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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

136–154

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Christian V. Witt

Titel/Untertitel:

Theologie in Rezeption und Wirkung
Eine Gesamtschau über die Tübinger Handbuchreihe als Zwischenbilanz

Hinter der hier im Mittelpunkt stehenden opulenten Handbuchreihe1 aus dem Haus Mohr Siebeck stand und steht ein unschwer zu verifizierender Befund, der buchstäblich den Ausgangspunkt des gesamten Großunternehmens markiert: »Der fortschreitende wissenschaftliche Differenzierungsprozess hat auch in der Theo-logie einen handfesten Bedarf an Übersicht und Orientierung erzeugt. […] Eine sachdienliche Bewältigung des Zugewinns, den die kirchenhistorische Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte erbrachte, dürfte durch den Versuch einer kompendienhaften Zwischenbilanz spürbar erleichtert werden«.2 So fasst der Herausgeber des ersten publizierten Bandes, der zugleich als Hauptherausgeber für die gesamte Reihe verantwortlich zeichnet, die Ausgangslage und die damit einhergehende Herausforderung an das Handbuchgenre zusammen.

Im Blick ist dabei nicht nur ein wissenschaftliches Publikum; die Kompendien wollen dezidiert auch das »außerwissenschaftliche Interesse«3 an ihren Gegenständen bedienen, worin vor allem im Vergleich mit bekannten Beispielen englischsprachiger Handbuchreihen eine Besonderheit der Tübinger Reihe zu sehen ist. Vor diesem Hintergrund stehen nun die bis einschließlich Juni 2021 erschienenen elf Bände, deren erste zehn auch als Theologen-Handbücher ausgewiesen und hinlänglich bekannt sind, im Mittelpunkt des folgenden Literaturberichts. Er will die Eigenart und Leistung der Reihe insgesamt würdigen, was dezidiert in Gestalt einer Gesamtschau geschehen soll. Deren besonderes Anliegen ist die Be­tonung des die Kompendien zu Jesus, Paulus, Athanasius, Augus-tin, Thomas, Luther, Calvin, Schleiermacher, Barth, Bultmann und nun auch zum Pietismus konzeptionell Verbindenden. Da es sich konkret um eine Gesamtschau von Einführungs- und Überblickswerken handelt, erscheint das eine oder andere inhaltliche oder formale Würdigungsmoment vielleicht als Allgemeinplatz, wofür jedoch um in der Sache liegende Nachsicht geworben wird.

I Überblick


Um das konzeptionell Verbindende zur Profilierung der Reihe wahrnehmen und diskutieren zu können, seien zuvor die bislang erschienenen Bände noch einmal in aller gebotenen Kürze und dabei gleichsam linear vorgestellt.4 Die Disposition der Stoffmassen erfolgt meist strukturanalog: Nach der Eröffnung durch eine grundsätzliche Orientierung über Überlieferung, Quellen und Ausgaben sowie Forschungs- und Diskussionsstand, wird im zweiten Hauptteil die titelgebende Person in den Blick genommen. Sie wird behutsam in ihre soziokulturelle Umgebung eingezeichnet, um ihren Werdegang und ihre Wirkungsfelder historisch zu kontextualisieren. Religiöse Traditionen, theologische Prägungen oder kulturelle Bildungsaspekte werden dabei als bedeutende Einflussfaktoren genauso wenig vernachlässigt wie zwischenmenschliche Beziehungen, religiöse Er­lebnisse, diskursive Konstellationen oder frömmigkeitspraktische Antriebe. So umfassend vorbereitet und fundiert, ist der dritte Hauptteil dann dem jeweiligen Werk ge­widmet. Schriften und Themen werden einführend vorgestellt, zu denen signifikante Strukturen eigens hinzutreten können, um den Befund zu bündeln und zugleich größere thematische Linien auszuziehen. Dadurch wird der eingängige Nachvollzug profilbildender Zusammenhänge im Rahmen der geschichtlichen Genese und Entwicklung von Theologie ermöglicht. Das weist voraus auf den letzten Hauptteil, der sich mit Wirkung und Rezeption im unmittelbaren zeitlichen Umfeld sowie in verschiedenen Epochen, Kulturen, Konfessionen und Theologien beschäftigt. Nachdem Mensch und Werk in ihren Prägungen, ihren vielschichtigen Bedingungsgefügen sowie ihrem meist diskursiven Werdegang vor Augen gestellt wurden, rückt somit abschließend ihr Fortwirken in den Mittelpunkt. Wie und warum bestimmte Gedanken aktualisierende Aufnahme fanden, sich darüber wandelten und unter anderen geschichtlichen Vorzeichen wiederum diskursiv fruchtbar wurden oder weiterhin blieben, wird überblicksartig ausgeleuchtet, wodurch nicht nur der Bogen zu den eingangs orientierenden Ausführungen zu Forschungs- und Diskussionsstand geschlagen wird. Vielmehr wird es auch möglich, bei allem geschichtlich Transitorischen das Bleibende und Verbindende zu entdecken, um den großen Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten und darüber nach Zäsuren und Transformationen nachzuspüren.

Synchrone und/oder diachrone Lektüreinteressen profitieren naturgemäß einmal von den Teil- und Gesamtbibliographien sowie den umfangreichen Registern, die den Handbüchern neben den Verzeichnissen der Autorinnen und Autoren beigegeben sind. Sodann ziehen jene Interessen ihren Nutzen aus der offenkundigen Freiheit, die den Herausgebern der Einzelbände blieb, wenn es um die konkrete Auswahl und Orchestrierung der Artikel innerhalb jener vier inhaltlich-thematisch strukturanalogen Hauptteile ging. Mehr noch: Selbst die Disposition und Benennung der angeführten vier Hauptteile ist nicht in Stein gemeißelt, wie neben dem Pietismus Handbuch besonders die Bände zu Jesus und Schleiermacher veranschaulichen, deren übergeordnete Struktur von denen der anderen acht Theologen-Handbücher abweicht.5 Von jeder das Maß des Machbaren und Zielführenden überschreitenden Uniformierung der Reihe wurde demnach zugunsten der Expertise der Bandherausgeber und der Beitragenden abgesehen. Gleichwohl teilen alle Bände mutatis mutandis das Darstellungsprinzip und zeugen so von der Annahme, dass Theologie als Ausdrucksweise religiösen Bewusstseins geschichtlicher Personen aufkommt und somit als transformationsfähiges Produkt spezifischer Lebenswelten historisch wahrnehmbar wird, welche wiederum allein in ihrem historischen Kontext in angemessener Weise zugänglich gemacht werden können.

Folgt man nun der historischen Chronologie, markiert das Jesus Handbuch den Auftakt der Reihe. Es eröffnet die Vorstellung sei-nes religiös schöpferischen Protagonisten mit einem gehaltvollen Überblick über die »Geschichte der historisch-kritischen Jesusforschung« entlang wirkungsreicher Konzepte und Deutungen seit der Antike,6 bevor es das »historische Material« innerhalb und außerhalb der christlichen Traditionsbildung sowie auch am Bei-spiel nichtliterarischer Zeugnisse entfaltet.7 Erst auf diesen Grundlagen rekonstruiert es dann »Leben und Wirken Jesu« vor dem Hintergrund des politischen und religiösen Kontexts der Zeit,8 bevor es den frühen »Spuren von Wirkungen und Rezeptionen Jesu« nachgeht.9 Dem historisch-theologisch bedeutendsten Rezipienten und Interpreten Jesu ist das Paulus Handbuch gewidmet: Nach einer Orientierung u. a. über das Corpus Paulinum und die Paulusforschung seit Ferdinand Christian Baur10 werden der Lebensweg und die Persönlichkeit des originellen Denkers sowie großen Multiplikators christlicher Religion inklusive der Probleme der his­torischen Rekonstruktion nachgezeichnet.11 Im Anschluss rückt das seinerseits religiös schöpferische Werk des Apostels in den Mittelpunkt: Literarische Produkte, praktische Mis­sionstätigkeit, leitende Themen sowie strukturgebende Hauptmomente bilden die großen Linien, entlang derer Aneignung, Ausformung und Weitergabe von Leben und Wirken Jesu durch Paulus aufbereitet werden.12 Dessen vielgestaltige und theologiegeschichtlich kaum zu überschätzende Ausstrahlung in der Doppelperspektive von »Wirkung und Rezeption« bringt das ihn behandelnde Kompendium für die frühe Phase selbst zur Darstellung,13 bevor diese komplexe Aufgabe dann die historisch-chronologisch folgenden Handbücher fortführen und so inhaltlich in gewisser Weise an das Schlusskapitel des Paulus Handbuch an­schließen.

Zwei theologie- und dogmengeschichtlich gleichermaßen be­deutende Denker, die die paulinischen Impulse aufnehmen und in ideen- und kulturgeschichtlich komplexen Wechselwirkungen produktiv werden lassen, nehmen das Athanasius Handbuch und das Augustin Handbuch in den Blick: Erstgenanntes Kompendium führt umsichtig in Überlieferung und Forschungsstand ein,14 um dann mit Ägypten im Allgemeinen und Alexandrien im Besonderen pulsierende Zentren christlichen Lebens und Denkens vorzustellen.15 In diesen kirchlich und politisch hochgradig dynamischen Raum wird die im Grunde bis heute streitbare Person des Athanasius mit ihren geschichtlichen Kontexten, Wirkungsfeldern und Beziehungen eingeordnet sowie als umtriebiger Bischof, resoluter Kirchenpolitiker und schöpferischer Theologe zugänglich gemacht.16 Alle drei Facetten spiegeln sich naturgemäß in seinem umfangreichen Werk, mittels dessen er mal mehr, mal weniger subtil, immer aber entschlossen für die von ihm verfochtenen Po-sitionen eintrat und darüber die Vorstellungen vom biblischen Kanon genauso bleibend formte wie die von der Trinität, der Askese oder der Kirche.17 Gerade die kontroversen Hintergründe seiner literarischen Produktion verliehen dieser eine gedankliche Tiefe und Prägnanz, die in verschiedenen christlichen Traditionen und historischen Epochen theologisch sowie institutionell fruchtbar werden sollte.18 In der lateinischen Christenheit wurde seine Wirkmacht freilich von einem jüngeren Nordafrikaner übertroffen, wie das Augustin Handbuch instruktiv verdeutlicht und neben dem aktuellen Forschungsstand besonders die Liste der teilweise digitalen Hilfsmittel, laufenden Bibliographien, bestehenden For-schungsinstitute und erscheinenden Periodika unterstreicht.19 Sein wechselvoller Lebensweg zwischen seiner nordafrikanischen Heimat und den politischen sowie kirchlichen Zentren der westlichen Reichshälfte, der sich aufgrund seiner eigenen Deutung auch als religiöse Suchbewegung beschreiben lässt, seine vielfältigen Bildungseinflüsse und seine kulturellen Prägungen werden umsichtig ausgeleuchtet,20 bevor auch Augustin als engagierter Streiter, unnachgiebiger Kirchenpolitiker und unermüdlicher Theologe Be­handlung findet.21 Herausgestellt werden dabei das ausgeprägte organisatorische Talent, die rhetorische Begabung, das exegetische Geschick sowie der seelsorgerliche Instinkt des Bischofs und Predigers,22 dessen umfangreiches literarisches Schaffen schließlich der lateinischen Kirche und Theologie die Weichen stellen sollte. In ingeniöser Verbindung paulinischer Theologie, klassischer Bildung und neuplatonischer Philosophie knüpfte Augustin an die theologische Tradition Nordafrikas an und entwickelte in Traktaten, Predigten, Briefen einen Reichtum an Ideen, dessen Strahlkraft bis dahin mindestens im Westen des Reiches ohne Beispiel war.23 Seine keineswegs spannungslose und zugleich originelle Pauluslektüre, seine fulminanten Entwürfe zur Geschichtstheologie, seine katechetischen Leistungen sowie seine theologische Gedankenbildung zu Kirche und Sakramenten, Sünde und Gnade, Ehe und Enthaltsamkeit etc. machten ihn zur zentralen Autorität und Referenzgröße der Kirchen- und Theologiegeschichte der kommenden Epochen.24

Das lässt sich an keinem Geringeren als dem Aquinaten veranschaulichen: Das Thomas Handbuch bietet nicht nur eine umfassende Einführung in Leben und Werk des großen Mönchs und Gelehrten, sondern darüber hinaus in die Geistes-, Institutionen- und Kulturgeschichte des (Hoch-)Mittelalters. Eingangs über Überlieferung, Ausgaben, Hilfsmittel und zeitgenössischen Stand primär der philosophischen und theologischen Thomasforschung orientiert,25 erhält das Lesepublikum einen Überblick über die Lebenswelt und den Lebensweg des Thomas,26 bevor theologische, philosophische, spirituelle und institutionelle Einflussfaktoren beschrieben werden.27 Anschließend wird er in unterschiedliche Beziehungsgefüge von wiederum prägender Qualität eingestellt, die personelle Aspekte genauso abdecken wie institutionelle.28 Der so auf verschiedenen Ebenen – etwa mit Blick auf Papsttum, Bettelorden, Weltklerus, Universitätswesen, Scholastik, Aristotelismus – kontextualisierte und mit bestimmten Zeitgenossen in Beziehung gesetzte Ordensmann wird dann entlang seiner Schriften und ihrer Leitthemen als hochgebildeter Philosoph, scharfsinniger Theologe und eben großer Repräsentant einer ganzen Epoche präsentiert,29 die sich komplexe Traditionsbestände aneignete, um sie unter neuen geschichtlichen Vorzeichen in beeindruckendem Ideenreichtum und gedanklichem Wagemut zu transformieren. Gerade das lässt sich an und bei Thomas vorzüglich studieren, dessen Leistungen die weitere Theologiegeschichte in erheblichem Maße beeinflussten und entsprechend über sein unmittelbares Werk und seine Zeit weit hinauswiesen.30 Ein prominentes und bis heute umstrittenes Kind der Epoche, welche durch die intellektuellen Leistungen von Geistesgrößen wie Thomas philosophisch und theologisch bestimmt wurde, stellt das Luther Handbuch vor, das einst den Ausgangspunkt der gesamten Reihe bildete und 2017 seine dritte Auflage erlebte, die im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen manch eine Aktualisierung sowie Erweiterung bietet. Von der in vielerlei Hinsicht erheblichen Bedeutung Luthers zeugt nicht nur das breite und seinerseits traditionsreiche Spektrum an Ausgaben und Hilfsmitteln zum Studium des Theologen und Reformators, sondern auch die international, interkonfessionell und interdisziplinär lebhaft geführten Debatten über Person, Werk und Einordnung.31 Gerade die entsprechenden Kontroversen innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft verlangen eine umfassende historisch-theologische Verortung ihres Gegenstands, weshalb die religiö-sen, institutionellen und geistesgeschichtlichen Traditionen und Autoritäten ausgeleuchtet werden,32 die sich Luther aneignete und die somit den interpretatorisch unverzichtbaren Hintergrund zum Verständnis seiner Persönlichkeit und seiner »religiöse[n] Leitidee« darstellen.33 Beide Aspekte entwickeln sich dann und kommen wahrnehmbar zum Tragen in den konkreten Beziehungen zu ebenjenen Traditionen und Autoritäten, späterhin zu An­hängern und Gegnern, worüber der Reformator auch eine vielfäl-tige kulturelle Prägekraft entfaltete.34 Die darauf aufruhende Einführung in sowie der gebotene Überblick über sein Werk werden nach Gattung, Themen und Strukturen aufgefächert, und gerade die thematisch und strukturell justierten Rubriken dienen der Vertiefung der Rede von der religiösen Leitidee Luthers.35 Dabei Übernommenes, Transformiertes und Schöpferisches zu identifizieren, in Abweisung oder Affirmation zu vertiefen und kirchlich-institutionell zu operationalisieren, wurde wesentlich zur Aufgabe der Nachkommenden und ist es eben bis heute geblieben.36

Die damit gestellte Herausforderung und die Theologiegeschichte dauerhaft dynamisierende Kraft verdeutlicht exemplarisch das Calvin Handbuch. Seit jeher nicht minder umstritten als Luther, wenn auch in anders akzentuierter Weise,37 wurde Calvin zum Gegenstand einer lebendigen Forschung, der sich wiederum eine Vielzahl an Ausgaben, Institutionen und Hilfsmitteln verdankt.38 Der wendungsreiche Lebensweg des Franzosen spiegelt sich vorzüglich in den Stationen und Beziehungen, die beide räumlich geordnet werden, um gezielt die internationale Verflechtung und Ausstrahlung von Leben, Werk und Wirkung zu betonen.39 Die theologischen Einflussfaktoren und die daraus resultierenden Verhältnisse zu Autoritäten und Personengruppen40 bilden dann die Ausgangspunkte für die instruktive Präsentation seines Schaffens, das eine reiche Fülle an literarischen Werken und Gattungen hervorbrachte und dabei nicht nur, aber auch und gerade von Augustin und Luther aufgeworfene theologische Problemstellung in beeindruckender gedanklicher Konsequenz sowie Schärfe erfasste und bearbeitete.41 Auch hier werden zur Bündelung noch einmal zentrale Strukturen herausgestellt,42 bevor das weite Feld der Wirkung und Rezeption Calvins entlang thematischer und historischer Aspekte abgesteckt wird.43 Während die Themen die Ausführungen zum Werk des Reformators geschickt aufnehmen und fortführen, stehen mit den historischen Aspekten neben der ganzen kontinentalen und damit kulturellen Weite seines Erbes die theologischen Anknüpfungen und Fortführungen vor Augen, die seine immense Produktivität nach sich zog.

In die sich maßgeblich auf Calvin berufende konfessionelle Sozialgestalt des Christlichen wird schließlich der Protagonist des Schleiermacher-Handbuchs hineingeboren. Es weicht wie bereits das Jesus Handbuch mit seinem Aufbau von dem der übrigen Kompendien ab, ohne freilich die zuvor skizzierten konzeptionellen Prinzipien der Theologen-Handbücher aufzugeben. An die der grundsätzlichen Orientierung über Debattenstand, innerhalb dessen sich das Handbuch selbst verortet, Forschung und Literatur dienenden »Prolegomena«44 schließt eine Darstellung der »Kontexte« an, die Schleiermacher ideen-, kultur- und politikgeschichtlich einordnen.45 So über den historischen Hintergrund und geistigen Horizont informiert, erhält das Publikum einen luziden Einblick in »Lebensstationen – Werke – Entwürfe«, wobei Leben, Beziehungen, Werk und Themen in ihrer gegenseitigen Durchdringung entlang einzelner Lebensabschnitte Schleiermachers und ihrer be­stimmenden Tätigkeitsfelder zur Darstellung gebracht werden.46 In der wechselseitigen Durchdringung von Denken und Wirken werden die schwerlich zu überschätzende Breite und Tiefe der theologischen und philosophischen Theoriebildung vermessen, ohne darüber etwa Schleiermachers Übersetzungs- oder Predigttätigkeit auszublenden. Ebenso originell wird die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte erhellt, nämlich unter der Überschrift »Re­zeption und Kritik«.47 Damit ist bereits qua Überschrift daran erinnert, dass die Verflechtung von Aneignung und Abgrenzung die produktive Beschäftigung mit dem Denken Schleiermachers bis heute kennzeichnet, worin sich die spannungsreiche Offenheit und Anknüpfungsfähigkeit seines Werkes niederschlägt und woraus sich seine anhaltend dynamisierende Wirkung erklärt.

Ein vergleichbares Anregungspotenzial, das sich nicht zuletzt aus der kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermacher speist, eignet der Theologie Karl Barths. Das unterstreicht schon die komplexe Geschichte der betreffenden Forschung, die das Barth Handbuch einleitend vorstellt.48 Die produktive Auseinandersetzung mit dem Erbe Schleiermachers sowie der Reformation führte zur Genese einer ganz eigentümlichen Theologie des Schweizers, dessen Werk besonders in seinen originellen Facetten naturgemäß nur vor dem Hintergrund seiner persönlichen und familiären Voraussetzungen sowie seiner wechselvollen Beziehungen zu Traditionen, Institutionen, Konfessionen, Religionen und Personen überhaupt einführend zugänglich zu machen ist.49 Hermeneutik, Sprache, Musik und Politik werden anschließend eigens als Ausstrahlungsfelder seines Schaffens in den Blick genommen,50 um von dort aus in Stadien, Gattungen, Themen und Profilen einen perspektivreichen Überblick über sein Opus zu bieten.51 Einen besonderen Reiz macht dabei die vergleichende Lektüre der Rubriken »Stadien« und »Profile« aus: Die lebensweltliche Bindung theologischer Gedankenbildung führt in ihrer Spannungsfülle keineswegs nur bei Barth zur letztlich legitimatorischen ((??)) Funktionszuschreibung des eigenen theologischen Denkens, die ihrerseits bei allen Systematisierungs- und Objektivierungsversuchen keineswegs durchgängig harmonieren.52 Dabei sind es dann im Zuge der Klärungsbestrebungen durch Zeitgenossen und Nachlebende gerade die unvermeidlichen Priorisierungen, Modifikationen und Operationalisierungen, die im Sinne der positionellen Streitbarkeit dauerhaft diskursdynamisierende Impulse freisetzen, wie Wirkung und Rezeption der Theologie Barths mustergültig verdeut-lichen.53 Zu deren genauso eigenständigen wie kritischen Rezipienten gehörte der Protagonist des Bultmann Handbuchs. In Bultmanns Theologie gleichsam den chronologischen Schlussstein der bislang erschienenen Theologen-Handbücher zu sehen, liegt schon aufgrund der Tatsache nahe, dass in seinem Werk und durch dasselbe die vielen Impulse vorangegangener Epochen und Persönlichkeiten zusammenkommen und eine produktive Synergie eingehen. Deren Vielgestaltigkeit wird im Anschluss an die reihen-typische grundsätzliche Orientierung54 sowie eine instruktive Darstellung zur Biographie55 in den aufgenommenen Traditionen und den weitreichenden persönlichen Beziehungsgeflechten Bultmanns verdeutlicht,56 denen dann die »Politisch-gesellschaftliche[n] Be­ziehungen« zu Kirche, Politik, Judentum und Kultur insgesamt nachgeschaltet werden.57 Die dort zu beobachtenden Einflüsse und Wechselwirkungen sind wiederum in engstem Zusammenhang mit dem Werk des Denkers zu sehen, das zwar in der Exegese seine prominente Zentrierung erfuhr, aber letztlich alle Teilgebiete der Theologie nachhaltig berührte.58 Historische, anthropologische, enzyklopädische, hermeneutische oder philosophische Fragen und Problemstellungen zeugen gerade von den ge­nannten vielfältigen Prägekräften im Denken Bultmanns und sorgten dafür, seine Theologie und mit ihr auch ihre Einflussfaktoren zum produktiven Ausgangspunkt und Gegenstand inter-nationaler sowie interdisziplinärer Debatten zu machen, die bis heute längst nicht erledigt sind und die die entscheidenden Im­pulsgeber der Theologiegeschichte immer wieder mitbehandeln müssen.59

Damit stehen dann die bislang erschienenen Bände der Personenserie als Teile einer konzeptionell weitestgehend homogenen Reihe vor Augen. Eine Möglichkeit, die unweigerlich auftretenden historischen Lücken zwischen den einzelnen Theologen und Theologien zu schließen, ist die Behandlung ganzer Phänomene und Strömungen in ein und demselben Handbuch. Dahinter stehen auf Verlagsseite freilich auch wirtschaftliche Erwägungen: Die überkommene inhaltliche Struktur der akademischen Ausbildung und der damit zu­sammenhängende zu erwartende Absatz ließ es geboten erschein en, dort Bündelungen vorzunehmen, wo Kompendien zu Einzelpersonen absehbar nicht lohnen. Die entsprechende Serie der Tübinger Kompendien wurde nun jüngst durch das opulente Pietismus Handbuch eröffnet: In vielerlei Hinsicht von beeindruckendem Gewicht, hält es an der Grundstruktur der personengeschichtlich organisierten Bände grundsätzlich fest, indem es nach einem über Literatur, Institutionen und Forschungsgeschichte sowie -stand orientierenden Einleitungsteil60 die theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Voraussetzungen in ihren durchaus streitbaren kategorialen Verdichtungen darstellt,61 um anschließend eine stolze Anzahl an Personen und Gruppen zwecks Illustration der ganzen Vielgestaltigkeit und -schichtigkeit dessen, was gemeinhin unter dem Begriff »Pietismus« versammelt wird, in den Blick zu nehmen.62 Die ganze in sich spannungsreiche Breite an religiösen Lebenskonzepten und Wahrnehmungsmustern wird instruktiv ausgeleuchtet, bevor zur neuerlichen Weitung der Perspektive »Städte, Territorien, Regionen, Länder (in Auswahl)« vorgestellt werden, denen für die historische Erfassung und Profilierung des Pietismus eine herausgehobene Bedeutung zukommt.63 So wird – in gewisser Weise analog zu den älteren Bänden – der Überblick über als repräsentativ erachtete Biographien durch konkrete Artikel zu geschichtlichen Kontexten und Kulturräumen angereichert, um die Komplexität der Bedingungsgefüge zu erhellen, in denen im 17. und 18. Jh. pietistische Phänomene aufkamen und wirkten. Das theologiegeschichtliche Zentralstück bildet dann auch im Pietismus Handbuch die Rubrik »Themen«, die neben Theologie und Frömmigkeit auch »Gesellschaft und Kultur« behandelt.64 Unter letztgenanntem Punkt sind Überlegungen zu einem umfassenden Themenspektrum zu finden, das die Strahlkraft theologischer Reflexion genauso unterstreicht wie ihre le­bensweltliche Integrationskraft und damit hervorragend an die theologiegeschichtliche Grundausrichtung der Gesamtreihe an­schließt. Die damit bereits angerissene historisch-kulturelle Be­deutung des ausgesprochen vielgestaltigen und gerade deshalb nicht immer klar zu bestimmenden oder abgrenzbaren Pietismus wird dann unter der Überschrift »Beziehungen, Wirkung und Rezeption« vertiefend aufbereitet.65 Gerade die ideen- und religionsgeschichtliche Verflechtung pietistischer Strömungen und Ge­dankenbildungen unterstreicht den Nutzen des Kompendiums neben anderen einschlägigen Überblickswerken noch einmal eindrücklich, die es auch nicht ersetzen, sondern denen es ergänzend zur Seite treten will.66

II Konzeptionelle Beobachtungen


Vor dem Hintergrund dieser mehr erinnernden und daher lediglich kursorischen Vorstellung der Einzelbände lässt sich nun zur Profilierung der Reihe insgesamt über das konzeptionell Verbindende nachdenken. In dieser Richtung fallen besonders zwei Aspekte ins Auge: Zuerst ist die folgenreiche Entscheidung auffällig, den nur schwer zu bändigenden Reichtum der Christentumsgeschichte entlang wirkungsreicher Persönlichkeiten organisiert zur Darstellung zu bringen. Das ist im Falle der zehn Kompendien, die prominente Namen im Titel führen, besonders augenfällig, gilt aber auch für das Pietismus Handbuch, das seinen Pietismus-Begriff letztlich über wirkmächtige Personen und deren Werk gewinnt.67 In übersichtliche, mit vertiefungsermöglichenden Bibliographien versehene Artikel aus der Feder einer stolzen Zahl ausgewiesener Expertinnen und Experten eingeteilt, präsentieren die Bände durchgängig eine beeindruckende Breite an Informationen zu den Denkern, denen sie jeweils gewidmet sind. Die konzeptionell übergeordnete Personenzentrierung bedeutet folglich keine prosopographische Engführung, sondern erlaubt detailreiche Panoramen und profunde Seiten-blicke, ja mithin die einführende Vorstellung ganzer Strömungen der Kirchen- und Theologiegeschichte.

Gerade die umfassende soziokulturelle Verortung erlaubt die Bestimmung des theologiegeschichtlich jeweils spezifischen Verhältnisses von prägenden Traditionen und nachweisbarer Originalität, von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von Transformationen und Brüchen. Zugleich stehen die ausgewählten Persönlichkeiten und Strömungen ideen- und theologiegeschichtlich miteinander in einem religiösen Gesamtzusammenhang, der verschiedene Kulturen und Jahrhunderte umspannt. Vor diesem religiös verbindenden Hintergrund verarbeiteten sie in nicht selten verschlungenen Prozessen der eigenständigen Ideenbildung vorgefundene, ihrerseits impulsgebende Eindrücke, die sie in Zustimmung oder Ablehnung aufnahmen und entsprechend affirmativ oder abgrenzend in die eigene Gedankenformung einflochten. Diese eigenständigen Aneignungen sollten sich in der kontextbeding ten Umformung des Überkommenen wiederum als produktiv erweisen, sofern sie bei Zeitgenossen und Nachlebenden durch wiederum aktualisierende Aneignung Denkprozesse anstießen. Die theologisch schöpferischen Potenziale entfalteten sich dann – mal in eruptiver Entladung, mal in allmählicher Veränderung – vor allem dadurch, dass Ideen unter transitorischen Bedingungen und Wahrnehmungsmustern in als drängend empfundene Problemkonstellationen eingebracht wurden. In den vielschichtigen ideengeschichtlichen Prozessen der Aneignung und Umformung waren die von den Tübinger Kompendien vorgestellten Persönlichkeiten also Subjekte und Objekte zugleich, und genau daraus resultieren ihre Wirksamkeit und Bedeutung.

Theologie als impulsaufnehmende Bewältigung sowie impulsfreisetzende Schaffung von Herausforderungen verband demnach religiös produktive Menschen und Lebensgeschichten, die durch Jahrhunderte, Regionen und Kulturen getrennt sein mögen, während sie der Denk- und Identifikationsrahmen derjenigen spannungsreichen Fülle in zeitlicher Erstreckung zusammenbringt und -hält, als welche das Christentum geschichtlich entgegentritt. Die Auswahl der in den Blick genommenen Personen und Phänomene richtet sich erkennbar nach didaktischen Erwägungen: Es ging darum, genauso umfassende wie verlässliche Orientierung zu Zentralstellen der Kirchen- und Theologiegeschichte zu bieten, die ihren festen Platz in der akademischen Lehre haben. Es handelt sich bei den behandelten Größen durchgängig um Gestalten, die die Eckpunkte oder Grundpfeiler etwa von Überblicksvorlesungen oder Abschlussprüfungen bilden und damit bis heute in verschiedenen Teildisziplinen der Theologie eine erhebliche Rolle im Zuge der gelehrten Wissensvermittlung spielen. Damit verknüpft wa­ren freilich auch ökonomische Überlegungen, zumal solche Größen aufgrund des ihnen zugesprochenen didaktischen Gewichts dann auch außerhalb der universitären Lehre Bekanntheit genießen, sei es in Gemeindekontexten, sei es im Religionsunterricht. Die Handbuchreihe ist demnach an einen bestimmten, durch ganz eigene kirchliche und theologische (Ausbildungs-)Traditionen gekennzeichneten Markt gerichtet.

In Anbetracht dessen ist sodann ein weiteres verbindendes Charakteristikum bemerkenswert: Die Perspektive auf die ausgewählten Akteure und Phänomene ist durch deren Wirkung und Rezeption bestimmt. Letztgenannten Punkten kommt damit die Darstellung und Wahrnehmung leitende Funktion zu. Die Personen, um die herum die einzelnen Handbücher inhaltlich organisiert sind, werden konsequent in ihren komplexen soziokulturellen Kontext eingestellt, wobei Umwelt, Prägungen, Lebensweg, Beziehungen, Werk, Denkgegenstände, Wirkung und Rezeption so ausgeleuchtet werden, dass vor allem eines einführend verdeutlicht und überblicksartig kontextualisiert wird: ihr theologiegeschichtliches Gewicht und darüber ihre Bedeutung. Die Auswahl richtet sich eben nach der theologischen und institutionell-curricularen Relevanz der einzeln oder gruppiert in den Blick genommenen Persönlichkeiten. Die wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Leitperspektive lässt sich freilich je nach persönlichen Erkenntnisinter-essen unterschiedlich veranschaulichen; mittels der geschickt disponierten Bände lassen sich unterschiedliche Bögen von einem Denker zum anderen und damit durch die Jahrhunderte der Chris-tentumsgeschichte schlagen.

Was zum Beispiel Augustin oder Thomas von Aquin trinitätstheologisch oder christologisch von Athanasius direkt oder vermittelt übernahmen und was daraus in der Verflechtung mit anderen soziokulturellen und religiösen Einflussfaktoren gedanklich ge­worden ist, bevor es dann seinerseits Gegenstand nachfolgender theologischer Denkarbeit wird, verdeutlicht das Studium nicht nur der Einzelbände, sondern auch und gerade aller drei betreffenden Kompendien miteinander.68 Das Zusammenspiel mehrerer Bände erweist sich ebenso bei theologie- und wissenschaftsgeschichtlich unmittelbar anschließenden Fragen als immens bereichernd, etwa wie Thomas zwischen Augustin und zentralen Ge­stalten der Reformation zu verorten und warum dabei zwischen faktischer Wirkung und bewusster Rezeption zu differenzieren ist.69 Diese ideen- und problemgeschichtliche Differenzierung, die nicht zuletzt für den historischen Nachvollzug und die theologische Einordnung der Reformation von Bedeutung ist, verdient weiterhin Beachtung, wenn beispielsweise reformatorische Theologie selbst zur affirmativ angeeigneten Voraussetzung schöpferischer ethischer und dogmatischer Gedankengebäude wird, die ungeachtet ihrer gemeinsamen theologiegeschichtlichen Wurzeln sehr unterschiedliche Entwicklungswege einschlugen, wie es bei Schleiermacher und Barth in ihren jeweiligen Kontexten der Fall war.70 Deren kritische Aufnahme setzte dann in vielschichtiger Wechselwirkung mit reformatorischen Prägungen bei und durch Bultmann neue Impulse zur Intensivierung der Beschäftigung mit den Ursprungsgestalten der christlichen Religion frei – Impulse, deren theologiegeschichtliche Qualität sich der Bündelung verschiedener prominenter Einflüsse seit Augustin verdankt und deren Strahlkraft bis in die Gegenwart reicht.71

Nicht zuletzt diesen aus bestimmten Bündelungsphänomenen resultierenden und noch heute wirksamen theologischen Impulsen Bultmanns dürfte die Tatsache geschuldet sein, dass in einer theologiehistorisch ausgerichteten Kompendienreihe den zwei bedeutendsten Personen des geschichtlichen Christentums eigene Handbücher gewidmet sind: Jesus und Paulus. Und damit schließt sich gewissermaßen der theologiegeschichtliche Kreis: Denn warum die religiösen Leitideen jener beiden Gründungsfiguren den wichtigsten Gegenstand und Bezugspunkt der lebensweltlich ge­bundenen Denkarbeit herausragender Theologen bildeten und bilden mussten, veranschaulichen die in den Tübinger Kompendien au fwendig vorgestellten Größen der Christentumsgeschichte meisterhaft.

Die darstellungsleitende Funktion des In- und Miteinanders von Wirkung und Rezeption ist besonders dort leicht begreiflich, wo verlässliche historische Daten nur in sehr begrenztem Maß überhaupt zur Verfügung stehen und die historische Konstruktionsleistung entsprechend gezwungen ist, von jenem In- und Miteinander auszugehen. Das zeigen exemplarisch die Artikel zu den ersten Spuren von Leben und Wirken Jesu, etwa der zu den »Frühe[n] Glaubensbekenntnissen« von Samuel Vollenweider, zu den damit thematisch zusammenhängenden »Christologische[n] Ho­heitstitel[n]« von David du Toit oder zur »Ethik (Bergpredigt)« von Ulrich Volp.72 Theologiegeschichtlich werden die Linien so aus-gezogen, dass sie im Grunde bereits die Perspektiven innerhalb des Kompendiums vorangegangener Abschnitte nachvollziehbar machen, wie beispielsweise in ethischer Richtung die Lektüre der gehaltvollen Beiträge Friedrich Wilhelm Horns zu »Nächstenliebe und Feindesliebe« und »Besitz und Reichtum« material deutlich macht.73 Es ist eben festzuhalten, »dass vom Wirken Jesu maßgebliche Impulse für die Entstehung der mit seinem Namen verbundenen Überlieferung ausgegangen sind«, wie Jens Schröter in seinem Artikel »Der ›erinnerte Jesus‹: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung« herausstellt.74 Es bietet sich folglich an, das Handbuch nicht nur von vorne nach hinten zu studieren, sondern beim letzten Hauptteil anzusetzen und von dort aus die vorgeschalteten Passagen zu den betreffenden Themenbereichen zu lesen, um sich die Darstellungsstruktur und -tradition, die den Tübinger Bänden konzeptionell zugrunde liegt, vor Augen zu stellen.

Die wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Option der (Re-) Konstruktion von Leben, Werk und Umwelt eröffnet auch das Paulus Handbuch: Die früh einsetzende und anhaltende Auseinandersetzung um sein Erbe verdeutlicht nicht nur der Beitrag zu »An­tipaulinismus und Paulinismus im neutestamentlichen Schrifttum« von Matthias Konrad.75 Im Kontext der Festigung und Durchsetzung einer bestimmten institutionellen Gestalt des Christentums zukunftsweisend sollte der Umgang mit dem Werk des Apostels durch Markion werden: Bei allen Rekonstruktionsproblemen der Theologie Markions verstand dieser »offenbar seine eigene theologische Frontstellung und seine eigene Textkritik als Verlängerung der Auseinandersetzung des Paulus mit seinen ga-latischen Gegnern«, ohne dass die »erkennbare theologische Leit-perspektive Markions […] in irgendeiner evidenten Weise bei den Grundgedanken des historischen Paulus« anknüpfte, erklärt Winrich Löhr im Artikel »Markion«.76 Vor diesem vielschichtigen Hintergrund findet Paulus dann Aufnahme in den bekannten Entwurf eines Bibelkanons, wodurch die Zeugnisse seiner originellen religiösen Gedankenbildung zum festen Bestand der laufenden Institutionalisierungsprozesse und -konflikte wurden. Von hier aus gewinnt ein Rezeptionszusammenhang historische Kontur, der das Interesse auf ekklesiologische Konzeptionen lenkt, wie sie Jörg Frey am Beispiel der »Ämter« oder Christine Gerber in ihrem Beitrag »Das Apostolatsverständnis und die Beziehung von Apostel und Gemeinden zueinander« exemplarisch untersuchen.77

Beschränken sich die Ausführungen zu Wirkung und Rezeption in den Jesus und Paulus gewidmeten Kompendien aus religions- und kulturgeschichtlich pragmatischen Gründen auf das nähere zeitliche Umfeld, gewinnt die genannte Rubrik in den Handbüchern zu Athanasius und Augustin deutlich an Gewicht. Das gilt schon quantitativ: Im Vergleich zum Paulus Handbuch ist der Umfang des vierten Hauptteils des Athanasius Handbuchs verdoppelt; die dortigen wirkungs- und rezeptionsgeschichtlichen Artikel reichen nun bis ins 21. Jh. und berücksichtigen verschiedene kirchlich-theologische Kulturen. Neben der koptischen, syrischen sowie armenischen Aneignungstradition, die die Beiträge von Bernd Witte, Karl Pinggéra und Anahit Avagyan vorstellen,78 kommt im Kontext der mittelalterlichen Rezeption bei Peter Gemeinhardt »Der Osten« und bei Volker Leppin »Der Westen« in den Blick.79 Vor diesem Hintergrund sind die Beobachtungen Hanns Christof Brenneckes zu »Athanasius in der Sicht der Reformatoren« und zu seiner anschließenden Rezeption im sogenannten Konfessionellen Zeit-alter diskurgeschichtlich erhellend, erfuhr die Wahrnehmung des Kirchenvaters doch im Übergang zum 18. Jh. vor allem durch Gottfried Arnold eine bemerkenswerte polemische ›Wende‹.80 Der auch und gerade vergleichende Überlegungen ermöglichende Durchmarsch durch die Jahrhunderte mündet in den Artikel Ge­meinhardts zu »Athanasius im ökumenischen Gespräch«: In diesem Rahmen hänge viel davon ab, »ob sich im ökumenischen Ge­spräch ein gemeinsames Verständnis der altkirchlichen Tradition und ihrer Dogmen im Verhältnis zur Heiligen Schrift entwickeln lässt. Dass Athanasius’ Position hier spezifisch polyvalent bleibt, ermöglicht erst die vielfache Anknüpfung an ihn als einen ›öku-menischen Kirchenvater‹«.81 Von dieser Schlussdiagnose aus dann noch einmal die Kapitel zu Person und Werk des Athanasius zu studieren, stellt eine besonders reizvolle Lektürerichtung dar, wenn es darum geht, jener Polyvalenz auf die Spur zu kommen. Ähnlich vielschichtig und umfangreich fällt der vierte Hauptteil des Augustin Handbuchs aus, der sich nach seiner Überschrift auf ausgewählte »Aspekte der Wirkungsgeschichte« beschränkt bzw. sich in Anbetracht der schieren Menge des Möglichen beschränken muss. Institutionelle Aspekte – wie die Regula Augustini oder die Augustinrezeption in spätmittelalterlichem Universitätswesen und Humanismus, die von Ulrich Köpf behandelt werden82 – stehen neben personenorientierten Artikeln, die mit dem Beitrag zu Luther von Albrecht Beutel und zu Calvin von Anthony N. S. Lane auch Protagonisten anderer Kompendien unmittelbar in den Blick nehmen.83 Die Sichtung der Wirkung und Rezeption Augustins zeitlich bis in den »katholische[n] Augustinismus von Baius bis Jansenius«, mit dem sich Gaetano Letteri befasst,84 erlaubt auch hier Rückschlüsse auf die Auswahl der als darstellungsrelevant erachteten Beiträge in den vorangestellten Hauptteilen zu Person und Werk, wobei sich die Einteilung letztgenannter Rubrik in Werke und Themen in ergänzender und bündelnder Hinsicht als besonders glücklich erweist. Das verdeutlicht gerade der von Volker Henning Drecoll verfasste Artikel »Querbeziehungen im Denken Augustins«.85 Es sind jedenfalls mehrheitlich die großen Themen der geschichtlichen, diskursiven Augustin-Aneignung, die das historisch-theologische Interesse am wirkungsreichen Denken des Kirchenvaters bis heute prägen und strukturieren.

Das lässt sich mittels der Handbücher zu zwei maßgeblichen Gestalten der Reformationsgeschichte veranschaulichen. Für die gedankliche Ausformung der Theologie Luthers war Augustin eine zentrale Größe, ist doch »der Zusammenhang zwischen der Berufung seines Ordens auf den Bischof von Hippo als seinen Gründer und Luthers theologischen Bemühungen offenkundig«, wie Volker Leppin im Artikel »Kirchenväter« im zweiten Hauptteil des Luther Handbuchs im Kontext der vielfältigen Prägungen des Reformators herausstellt.86 Dessen kontroverse Rezeption spiegelt sich dann ihrerseits im ihm gewidmeten Kompendium, wenn es sich vor dem Hintergrund der besonders im Umfeld der Reformationsdekade eine breitere Öffentlichkeit erreichenden Debatte über die Verortung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit, die aus theologisch-programmatischen Gründen oftmals an die Frage nach dem schöpferischen Potenzial reformatorischer Theologie gekoppelt wurde, um positionelle Ausgewogenheit bemüht. Gleichwohl scheint eine gewisse Tendenz bezüglich der Verortung und Wertung Luthers spürbar: Die bereits bemerkte Rede von der »religiösen Leitidee« Luthers, zu finden im ebenso betitelten Beitrag Dietrich Korschs,87 weist in eine bestimmte Richtung, zumal wenn es darum geht, »eine Vorstellung davon zu vermitteln, was Luther zur Ausbildung einer ihm eigentümlichen Theologie bewegt hat, und Auskunft darüber zu geben, welches elementare Thema im Zentrum steht«88. Theologie und vor allem Lehrbildung werden damit zu Epiphänomenen eben einer religiösen Leitidee in Gestalt der Neubestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses. Die sich gerade darin äußernde originelle Qualität im Denken Luthers wird allerdings nicht mit der Frage der historischen Epochenzuordnung des Reformators verquickt, was einer diskursiven Entlastung des gesamten Argumentationsgangs gleichkommt. Inwiefern sich dann Möglichkeiten bieten, jene fundamentale Neubestimmung in theologische Strukturen zu überführen und so zu operationalisieren, veranschaulichen die drei Artikel Albrecht Beutels zu »Theologie als Schriftauslegung«, »Theologie als Unterscheidungslehre« und »Theologie als Erfahrungswissenschaft«.89 Dass sich diese Strukturierungsversuche wiederum spezifischen Aneignungsgestalten Luthers verdanken, die selbst Äußerungen bestimmter Deutungstraditionen sind, macht sie rezeptions- und forschungsgeschichtlich mit Hilfe der gewissermaßen rahmenden Beiträge »Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts« von Volker Leppin und »Im 19. Jahrhundert« von Christopher Spehr lokalisierbar.90 Wie für Luther war Augustin auch für Calvin im Zusammenhang von dessen umfassender Kirchenväterrezeption eine maßgebliche Referenzgröße, wie neben dem Überblick »Calvin und die Kirchenväter« von Irena Backus91 diverse Artikel zu den leitenden Themen der Theologie des Reformators ausweisen. Von den Kompendien zu Luther und Calvin aus auf das Augustin Handbuch zurückzubli-cken, ist wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich entsprechend aufschlussreich. Während das Luther Handbuch aber weitestgehend positionell ausgewogen ist, indem es Vertretern sehr unterschiedlicher Lutherdeutungen Raum gibt, fällt das Calvin Handbuch anders aus. Einen sozial- oder ideengeschichtlich ausgerichteten Artikel, der in konstruktiver Richtung die berühmt-berüchtigte, bis heute interdisziplinär viel diskutierte und daher ganz offenkundig hochgradig anregende Interpretationslinie Max Webers verfolgt, sucht man beispielsweise vergebens. Damit korrespondiert einerseits die auffällig geringe Zahl der Weber-Nennungen, die ein Blick ins Personenregister offenbart,92 andererseits die warnend-abwehrende Grundhaltung, wenn der international wohl wirkungsreichste Calvinismus-Interpret dann doch mal genannt wird. So erklärt Dolf Britz in seinem Beitrag »Politik und soziales Leben«: »Sozialhistoriker wie Max Weber (1864–1920) verstehen Calvins Vorstellung be­züglich Eigentum, Geld und Zinsnehmen als einen entscheidenden Schritt in der Wirtschaftsgeschichte der Welt. Daher gilt er ihm als der Vater des modernen Kapitalismus. Diese Theorie sollte mit Vorsicht behandelt werden.«93 Das sollte sie wohl, träfe diese mutatis mutandis nicht selten anzutreffende Verkürzung denn zu. Dass und warum sie das nicht tut, muss hier nicht ausgeführt werden; über sie hinauszugehen, hätte gerade einem Einführungs- und Überblickswerk jedenfalls gut zu Gesicht gestanden. Die Vernachlässigung der einflussreichen Weber-Linie färbt zwangsläufig auf andere nicht minder bemerkenswerte In­terpretationslinien ab, wenn beispielsweise mit Ernst Troeltsch der für die theologiegeschichtliche Einordnung Calvins wichtigste Gesprächspartner Webers nur zweimal namentlich auftaucht. Im Gegensatz zu Weber wird Troeltsch jedoch sowohl im Artikel von Herman J. Selderhuis über »Calvinbilder: Bilder und Selbstbild«94 als auch in den Ausführungen von Christoph Strohm zu »Recht und Kirchenrecht« zutreffend gewürdigt.95 Gegenüber Weber und Troeltsch erhält die Aneignungs- und Deutungstradition Barths sowie der sogenannten Dialektischen Theologie klar den Vorzug.

Von einer solchen unzweideutig positionellen Gewichtsverteilung ist das Thomas Handbuch frei. Als einziges primär dem Mittelalter vorbehaltenes Kompendium unternimmt es vielmehr zweierlei: Zum einen führt es entlang von Leben und Werk des Aquinaten grundlegend in eine Epoche ein, deren Beachtung im theologischen Lehrbetrieb zu ihrer Dauer und ihren Leistungen oftmals in einem bemerkenswerten Missverhältnis steht; sodann verdeutlicht es die erhebliche Bedeutung von Wirkung und Rezeption des Thomas für die lateineuropäische Christentumsgeschichte. Dass hier nicht die reformatorischen Deutungs- und Aneignungslinien im Vordergrund stehen, sondern die spätmittelalterlichen und später dann katholischen, illustrieren die Artikel von Markus Wriedt über »Reformatorische Auseinandersetzung« und von Peter Walter über »Die Ausbildung einer thomistischen Schule seit dem 15. Jahrhundert« sowie zum sogenannten Neuthomismus.96 Damit nimmt das Thomas Handbuch neben seiner epochalen Zuordnung auch bezüglich des theologischen Spektrums seiner profunden rezeptionsgeschichtlichen Passagen eine Sonderstellung ein, wenn hauptsächlich die katholische Theologiegeschichte vorgestellt wird. Entsprechend nimmt auch der erste den Strukturen im Denken des Thomas gewidmete Artikel zu »Theologie und Philosophie« von Volker Leppin seinen Ausgang bei einem Befund zur katholischen Theologie des 19. Jh.s, bevor Notger Slenczka über die »Scientia practica« und Ulrich Köpf über die »Theologie als praktische Aufgabe: Die Summa Theologiae und der theologische Lehrbetrieb« die strukturellen Linien weiter ausziehen.97 Auch das zweite einem vorzüglichen Aristoteles-Kenner gewidmete Kompendium sticht auf ganz eigene Weise aus der Reihe heraus, wie der bereits beschriebene Aufbau und die daraus sprechende Konzeption des Schleiermacher Handbuchs vor Augen stellen. Dass dabei – wie bereits erwähnt – die Kritik im wirkungs- sowie rezeptionsgeschichtlichen Schlussteil des Kompendiums ausdrücklich mitberücksichtigt wird, verweist darauf, dass das Werk Schleiermachers schon zu dessen Lebzeiten Diskussionen anstieß, die theologiegeschichtlich gerade dadurch produktiv wurden, dass sie sich zu keiner Zeit in unkritischer Fortschreibung erschöpften. Eine solche Fortschreibung war im Denken Schleiermachers auch nicht angelegt, zu offen, zu spannungsreich fiel es dafür aus. So blieben bereits zeitgenössische »Zeugnisse der Be­wunderung nie gänzlich frei von Vorbehalten«, wie Martin Ohst bezüglich Schleiermachers Rezeption »Bei Lebzeiten« attestiert.98 Schließlich war sein vielschichtiges Werk selbst bereits spezifischer Ausdruck theologischer Positionalität und wurde daher selbst rasch Objekt wiederum positioneller Aneignung, Distanzierung und Weiterentwicklung. Entsprechend erlebte besonders seine Theologie bis ins frühe 20. Jh. dezidiert kritische Anknüpfungen, die Friedemann Voigt in zwei Artikeln vorstellt99 und die Hermann Fischer ebenfalls in zwei Beiträgen bis ins 21. Jh. weiterverfolgt.100 Damit wirkte Schleiermacher in eine Vielzahl der theologischen Strömungen und Programme hinein, in deren Bewusstsein um die eigene Historizität und Positionalität sich sein bleibendes Anregungspotenzial genauso manifestieren sollte wie sein erheblicher Einfluss.

»Zum Verständnis der Rezeptionsgeschichte ist es erforderlich, zwischen den vorgegebenen allgemeinen Rezeptionsbedingungen im gesellschaftlich-geistigen Klima der Zeit und den speziellen Rezeptionsangeboten zu unterscheiden, die von ästhetischen und theoretischen Konzepten ausgehen, wie sie in Texten und anderen Medien Ausdruck finden«, erklärt Dietrich Korsch und entfaltet von dort aus seinen Überblick über Wirkung und Rezeption Karl Barths »In den 1920er Jahren«.< /span>101 Darüber wird im Barth Handbuch ein eindrückliches Panorama über die positionelle Ausdifferenzierung der sich immer wieder verändernden theologischen Landschaft bis zum Beginn des 21. Jh.s eröffnet, für die gerade die Theologie Barths mit ihren vielfältigen Prägungen, ihren Ambivalenzen und Unabgeschlossenheiten eine erhebliche Rolle spielte. Deren Ausstrahlung bis weit ins 20. Jh., auf die Barth selbst über weite Strecken mit wechselndem Erfolg und Geschick Einfluss zu nehmen suchte, »lässt erkennen, dass die Theologie weithin mit der Bestimmung ihres Verhältnisses im Gegenüber zur Neuzeit bzw. Moderne und ihren Herausforderungen beschäftigt ist«. So diagnostiziert Stefan Holtmann in seinem Artikel zu den »Paradigmenwechseln der 1970er Jahre«102 und verweist damit auf eine zentrale ideen- und institutionengeschichtliche Kontinuitätslinie inmitten jener Ausdifferenzierungen und Veränderungen, die zuvor Ulrich H. J. Körtner am Beispiel der »Blütezeit der Theologie Bultmanns« beleuchtet.103 Die von Barth selbst eingeleitete und von seinen Anhängern fortgesetzte Ausschärfung des Gegensatzes zwischen Barth- und Bultmannschule, die auch bemerkenswerte Eindrücke von Barths nicht gerade mit Bescheidenheit geschlagener Selbstdeutung gewährt,104 richtete sich im Kern gegen ein positionell konkurrierendes Gedankengebäude von ebenfalls beachtlicher Bündelungs- sowie Strahlkraft, die ihren Niederschlag nicht zuletzt in der Existenz des Bultmann Handbuchs finden. Wie Andreas Lindemann in seinem Beitrag zur »Bultmannschule« ausführt, verdankt sich schon deren erste Konstruktion jener letztlich konkurrenzbedingten Ablehnung durch Barth.105 Diese hinderte die diskursdynamisierende und forschungsstimulierende Wirkung der Theologie Bultmanns freilich nicht, ganz im Gegenteil, wie zum Beispiel Stephan Schaede entlang der »Entmythologisierungsdebatte« und Enno Edzard Popkes sowie Hartmut Rosenau in ihrem Überblick über die »Bultmann-Rezeption in der Systematischen Theologie und in der neueren religionsgeschichtlichen Debatte« vorführen.106 Bezeichnend ist dabei die – je nach Austauschpartner zumindest streckenweise – Offenheit Bultmanns gegenüber Gesprächspartnern verschiedenster positioneller Couleur und disziplinärer Ausrichtung: Ob die von Alexander Heit ausgeleuchteten Beziehungen zu Martin Rade oder Friedrich Gogarten,107 die freundschaftlichen Gespräche mit Hans von Soden, vorgestellt von Wolfram Kinzig,108 und mit Hans Jonas, aufbereitet von Konrad Hammann,109 oder die von Arnulf von Scheliha behandelten kritischen Auseinandersetzungen mit Emanuel Hirsch110 und mit Rudolf Otto, die Andreas Großmann in den Blick nimmt111 – Bultmanns Ansätze und Vorschläge wurden breit wahrgenommen und erwiesen sich gerade darin als ausgesprochen produktiv.

Die sich besonders in den programmatischen Debatten des 19. und 20. Jh.s aussprechende positionelle Differenzierung der evangelischen Theologie schlug sich auch auf dem Feld der historisch-kategorialen Konstruktionen nieder, die rasch dort repristinativen Charakter gewannen, wo Gegenwartsbezug und Historisierung aus theologie- und kirchenpolitischen Gründen Hand in Hand gingen. Das betraf auch die Wahrnehmung derjenigen Gestalt des frühneuzeitlichen Protestantismus, der sich das Pietismus Handbuch annimmt. »Die Beschäftigung mit dem Pietismus hatte in der Erweckungsbewegung also auch eine aktuelle semantische Di­mension, die zwar nicht ihre historische Einschätzung determinierte, die aber ihre Redeweise und Perspektive entscheidend mitprägte«, führt beispielsweise Jan Carsten Schnurr bezüglich der Pietismuswahrnehmung in der sogenannten Erweckungsbewegung aus.112 Wer warum von wem eigentlich als Pietist zu bezeichnen war, was den Pietismus in seiner ganzen Vielstimmigkeit überhaupt theologisch-programmatisch ausmachte, war freilich nicht erst im 19. Jh. Gegenstand der Diskussion: Bereits im 17. und 18. Jh. erfolgte die Profilierung durch umfassende »Kontroversen und Kritik«, wie der Artikel Martin Gierls überschrieben ist.113 Diskurs und Polemik gingen dabei der Historisierung des Phänomens voran und hinterlassen in der entsprechend interessierten Forschung noch bis heute ihre Spuren, wenn etwa zur Beschreibung des Pietismus die Konstruktion einer »Orthodoxie« gleichsam als Negativfolie herangezogen wird, wie der Beitrag »Pietismus und Lutherische Orthodoxie« von Markus Matthias veranschaulicht.114 In derartigen kategorial-asymmetrischen Dualen spiegeln sich die großen Kontroversen der Vergangenheit und ihre positionellen Aneignungen seit dem späten 18. Jh., worin ein bedeutendes wirkungs- und rezeptionsgeschichtliches Moment keineswegs nur des Pietismus zu sehen sein wird.

III Fazit und Ausblick


Es sei im Rahmen dieser Gesamtschau und vor dem Hintergrund der gewählten konzeptionellen Blickrichtung bei diesen Kostproben belassen, um bestimmte theologiegeschichtliche Zusammenhänge in Gestalt spezifischer Wirkungs- und Rezeptionsprozesse zu illustrieren. Freilich ergeben sich aus anderen Perspektiven rasch ihrerseits spezifische Lesarten und Kombinationsvarianten der gewichtigen Einführungs- und Überblickswerke. Dass und warum zum Beispiel Ekklesiologie, Lehrbildung oder Askeseverständnis im Nordafrika des 4. Jh.s andere Gestalten gewannen als im Mitteleuropa des 16. Jh.s, dass und warum Christologie, Ethik und Wissenschaftsverständnis im mittelalterlichen Paris anders ausfielen als im neuzeitlichen Berlin, dass und warum sie aber bei aller historischen Differenz und Kontingenz doch durch einen bestimmten theologiegeschichtlichen Rahmen zusammengehalten wurden und werden, stellen die Handbücher genauso facettenreich wie instruktiv vor Augen.

Dabei gilt für die Gegenstände aller Bände der Tübinger Reihe, was zu Beginn des Athanasius Handbuchs konstatiert wird: Die Forschung »ist vielfach im Fluss«115. Diesen Fluss zumindest für einen gewissen Moment und zugunsten eines breiteren Publikums zu bändigen, ist das hervorragende Verdienst der Kompendien. Sie führen unter Beteiligung einer Vielzahl von Expertinnen und Ex­perten Grundinformationen, Detailwissen und Forschungsstand strukturiert zusammen, so dass das durchgängige In- und Miteinander von reicher Fülle, grundsätzlicher Orientierung und wissenschaftlicher Verlässlichkeit die Bände allesamt auszeichnet. So verbinden sie in rezeptions- und wirkungsgeschichtlicher Perspektivierung den Sinn für das Wesentliche mit dem Blick für die großen Zusammenhänge. Sinn und Blick setzen ihrerseits den historischen Stoff orchestrierende Strukturierungsleistungen voraus, die Wesentliches und Zusammenhänge innerhalb der getroffenen Auswahl theologiegeschichtlich überhaupt erkennbar werden lassen, wenn es darum geht, aus der Menge des Möglichen das zu Einführungs- und Überblickszwecken Relevante auszuwählen und darstellerisch in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Die zu diesem Zweck gewählte Transferoption, über Personen oder Gruppenphänomene repräsentativ die Geschichte des Christentums in ihrer kulturellen Vielfalt und ihrem theologischen sowie institutionellen Spannungsreichtum vorzustellen, folgt einem in der deutschsprachigen Theologie freilich bewährten Ansatz. Diesem liegt eine ganz bestimmte Einsicht zugrunde, nämlich »daß wir von dem leben, was uns große Individuen darreichen und daß zwar der vergangene Geschichtslauf ewig vergangen bleibt, daß aber ein gutes, zeugungskräftiges Wort sammt der Person, die hinter ihm steht, eine ewige Gegenwart hat u. Gegenwartskraft be­sitzt«, wie Adolf von Harnack formulierte.116

Und das, was uns »große Individuen« darreichen, ja was sie uns in der theologiegeschichtlichen Rückschau überhaupt als »große Individuen« entgegentreten lässt, sind religiöse Ideen, die in von der Person und ihrer Lebenswirklichkeit nicht ablösbares »zeugungskräftiges Wort« überführt werden, dessen anhaltende Anregungsqualität zum entscheidenden Auswahlkriterium erhoben wird. Damit ließe sich zugespitzt vielleicht auch das entsprechend traditionsreiche Ansinnen hinter den hier im Mittelpunkt stehenden Kompendien beschreiben: Die gewählten Gegenstände – seien es Einzelpersonen, seien es Gruppenphänomene – stehen gleichsam an theologiegeschichtlichen Stellweichen, sind von Kirchen- und Theologiegeschichte überschreitender kulturprägender Kraft und behaupten auch deshalb ihren festen Platz im Studienbetrieb der Gegenwart. Erfreulich ist dabei die Aussicht, dass die Reihe das inner-, aber eben auch das außerwissenschaftliche Interesse zu weiteren Personen und Phänomenen bedienen wird: In der Personenabteilung sind Bände zu Origenes und Bonhoeffer, in der an Epochen oder Phänomenen orientierten Serie Handbücher zu den Evangelien, zum Mönchtum, zur Diakonie, zur Reformation, zur Theologischen Aufklärung und zur Zweiten Kaiserzeit angedacht. Der somit auch weiterhin bereitgestellte Reichtum an Impulsen und Ergebnissicherungen dürfte jedenfalls kaum zu überschätzen sein und muss keinen internationalen Vergleich scheuen. Zudem verdient es im Rahmen der kirchlich-theologischen Bewertung laufender und absehbarer gesamtgesellschaftlicher Strukturveränderungen doch einige Beachtung, dass und warum ein ökonomisch insgesamt bislang aufgegangenes und daher fortgesetztes Unternehmen wie die Tübinger Reihe für das Interesse, das Bildungsniveau sowie die Größe des Marktes spricht, den die deutschsprachige Theologie auch heutzutage noch bedient.

Fussnoten:

1) Die Personenserie zählt bislang zehn Bände: Schröter, Jens, u. Christine Jacobi [Hgg.]: Jesus Handbuch. Hg. unter Mitarbeit v. L. Nogossek. Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 685 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783161538537; Horn, Friedrich Wilhelm [Hg.]: Paulus Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVI, 653 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161500831; Gemeinhardt, Peter [Hg.]: Athanasius Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XV, 578 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161500794; Drecoll, Volker Henning [Hg.]: Augustin Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XIX, 799 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161482687; Leppin, Volker [Hg.]: Thomas Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 523 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 116,00. ISBN 9783161500848; Beutel, Albrecht [Hg.]: Luther Handbuch. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2017 [1. Aufl. 2005]. XVI, 611 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783161538926; Selderhuis, Herman J. [Hg.]: Calvin Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 569 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 39,00. ISBN 9783161497919; Ohst, Martin [Hg.]: Schleiermacher Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 535 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 59,00. ISBN 9783161503504; Beintker, Michael [Hg.]: Barth Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XVIII, 538 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161500770; Landmesser, Christof [Hg.]: Bultmann Handbuch. Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XI, 546 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161516887. Hinzu trat jüngst der erste Band der an Gruppenphänomenen und Epochen orientierten Abteilung: Breul, Wolfgang [Hg.]: Pietismus Handbuch. Hg. in Zusammenarbeit m. Th. Hahn-Bruckart. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XI, 797 S. = Handbücher Theologie. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161599095.
2) Albrecht Beutel, Vorwort, in: Ders. [Hg.], Luther Handbuch. 1. Aufl., Tübingen 2005, V f., hier: V. Ich danke Albrecht Beutel und Christoph Markschies sowie verlagsseitig Henning Ziebritzki herzlich für den offenen Austausch und die Hintergrundinformationen. Für wertvolle Hinweise gehört auch Andrea Hofmann, Volker Leppin und Ulrich Volp mein Dank.
3) Albrecht Beutel, Vorwort zur dritten Auflage, in: Luther Handbuch3 (s. Anm. 1), V.
4) Die Knappheit der Vorstellung der Einzelbände mag angesichts schon erschienener Besprechungen der meisten Kompendien verschmerzbar sein. In der ThLZ selbst beispielsweise waren zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags im Frühsommer 2021 bereits Besprechungen zur Mehrzahl der Bände erschienen. Ausnahmen bildeten lediglich das Calvin Handbuch, die Neuauflagen des Luther Handbuchs und das Schleiermacher Handbuch. Eine Rezension des frisch erschienenen Pietismus Handbuchs lag zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags im Juli 2021 noch nicht vor.
5) Vgl. Jesus Handbuch (s. Anm. 1), VII–X, und Schleiermacher Handbuch (s. Anm. 1), VII–IX, mit den Inhaltverzeichnissen der Kompendien zu Paulus, Athanasius, Augustin, Thomas, Luther, Calvin, Barth und Bultmann.
6) Jesus Handbuch (s. Anm. 1), 15–124.
7) A. a. O., 125–181.
8) A. a. O., 183–486.
9) A. a. O., 487–561.
10) Paulus Handbuch (s. Anm. 1), 1–41.
11) A. a. O., 43–134.
12) A. a. O., 136–517.
13) A. a. O., 519–574.
14) Athanasius Handbuch (s. Anm. 1), 2–18.
15) A. a. O., 21–73.
16) A. a. O., 73–164.
17) A. a. O., 166–343.
18) A. a. O., 345–461.
19) Augustin Handbuch (s. Anm. 1), 2–18.
20) A. a. O., 20–168.
21) A. a. O., 168–218.
22) A. a. O., 218–247.
23) A. a. O., 250–556.
24) A. a. O., 558–645.
25) Thomas Handbuch (s. Anm. 1), 1–28.
26) A. a. O., 29–68.
27) A. a. O., 68–126.
28) A. a. O., 126–157.
29) A. a. O., 159–424.
30) A. a. O., 425–452.
31) Luther Handbuch3 (s. Anm. 1), 1–54.
32) A. a. O., 55–106.
33) A. a. O., 106–131; zur »religiösen Leitidee Luthers« (121) s. 115–121.
34) A. a. O., 131–296.
35) A. a. O., 297–508.
36) A. a. O., 509–550.
37) Calvin Handbuch (s. Anm. 1), 2–9.
38) A. a. O., 9–22.
39) A. a. O., 24–126.
40) A. a. O., 126–170.
41) A. a. O., 172–359.
42) A. a. O., 359–389.
43) A. a. O., 392–519.
44) Schleiermacher Handbuch (s. Anm. 1), 1–20.
45) A. a. O., 21–57.
46) A. a. O., 59–425.
47) A. a. O., 427–487.
48) Barth Handbuch (s. Anm. 1), 1–11.
49) A. a. O., 13–158.
50) A. a. O., 158–182.
51) A. a. O., 183–422.
52) Vgl. a. a. O., 184–237 und 404–422.
53) A. a. O., 423–468.
54) Bultmann Handbuch (s. Anm. 1), 1–2.
55) A. a. O., 14–23.
56) A. a. O., 24–150.
57) A. a. O., 150–173.
58) A. a. O., 175–400.
59) A. a. O., 401–474.
60) Pietismus Handbuch (s. Anm. 1), 1–41.
61) A. a. O., 43–93.
62) A. a. O., 95–210.
63) A. a. O., 211–340.
64) A. a. O., 341–566.
65) A. a. O., 567–634.
66) Vgl. exemplarisch a. a. O., V.
67) Vgl. a. a. O., 95–210.
68) Vgl. etwa Athanasius Handbuch (s. Anm. 1), 383–389 und 421–424, mit Augustin Handbuch (s. Anm. 1), 104–106 und 124–126, sowie Thomas Handbuch (s. Anm. 1), 68 –75.
69) Vgl. exemplarisch Augustin Handbuch (s. Anm. 1), 595–610, mit Thomas Handbuch (s. Anm. 1), 68–90.280–285.362–374.392–395 und 433–439, Luther Handbuch3 (s. Anm. 1), 84–90 und 144–150, sowie Calvin Handbuch (s. Anm. 1), 375–398 und 437 f.
70) Vgl. dazu beispielsweise Luther Handbuch3 (s. Anm. 1), 30–32 und 542 f., sowie Calvin Handbuch (s. Anm. 1), 480–496, mit Schleiermacher Handbuch (s. Anm. 1), 277–279.349–399 und 414–421, sowie Barth Handbuch (s. Anm. 1), 127–137.247–265 und 321–328.
71) Vgl. u. a. Schleiermacher Handbuch (s. Anm. 1), 484, Barth Handbuch (s. Anm. 1), 96–101 und 437–456, sowie Bultmann Handbuch (s. Anm. 1), 24–79.213–280 und 402–431.
72) Jesus Handbuch (s. Anm. 1), 504–526.552–561.
73) A. a. O., 432–445.
74) A. a. O., 112–124, hier: 117.
75) Paulus Handbuch (s. Anm. 1), 552–557.
76) A. a. O., 560–563, hier: 562.
77) A. a. O., 408–412.416–420.
78) Athanasius Handbuch (s. Anm. 1), 390–397.397–407.407–415.
79) A. a. O., 416–420.421–425.
80) A. a. O., 440–444.444–447.
81) A. a. O., 459–461, hier: 460.
82) Augustin Handbuch (s. Anm. 1), 565–570.608–613.613–615.
83) A. a. O., 615–622.622–627.
84) A. a. O., 633–645.
85) A. a. O., 547–556.
86) Luther Handbuch3 (s. Anm. 1), 65–70, hier: 66.
87) A. a. O., 115–121, hier: 121.
88) A. a. O., 115.
89) A. a. O., 493–499.499–503.503–508.
90) A. a. O., 28–42.534–544.
91) Calvin Handbuch (s. Anm. 1), 126–137.
92) A. a. O., 561.
93) A. a. O., 431–442, hier: 434.
94) A. a. O., 2–9, hier: 5.
95) A. a. O., 392–401, hier: 395.
96) Thomas Handbuch (s. Anm. 1), 433–436.436–443.444–452.
97) A. a. O., 410–417.417–421.421–424.
98) Schleiermacher Handbuch (s. Anm. 1), 428–442, hier: 429.
99) A. a. O., 442–455.455–465.
100) A. a. O., 465–475.476–487.
101) Barth Handbuch (s. Anm. 1), 424–430, hier: 424
102) A. a. O., 451–456, hier: 456.
103) A. a. O., 444–450.
104) A. a. O., 445.
105) Bultmann Handbuch (s. Anm. 1), 402–410, hier: 403.
106) A. a. O., 411–416.441–453.
107) A. a. O., 57–60.63–69.
108) A. a. O., 91–98.
109) A. a. O., 112–115.
110) A. a. O., 98–101.
111) A. a. O., 101–103.
112) Pietismus Handbuch (s. Anm. 1), 615–625, hier: 625.
113) A. a. O., 494–502.
114) A. a. O., 81–93.
115) Athanasius Handbuch (s. Anm. 1), V.
116) Adolf Harnack, Brief an Hans Pöhlmann (1910), in: Briefe aus dem 20. Jahrhundert, hgg. v. Andreas Bernard u. Ulrich Raulff, Frankfurt a. M. 2005, 23.