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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1136–1137

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Krause, Katharina, Stetter, Manuel, u. Birgit Weyel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kasualien als Familienfeste. Familienkonstitution durch Ritualpraxis.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2022. 241 S. = Praktische Theologie heute, 186. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170389243.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Wie orientiert sich die Kasualforschung theoretisch und methodisch, um dem komplexen Feld der lebensbegleitenden Rituale gerecht zu werden, welches zum Verständnis von religionskulturellen Transformationen der Gegenwart besonders aufschlussreich ist?

Der vorliegende Aufsatzband präsentiert in seinen prägenden Beiträgen eine Perspektive, die Kasualien als Teil eines prozessualen Geschehens beobachtet, in dem das doing family – die Konstruk-tion von Familie – und das displaying family – die Präsentation von Familie – im Vordergrund stehen. In dieser Sicht wird das kirchliche Handeln bei Kasualien konsequent als Teil eines festlichen Gesamtgeschehens untersucht, in dem sich ein Übergangsprozess gestaltet. Der Blick fokussiert sich auf die Akteure, die im Zuge dieses Geschehens und – im Forschungsprozess – durch das Erzählen davon ihre familiäre Realität interaktiv formen und darstellen.

Diverse – vor allem soziologische – Forschungskonzepte sind in die Entfaltung dieser empirischen Forschungsperspektive integriert: ethnomethodologische Ansätze, die Theorie sozialer Praktiken und material studies. Die Mehrzahl der Beiträge, die mit Taufe, Übergangsritualen in der Adoleszenz, Trauung und Bestattung ein breites Feld von Themen und Phänomenen abdecken, folgt diesem Forschungsprogramm, das theoretisch am deutlichsten in den Texten der drei Herausgebenden und – mit etwas anderer Akzentuierung – von Christoph Morgenthaler konturiert wird.

In den Beiträgen wird am empirischen Material sehr genau und zuweilen luzide erschlossen, auf welche Weise die sozialen Praktiken im jeweiligen Festzusammenhang die familiäre Konstella- tion hervorbringt und wie die Akteure in der Beziehung zueinander und im Umgang mit Artefakten und rituellen Handlungen den Konstruktionsprozess bestimmen.

In vieler Hinsicht erweist sich die Perspektive als produktiv. Sie weitet den praktisch-theologischen Blick auf das Forschungsfeld, indem sie familiäre und kirchliche Anliegen nicht in erster Linie im konflikthaften Gegenüber thematisiert, sondern sie von vornherein als Konstruktionsprozess wechselseitiger Beeinflussung ansieht. Dies geschieht, indem das Geflecht sozialer Praktiken und Interaktionen aus dem empirischen Material erhoben wird, auf dessen Entstehen alle Beteiligten Einfluss nehmen.

Auch für die pfarramtliche und kirchenmusikalische Praxis ist es hilfreich zu verstehen, dass der kirchliche Beitrag zum kasualen Ritualzusammenhang einen Teil des Ganzen darstellt. Kasualgespräche und Gottesdienst sind wichtige, aber nicht die allein wichtigen, ja: meist auch nicht die wichtigsten Teile der Begehung. Diese Einsicht legt eine realistische Einschätzung der Rolle der kirchlichen Akteure nahe: Es gilt im Blick zu behalten, dass es vor und nach dem kirchlichen Ritual eine Fülle von bedeutsamen Ritualisierungen gibt, die Familie als sozialen Zusammenhang entstehen lassen und – so Manuel Stetter – auch die Toten in diesen integrieren.

Allerdings bleiben nach der sehr bereichernden Lektüre des Bandes auch manche Fragen offen – wie sollte es anders sein? Die dominant soziologische Perspektivierung schließt anderes aus. So erscheint mir nach wie vor auch eine psychodynamische Sicht auf die Transformationen in einem Übergangsprozess hilfreich, um nicht nur das, was auf der Hand liegt, zu würdigen, sondern auch die eher untergründigen sozialen Dynamiken, die emotional und sozial einflussreich sind. Vielleicht hat es mit dem Fehlen dieser Sicht zu tun, dass die familiale Realität mir in den Beiträgen zuwei- len etwas idealisiert erscheint. Ausschluss, Streit, Entwertung, Ängste in der Familie kommen praktisch nicht vor, auch wenn das deutliche Bemühen erkennbar ist, die heutige Vielfalt familiärer Konstellationen im empirischen Material abzubilden. Fraglich erscheint es mir auch, ob es für alle gesellschaftlichen Gruppen zutreffend ist, dass in Übergangssituationen freundschaftliche Netzwerke in primär familiär bestimmte Zusammenhänge integriert werden, wie es manche Ausführungen etwa im Beitrag von Birgit Weyel nahelegen. Könnte es sein, dass die Konzentration auf den Sozialraum Familie manche Konstellationen im Umfeld der Kasualien ausblendet?

Interessant wäre meines Erachtens eine weitere Diskussion darüber, wie die religiöse Dimension des doing family angemessen zu reflektieren ist. In welchen Kontexten trifft es zu, wie Katharina Krause aus ihrem empirischen Material zur Taufe erschließt, dass die familiären Akteure, wenn sie sich denn für ein kirchliches Ritual entscheiden, sich auch in religiöser Hinsicht als kompetent und interessiert erweisen? Und auf welche Weise wären die spannungsvollen Unterschiede zwischen familiären und kirchlichen Interessenlagen deutlicher in das Modell einer wechselseitigen Hervorbringung von Taufe und Familie, das diese Autorin verfolgt, zu integrieren?

Als Leser bleibt man schließlich sich selbst überlassen mit der Frage, wie die systematisch-theologischen Überlegungen von Reiner Anselm zu einem evangelischen Verständnis von Familie in das Forschungsdesign des Bandes insgesamt zu integrieren wären. Damit ist die weitergehende Frage aufgeworfen, inwieweit sich empirische Forschungen auch mit systematisch-theologischem Denken verbinden können und umgekehrt.

Aus diesem Aufsatzband, der im Umfeld eines DFG-Paketantrages zum Thema »Kasualien als Feld und Konzept der Praktischen Theologie« entstanden ist, ist eine Fülle von Anregungen und neuen Perspektivierungen für die Kasualforschung und -praxis zu gewinnen. Erfreulich ist es auch, dass die Autorenschaft der Beiträge im breiten Spektrum vom Studenten bis zum Professor bzw. der Professorin liegt. Ebenso gibt es einzelne Aufsätze aus dem internationalen Kontext (Dänemark) und aus der Soziologie.