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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1101–1103

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Völkner, Andrea

Titel/Untertitel:

Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart. Ein Beitrag zur Hermeneutik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021. 280 S. = ratio fidei, 75. Kart. EUR 34,95. ISBN: 9783791732992.

Rezensent:

Elisabeth Maikranz

Andrea Völkner, evangelische Pfarrerin und Theologische Referentin bei der Berliner Stadtmission, greift in ihrer Dissertationsschrift die gegenwärtig wichtige Frage nach Ansatzpunkten religiöser Lebensdeutung auf. Die Arbeit wurde von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin im Sommersemester 2020 als Dissertation angenommen und von Notger Slenczka und Georg Essen begutachtet.

Trifft die christliche Botschaft noch die Lebensrealität der Menschen? Angesichts sinkender Mitgliederzahlen der Kirchen stellt sich diese Frage dringlicher denn je. V. greift diese Frage auf und setzt bei der »Verzeitlichung« (14) der Lebensdeutung an: Nicht mehr Jenseits und Diesseits kennzeichnen moderne Konzepte von Lebensdeutung, sondern das Zeiterleben und die Gegenwart rücken ins Zentrum. Hier überschneiden sich Vergangenheit und Zukunft, Bedeutsamkeit und Flüchtigkeit von Zeit. Dass der Mensch sich »in der Opposition aus Vergangenheit und Zukunft« (15) verorte, zeigt nach V., dass er sich als Teil eines Ganzen versteht, worin sie Religiosität angelegt sieht, wenn sie mit Gräb und Feldtkeller annimmt, dass diese nicht allein in institutionalisierten Religionen begegnet, sondern »bereits funktional im Ausgriff aufs Ganze Gestalt annimmt« (15). In ihrer Studie will V. nun die These erhärten, dass im Gegenwartserleben des Menschen ein Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz auszumachen ist, der religiös verstanden werden und an den eine christliche Existenzhermeneutik anschließen kann. Damit soll gezeigt werden, dass ein »Brückenschlag zwischen einer verzeitlichten« (16) Gegenwartsdeutung und einer spezifisch christlichen plausibel und möglich ist.

Um den Zusammenhang von Gegenwartserleben und Trans-zendenz theologisch zu erhellen, untersucht V. die Bedeutung von Gegenwartserleben in den Geschichtstheologien des römisch-katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar und des lutherischen Theologen Wolfhart Pannenberg. Die Auswahl ist weniger durch ein ökumenisches Interesse bedingt, als vielmehr durch thematische Gemeinsamkeiten. V.s Studie teilt sich in zwei Hauptteile (II., III.), in denen sie zunächst die entscheidenden theologischen Grundentscheidungen und Einflüsse (II.2, III.2) für die jeweilige Geschichtstheologie voranstellt. Dadurch werden unterschiedliche Ausgangspunkte deutlich: Während Balthasar zwar in seinem theodramatischen Entwurf dogmatische und existenzhermeneutische Aspekte vermittelt, so gründe seine individualitätstheoretische Existenzhermeneutik doch in der Christologie (II.3) und sei damit durch »eine[n] hohen dogmatischen Voraussetzungsreichtum gekennzeichnet« (137). Für Pannenberg hingegen macht sie einen anthropologischen Ansatzpunkt stark (III.3), auch wenn dessen Anthropologie werkgeschichtlich auf die offenbarungs- theologische Reflexion folgt. Es geht ihr vielmehr um »eine der Systematik hinter seiner Systematik verpflichtete[n] Darstellung« (145), die Pannenbergs programmatische Idee der Offenbarung als Geschichte »in einer Scharnierfunktion« (145) zwischen theologischer Anthropologie und Dogmatik wahrnimmt. Schließlich arbeitet sie die Gegenwartsverständnisse der beiden Theologen heraus (II.4, III.4) und stellt sie abschließend vergleichend gegenüber (IV).

Balthasars Gegenwartsverständnis entfaltet V. anhand von sieben »Schlüsselthemen« (74). Ausgangspunkt ist die Fragmenthaftigkeit des menschlichen Daseins, die den Menschen vor die Frage nach dem Ganzen stellt, welche er jedoch selbst nicht beantworten kann (II.4.1). Auch wenn damit die menschliche Existenz von Balthasar ernst genommen wird, arbeitet V. heraus, dass der römisch-katholische Theologe den Menschen immer trinitarisch »unterfasst« (137) vorstellt: Der Einzelne kommt allein in seiner Situation im Theodrama in den Blick. So ist die menschliche Lebensgegenwart zwar immer Zeit des Fragens, aber zielt auf die Antwort in Jesus Christus, von dem her das »Lebensjetzt […] als angenommenes Fragment verstehbar« (80) wird. Das fundamentale Frage-Antwort-Verhältnis von Mensch und Christus konstituiert menschliche Lebensgegenwart als dialogischen Begegnungsraum (II.4.2), Raum der Freiheit (II.4.3) sowie der Entscheidung für oder gegen Gott. Durch Christus eröffnet sich ein »Spiel-Raum« (99) in dem der Mensch herausgefordert ist, seine Rolle, d. h. seine Sendung zu erkennen, anzunehmen und so er selbst zu werden (II.4.4). Die Lebensgegenwart des Einzelnen ist daher »Raum der Realisation theodramatischer Akte« (133). Die Einbettung der Individuen in größere Zusammenhänge profiliert V. schließlich mit Blick auf das »nachchristliche« (114), d. h. gegenchristliche Zeitalter (II.4.6) und die Rolle der Kirche darin (II.4.7).

Für V. liegt Pannenbergs Stärke darin, dass seine Anthropologie eine »religiöse Deutung des Menschen vom Menschen her« (251) ermöglicht, da der Mensch als antizipatives Geschichtswesen verstanden wird, das auf das zukünftig Ganze ausgreift und so sein Jetzt transzendiert (III.2). Dieser Ausgriff auf Zukunft ist auch der Modus des Glaubens, da die Antizipation des Ganzen zugleich Antizipation der Wahrheit bedeutet, die sich auf Zukunft hin bewähren muss (III.2.3). Diesem Vorgriff korrespondiert Pannenbergs Verständnis der Offenbarung als Geschichte: In Gottes geschichtlichem Handeln in Jesus Christus wurden Ende und Ziel der Geschichte vorweggenommen (III.3), sodass eine »treffende Antizipation der Wahrheit möglich« (253) werde. Darin fußt nach V. die theologische Gegenwartsdeutung (III.4), welche sie komplementär zur anthropologischen Grundlegung entfaltet: Dem menschlichen Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) korrespondiert das Verständnis Gottes als Macht der Zukunft (III.4.1); die menschliche Zeit (III.2.2) ist Zeitgabe der Ewigkeit (III.4.2); und der antizipative Selbstentwurf des Menschen, der Modus des Glaubens ist (III.2.3), erhält sein Pendant in der Kirche als dem Ort der Gegenwart der Zukunft Gottes.

Mit Balthasar und Pannenberg untersucht V. zwei Entwürfe, für die das Gegenwartserleben des Menschen und dessen fragmentarischer Charakter der Existenz fundamental sind. Dabei werden unterschiedliche Argumentationslogiken deutlich: Während für Balthasar die Gegenwart der Ort des Theodramas immer schon ist, wird die Gegenwart für Pannenberg immer erst von ihrer in Christus antizipierten Zukunft her. Eine Lösung der Fragmenthaftigkeit des Menschen sehen beide Theologen in Jesus Christus (II.4.1, III.3), sodass gerade innerhalb der christlichen Religion auch eine »im eigentlichen Sinn tragfähige Selbstdeutung« (265) möglich wird. Für eine solche macht V. zwei Aspekte stark: Theologische Daseinsdeutung ermöglicht zum einen eine Zukunftshoffnung, die den Menschen in der Gegenwart zu seiner Eigentlichkeit hin befreit und zum anderen kann sie an die »Ambivalenz des Lebens zwischen Selbst- und Fremderhaltung« (26) anknüpfen.

V.s Studie widmet sich einer aktuellen Fragestellung, die sie mit zwei bedeutenden Theologen des 20. Jh.s beantwortet. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Balthasar- und Pannenberg-Forschung. Leider lotet V. das ökumenische Potential dieser Gegenüberstellung – gerade auch mit Blick auf die aktuelle Frage – nicht weiter aus. Auch wäre ein vertieftes Weiterdenken der Positionen hinsichtlich inhaltlicher christlicher Antwortmöglichkeiten wünschenswert. So bleiben die Darstellungen eine Anregung für eigenes Weiterdenken und die Suche nach konkreten Anknüpfungspunkten der christlichen Botschaft an die menschliche Lebensrealität.