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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

183–184

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hartog, Pieter B., Ladermann, Shulamit, Tohar, Vered, and Archibald L. H. M. van Wieringen [Eds.]

Titel/Untertitel:

Jerusalem and Other Holy Places as Foci of Multireligious and Ideological Confrontation.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2021. VIII, 389 S. = Jewish and Christian Perspectives Series, 37. Geb. EUR 138,00. ISBN 9789004437180.

Rezensent:

Ulrike Bechmann

Die niederländischen wie israelischen Herausgeber des Sammelbandes vereint 18 Beiträge einer interdisziplinären Tagung des Schechter Institute in Jerusalem 2018 zu dem Themenkomplex Heiligkeit, Heilige Orte, Identität(en) und interreligiöse Auseinandersetzungen und Begegnungen an diesen Orten. Viele, wenn auch nicht alle, Beiträge stellen einen Bezug zu Jerusalem als für Judentum, Christentum und Islam zentralen heiligen Ort her. Durch welche Konstruktionen werden Orte zu »heiligen« Orten, wie wirkt ihre identitätsbildende Kraft und deren Transformation in diversen Kontexten? Mit diesen Fragen werden die Orte, Texte und Prozesse auf ihre multireligiösen und konfrontativen Dimensionen von Auseinandersetzungen in sehr diversen Zeiträumen untersucht.
Man kann den Band als Kaleidoskop bezeichnen, denn jeder Beitrag liefert andere Perspektiven. Die Sujets decken einen weitgespannten Rahmen ab, entsprechend der vielfältigen Fächer, die vertreten sind. Es geht um konkrete Heilige Orte in Jerusalem, Hebron und Galiläa oder Sardis genauso, wie um die Identitätserfahrung in Computergames, von literarischer Konstruktion von Heiligkeit in biblischen wie rabbinischen Texten, um die rhetorische Figur der Aposiopese in der Bibel bis zu Prozessen um heilige Orte in den Niederlanden. Die Beiträge sind alphabetisch geordnet: »We see the reader of this volume as one who wanders through the timeline … Reading the volume this way will endow the reader with the essence of the mystery and transcendental features that create holy spaces.« (6-7).
Im Folgenden werden die Artikel themenbezogen vorgestellt, zunächst die Beiträge, die konkrete Orte in den Fokus nehmen.
Dass Heiligkeit das Konstrukt einer Erinnerungslandschaft ist, wurde in Bezug auf das Heilige Land schon vielfach (z. B. Klaus Bieberstein) herausgestellt. Doron Bar zeichnet nach, wie sich dieser Prozess seit der Gründung Israels 1948 systematisch durch als »heilig« konnotierte Gräber nationaler wie religiöser Persönlichkeiten wiederholt, um das Nationalgefühl und der Besitz des Landes (auch des besetzen Gebietes) zu festigen.
Die christliche Semiotisierung in byzantinischer Zeit durch Kirchen an Erinnerungsorten des Wirkens Jesu in Galiläa hinterlässt in den rabbinischen Schriften keine Spur, so Eyal Ben-Eliyahu, der dies als bewusstes Ignorieren interpretiert.
Katia Cytryn-Silverman weitet den Blick für die multireligiöse Dimension des Felsendoms. Kunst und Architektur verknüpfen die Tradition des Grabes Adams mit Moses und Jesus an diesem Ort, so ihre These, die den weiteren (und bisher dominant beachteten) Traditionen um Abraham, David, Salomo und Muhammad zu­grunde liegt und die interreligiöse Dimension dieser Stätte ausmachen.
Wie bedeutsam Jerusalem und Hebron in früher islamischer Zeit für Pilger waren, erschließen Tamar Kadar und Gila Vachman aus einem Midrasch-Manuskript mit einer Ergänzung des 11. Jh.s.
Die Synagoge von Sardis in Kleinasien lässt auf eine blühende jüdische Gemeinschaft schließen, bis sie von den Sassaniden zerstört wurde. Steven Fine äußert Zweifel an den bisher angenommenen interreligiösen convivium in der Stadt, da es dafür keine Belege, sondern nur Annahmen gibt.
In einer Reihe von Beiträgen stehen die narrativen, textlichen oder visualisierten Erinnerungen bzw. Präfigurationen Jerusalems und des Tempels im Mittelpunkt.
Der Funktion von Narrativen über wandernde sacred stones geht Vered Tahar nach, wonach der Stein oder ein Stück von ihm als Statthalter für die Erinnerung an heilige Orte, insbesondere an den Tempel, dient und so Synagogen mit Jerusalem verbindet.
Obwohl der Garten Eden (Gen 2,4-3,24) biblisch nicht als holy place konnotiert wird, dominiert dies in der Textrezeption. Ten Hoopen zeigt, dass kultisch und heilig nicht notwendigerweise ineins gehen und wie sich so das spätere Verständnis vom Garten Eden als Präfiguration des Tempels erklären lässt.
Den Diskurs, ob Ps 47 universal oder national gelesen werden kann, löst David Frankel mit der Lesart, dass die universale Perspektive alle als gesegnet preist, die in das Lob einstimmen, dass aber die besondere Position Jakobs einzig bleibt.
Jerusalem wird in der Tora nicht ein einziges Mal genannt. Aufgrund dieser überraschenden Tatsache postuliert Archibald L. H. M. van Wieringen, dass durch das rhetorische Stilmittel der Aposiopose in Altem und Neuem Testament Jerusalem zwar nicht explizit erwähnt, aber doch für alle verständlich angedeutet und somit präsent ist. Diese Repräsentation garantiert für ihn eine nicht-fundamentalistische Lesart, weil Realität und Text nicht übereinstimmen und sich somit eine direkte Identifikation verbietet.
Jerusalem, der Tempel, Jesus oder der Haram tradieren sich im kollektiven Gedächtnis durch das Mittel der Visualisierung. Jüdische, christliche und islamische visuelle Traditionen stellt Shulamit Laderman (mit Abbildungen) vor, die die jeweilige Erinnerung mit den für sie zentralen Elementen bis in die Gegenwart lebendig halten.
Welch unterschiedliche soziale Konstruktionen und Identitätsprozesse ein heiliger Ort wie der Jerusalemer Tempel hervorrufen kann, zeigt Eyal Regev im Vergleich der Psalmen mit der Tempelrolle aus Qumran.
Nach Pieter B. Hartog aktivieren Heilige Stätten multiple Identitäten bei den Besuchern, was anderswo nicht so leicht geschieht. Am Beispiel von Paulus‘ Besuch auf dem Areopag (Apg 17,16-34) und Philostratos’ Leben des Apollonias von Tyana zeigt sich, dass der Besuch fremder heiliger Orte Wissen im Sinne der Weisheit aktiviert und dass eine klare Trennung der Identitäten jüdisch, christlich, griechisch im Römischen Reich zu hinterfragen ist.
Auch die Erinnerungsstätte an den Guten Samariter (Lk 10,25-37), die spätestens seit byzantinischer Zeit bis in die touristisch geprägte Gegenwart Pilgerziel war und ist, prägt eine die ethnischen und religiösen Identitäten transzendierende Qualität, wie Eric Ottenheijm anhand der Geschichte zeigt.
Thematisch eigenständig analysiert Frank G. Bosman die Computerspiele Talos Principle und The Turing Test, der sie als neue Form eines digitalen Pilgerns zu sich selbst versteht.
Vier Beiträge konzentrieren sich auf die die jüngste Gegenwart in den Niederlanden und die Prozesse mit dem Thema Heiligkeit im säkularen Umfeld und urbanen Milieu.
Willem Jan de Hek beschreibt ein Ritual seit 2012 in Amsterdam (mit Abbildungen) am National Remembrance Day für die Toten im 2. Weltkrieg. Hier interessieren die Dynamiken, die so ein punktueller sacred space im öffentlichen Raum auslösen kann.
Gert von Klinken konstatiert, dass sich die Interpretation heiliger Stätten von einer christlichen Interpretation weg hin zu weltlichen Prinzipien menschlicher Bindung und den vorchristlichen paganen Traditionen bewegt. Bevorzugt wird Archäologie, die säkular heilige Orte erklären kann, ohne auf religiöse Erklärungen zurückzugreifen.
Leon Mock verfolgt, wie sich zwei unterschiedliche, aber zustimmende jüdisch-orthodoxe Argumentationen für die Umwandlung einer Kirche in eine Synagoge aufgrund ihres kulturellen Kontextes her (Israel und Niederlande) unterscheiden.
Lieve M. Teugels wiederum widmet sich der Umwandlung der Synagoge in Den Haag in eine Moschee. Ihr geht es um die emotionalen Reaktionen darauf, und ob sie mit den rituellen Vorschriften der Halacha übereinstimmen oder eigenständig sind.
Der Band enthält 26 farbige Abbildungen, ein Quellen- und ein Autorenregister.
Das bearbeitete Themenfeld wurde in den letzten Jahren stark diskutiert. Es überrascht eigentlich nicht, dass das Verständnis von heilig und heiligen Orten höchst divers ist und letztlich von den Identitätsinteressen von Gruppen wie von Individuen abhängt. Das Kaleidoskop heißt zwangsläufig, dass nicht jeder Beitrag für alle gleich bedeutsam ist, auch wenn es interessante Einblicke in Diskurse außerhalb der eigenen Disziplin ermöglicht. Eine inhaltliche Verknüpfung der diversen Perspektiven bleibt jedoch den durch das Buch Wandernden selbst überlassen.