität der Kommentierung variiert von knappen Auslegungen wie zu 1apol. 17 zur Steuerfrage (234–237) bis hin zu detaillierten Exegesen wie zu 1apol. 61 zur christlichen Taufe (460–477). Neben textnahen Interpretationen bietet der Kommentar eine Fülle von Informationen zu Begrifflichkeit, historischen Hintergründen, Entsprechungen bei anderen Autoren und vielem mehr. Zu wichtigen Themen gibt es nicht selten erweiterte Ausführungen. An manchen Stellen wären weitergehende Erläuterungen wünschenswert, so etwa zur Verarbeitung neutestamentlicher Texte zur Steuerfrage in 1apol. 17,2 (235). Auch die Verweise auf Sekundärliteratur sind manchmal allzu sparsam (vgl. etwa 285, Anm. 68, wo zu Markion bei Justin lediglich auf einen Aufsatz von S. Moll, nicht jedoch etwa auf die Markion-Studie von J. Lieu verwiesen wird).
Textkritische Fragen spielen im Kommentar eine erhebliche Rolle. An vielen Stellen wird der überlieferte Text im Anschluss an Minns/Parvis geändert, nicht selten ohne zwingenden Grund.
So wird in 1apol. 26,7 die Wendung »wenigstens ihrer Lehren wegen nicht« »als Einfügung eines späteren Redaktors« charakterisiert, da sie »kurios und schwer zu deuten« sei (287 f.). 1apol. 59,6 wird als Glosse gestrichen, weil der Passus den Zusammenhang »hart unterbricht« (451). 1apol. 67,1 ist »als Glosse zu streichen«, da die Stelle »allzu viele sachliche Schwierigkeiten« bietet (513) – ein Verfahren, das U. bei Marcovich als »einen methodisch etwas problematischen Umgang mit einer inhaltlich schwierigeren Lesart« kritisiert (593). In 1apol. 26,5 korrigiert U. mit Minns/Parvis θεόν zu θεοῦ, da Justin »auch sonst […] vom höchs-ten Gott des Markion nicht als Gott« rede (286, Anm. 73; vgl. dagegen Lieu, Marcion, 23, Anm. 26, mit Verweis auf ein Justin-Zitat bei Irenäus Adv. haer. IV,6,2). Im gleichen Paragraphen folgt U. der Lesart πέπεικε statt πεποίηκε (auf der Basis des Zitats der Stelle bei Eusebius, wo der Herausgeber E. Schwarz allerdings einen Fehler in der Euseb-Überlieferung vermutet), obgleich dadurch eine für Justin singuläre Aussage über die markionitische ›Kirche‹ entsteht (285). Einer weiteren, ebenfalls inhaltlich begründeten Konjektur von Minns/Parvis im gleichen Paragraphen folgt U. nicht, da er diese Stelle als »eine präzise und wertvolle doxologische Aussage« ansieht (286). Allerdings hält U. die Ausführungen zu Markion in 1apol. 26,5 insgesamt für »deplatziert«, zumal das Kapitel »auch grammatikalisch […] ein wenig aus dem Ruder gelaufen« sei, und tendiert daher dazu, den Abschnitt insgesamt »als spätere Glosse zu betrachten« (285). 1apol. 28,1–4 wird als »misplaced fragment« (Minns/Parvis) gedeutet, das »aus verschiedenen, mindestens drei Fragmenten besteht, die aus je ihrem Kontext herausgelöst und an unsere Stelle platziert worden sind«, allerdings erst nachdem – offenbar von früherer Hand – in 27,4 ὄψις zu ὄφις »verschlimmbessert worden war« (295). Manchmal genügt als Begründung für die Annahme einer Glosse, dass der Text so »einfacher« wird (607, Anm. 279 bezogen auf die Wendung ὁμοίως Σωκράτει in 2apol. 8[3],6).
Unklar bleibt, wie die Genese der zahlreichen, auf verschiedenen zeitlichen Ebenen anzusiedelnden Veränderungen, Glossen und Lacunae textgeschichtlich zu erklären sein soll. Die teilweise sehr freihändig nach inhaltlichen wie stilistischen Kriterien vorgenommenen »Verbesserungen« sind so vor Willkür kaum geschützt. Fraglich ist auch, ob die angestrebte Textkohärenz der tatsächlichen Arbeitsweise Justins entspricht. Auch wenn die Handschrift A zum Teil erhebliche Schwierigkeiten aufwirft, scheint daher die Entscheidung Ch. Muniers, sich im Wesentlichen am überlieferten Text zu orientieren (SCh 507, 90–95), erheblich plausibler.
Die Übersetzung des Textes besticht durch gute Lesbarkeit, ohne dass die komplexen Satzgefüge unnötig vereinfacht würden, und ist im Ganzen zuverlässig. Neben gelungenen Übersetzungen finden sich allerdings auch einige fragwürdige.
So scheint die Wiedergabe von τὰ αὐτῷ ἀρεστά in 1apol. 10,3 mit »das von ihm (sc. Gott) als richtig Erkannte« (178) statt mit »das, was ihm gefällt, das von ihm Gebilligte« sowohl sprachlich wie inhaltlich fraglich. In 1apol. 17,2 hat offenbar ein Missverständnis der Wendung κατ* ἐκεῖνο τοῦ καιροῦ zu einer Fehlübersetzung der Zitateinleitung geführt: »Denn was jenes betrifft, fragten ihn wiederholt einige, wenn sie kamen, ob man dem Kaiser Steuern zahlen müsse […]« (234) statt: »Denn zu jener Zeit kamen einige (zu ihm) und fragten ihn […]« (die übrigen vier Belege dieser Wendung [1apol. 26,3; 33,5; 60,2; 62,3] sind korrekt übersetzt; leider ist der Fehler auch in der »durchgesehenen« Übersetzung FC 91 [97] nicht korrigiert). Die Wiedergabe von οὔτε τὸ ἐφ* ἡμῖν ἐστιν ὅλως in 1apol. 43,2 mit »sind sie auch gänzlich nicht in unserer Macht« dürfte die spezifische Aussageabsicht Justins verfehlen: »dann steht überhaupt nichts ›in unserer Macht‹«, im Sinne von: Dann gibt es gar kein τὸ ἐφ* ἡμῖν. In 2apol 5(6),1 f. schreibt Justin, dem Vater aller Dinge sei kein Name zu verleihen, da er ungeworden sei; Vater, Gott, Schöpfer, Herr und Herrscher aber seien »keine ὀνόματα, sondern προσρήσεις aufgrund seiner Wohltaten und Werke«. U. übersetzt diese Gegenüberstellung mit »keine Namen, sondern Bezeichnungen« (570) und verweist zur Begründung auf eine »stoische Unterscheidung«, wonach »ὄνομα einen Eigennamen meint, während προσηγορία oder πρόσρησις auf eine gemeinsame Qualität verweist« (im Anschluss an Minns/Parvis, 285, Anm. 8, die allerdings nur προσηγορία nennen – πρόσρησις ist laut SVF IV stoisch gar nicht belegt!). In diesem Sinne verstehe Justin »die christlichen Bezeichnungen für Gott als Sammelbegriffe« (571). Für Justin dürften »Bezeichnungen« nicht weniger problematisch sein als »Namen«, zeugen doch auch diese von der Überlegenheit des Bezeichnenden. Gemeint sein dürften »Anreden« bzw. »Anrufungen« (ebenso U. selbst [474] im Kommentar, nicht in der Übersetzung). E. Osborn, Anfänge des christlichen Denkens, 55, übersetzt mit »Anredeformen«; ders., Justin Martyr, 22, bemerkt dazu, Justin verstehe Gott »as someone to whom one may speak but of whom one may not speak«.
Da Justin auch als Christ ein »platonisierender Philosoph« bleibt (71), ist eine entsprechende Gewichtung philosophischer Hintergründe im Kommentar zu erwarten. Tatsächlich werden nicht wenige Texte und Themen ausführlicher reflektiert, etwa Justins platonisch geprägtes Verständnis Gottes als Schöpfer, wo U. eine Verschmelzung der Traditionsstränge beschreibt (183 f.621 f.). Ausführlich geht U. ein auf das platonische »Wanderzitat« in 1apol. 44,8 (»Die Schuld fällt dem zu, der wählt; Gott ist ohne Schuld«, Rep X 617c) und Justins Rückführung dieses Gedankens auf den viel älteren Mose, von dem Plato es genommen habe. Auch Justins Theorie vom Logos spermatikos und deren Hintergründe werden eingehend erläutert (595–598; vgl. 374). Nicht selten werden entsprechende Hintergründe allerdings nur kurz erwähnt, ohne dass sie auf ihre sachliche Bedeutung für das theologische Denken Justins untersucht würden. So gibt es etwa zu den Gottesprädikationen in 1apol. 13,3 f. nur einen knappen Hinweis zur Charakterisierung des Vaters als ὁ ὄντως θεός mit einigen Belegstellen, die Wendung μετὰ τὸν ἄτρεπτον καὶ ἀεὶ ὄντα θεὸν καὶ γεννήτορα τῶν ἁπάν-των dagegen bleibt ohne jede Kommentierung (209 f.; hier ist allenfalls auf die summarischen Ausführungen zur Gotteslehre Justins in der Einleitung [86–88] zu verweisen).
Ungeachtet der genannten Kritikpunkte hat U. mit seinem ausführlichen und umfassenden Kommentar ein herausragendes Hilfsmittel für jede Beschäftigung mit den Apologien Justins vorgelegt. Neben einer überzeugenden Übersetzung und eingehenden Interpretationen bietet er eine Fülle von Hintergrundinformationen und Erläuterungen zu den Ausführungen Justins. An nicht wenigen Stellen wird er Anstoß zu weiteren Forschungen geben.