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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

846-847

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kolb, Robert, Johansson, Torbjörn and Daniel Johansson [Eds.]

Titel/Untertitel:

Simul. Inquiries into Luther’s Experience of the Christian Life.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 270 S. m. 4 Abb. = Refo500 Academic Studies, 80. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783525565520.

Rezensent:

Volker Leppin

Das anzuzeigende Buch ist eine späte Frucht des Reformationsjubiläums. In diesem Zusammenhang hat die Lutheran School of Theology in Göteborg (Församlingsfakulteten/Gemeindefakultät) vier Tagungen abgehalten, die der schon 1966 von Kjell-Ove Nilsson aufgeworfenen Frage nachgingen, inwieweit der Gedanke des Simul in einer weiten, über den Standardgebrauch im Simul iustus et peccator hinausgehenden Weise dazu dienen kann, die Theologie Luthers insgesamt zu erfassen und damit die Exklusionsformen der Sola mit einem Gegenakzent zu versehen. In der jetzigen Debattenlage ist dies, nicht zuletzt im Blick darauf, dass rund um die Entstehung und erste Rezeption der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GER) darauf insistiert wurde, dass dem Simul iustus et peccator eine exklusive Disktinktionsfunktion zwischen römischem Katholizismus und Luthertum zukomme, ein interessanter Ansatz.

In einem programmatischen Aufsatz entfaltet zunächst Mitherausgeber Torbjörn Johansson die mögliche breite Anwendung des Simul-Verständnisses bei Luther (13–28), die sogar die Sola-Vorstellungen selbst einholen kann, wenn man bedenkt, dass lutherisch der Glaube nie von den Werken getrennt, sondern mit ihnen zusammengedacht wird (27). Wenn J. nun aber verschiedene Aspekte – etwa Schriftlehre, Gesetz und Evangelium, Sakramentenlehre – abschreitet, fällt auf, dass das oft parallel mit »simultaneous« u. ä. verwendete simul ganz unterschiedliche Formen des Zugleich abdecken soll: Paradoxien, ontologische Verhältnisbestimmungen, Parallelität, perichoretische Seinsweise Christi. Die damit notwendige systematische Differenzierung bietet aber weder der Einleitungsaufsatz noch der Sammelband, was dem ganzen Band dann doch eine gewisse Beliebigkeit gibt.

Im ersten Beitrag steuert Oswald Bayer unmittelbar auf die Formel vom Gerechten und Sünder zugleich zu (31–47), von der er in Aufnahme der im Zusammenhang der GER entstandenen Studien des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen zu Recht sagt, dass sie zwar Gewicht bei Luther besaß, in ihrer scharfen unterscheidenden Anwendung aber im Wesentlichen ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist. Für Luther selbst arbeitet er heraus, dass die Einheit des Simul letztlich nur in Gott selbst gewahrt ist. Dem vielleicht tiefgründigsten theologischen Beitrag, Erik H. Herrmanns Studie zu Luthers Anthropologie in seiner Deutung der Hebräischen Bibel (49–61), ist zu wünschen, dass er nicht durch die Veröffentlichung im Zusammenhang eines Sammelbandes für andere Debatten verborgen bleibt, denn er zeichnet außerordentlich fein nach, wie in Luthers Hermeneutik der Hebräischen Bibel nicht das Schema von Weissagung und Erfüllung leitend ist, sondern die durchgängige Beschreibung der Stellung des Menschen vor Gott in spannungsvoller Existenz. Dies ist implizit auch ein wichtiges Votum dafür, dass evangelische Theologie ohne die im Christentum zum Alten Testament gewordene Schriftensammlung nicht gedacht und weiterentwickelt werden kann. Darin mag man nicht nur Bezüge auf jüngere Debatten in der deutschsprachigen Theologie finden, sondern auch auf die Göteburger Gemeindefakultät, die ausweislich ihrer Homepage keine Professur für das Alte Testament vorhält, aber zwei für das Neue (https://ffg.se/kontakta-oss/in-english/; Zugriff 22.5.2023). Auch Robert Kolbs Studie zu Röm 7 (63–78) zeigt Bezüge zu hermeneutischen Debatten, und sei es auch nur wegen des Hinweises in Anmerkung 8, dass die Ergebnisse moderner Exegese Luthers Theologie eben deswegen nur begrenzt tangieren können, weil sie von anderen Voraussetzungen ausgehen als dieser selbst. Dies macht K. dadurch deutlich, dass er zeigt, wie Luther die Simul iustus et peccator-Vorstellung auch in anderen biblischen Stellen als der vieldiskutierten Perikope Röm 7 wiederfindet, sie also gesamtbiblisch verankert.

Auf diese drei Studien, die noch einmal das spezifische Simul von Gerechtigkeit und Sünde bei Luther behandeln, folgen zwei, die das Konzept ausdehnen. Roland Ziegler behandelt das Abendmahl (79–101), wo er nicht nur ein Zugleich von Brot und Leib Christi findet, sondern auch eine temporale Dimension, die die Zeit Jesu mit der Gegenwart verbindet. Die oben anhand des Einleitungsbeitrags gestellte Frage, wie Simul spezifisch und unterscheidend zu fassen ist, wird dadurch freilich eher noch weiter unterstrichen. Johannson hat dabei die Frage der Schönheit nicht eigens als Anwendungsbereich des Simul benannt. Dies tut nun aber in seinem Beitrag Mark Mattes (103–121) und zeigt, wiederum recht nahe an der Frage der Rechtfertigung, wie für lutherisches Verständnis das Erscheinen der Schönheit Gottes sub contrario Grundlage einer eigenen Ästhetik werden kann, die M. zu Recht auch im Mittelalter verankert sieht. Zu der von ihm genannten Brautmystik wäre insbesondere noch die Passionsmystik hinzuzufügen.

Die folgenden Sektionen zu Rezeption und Exegese verlassen naheliegenderweise zu großen Teilen das Reformationsjahrhundert. Daher soll hier nur die allerdings beeindruckende Studie von Timothy Wengert zum Simul iustus et peccator bei Melanchthon ausführlicher gewürdigt werden (103–121). Sie ist eine Monographie in nuce: Wengert geht tatsächlich das gesamte Werk des Praeceptor Germaniae durch, und zwar nicht anhand der Formel selbst, sondern anhand des Grundgedankens, den er, obwohl zur Zeit der Römerbriefvorlesung noch nicht in Wittenberg, schon früh von Luther aufnahm und dann durchhielt. Noch im Osiandrischen Streit wurde der Gedanke produktiv durch eine Weiterführung, die es ermöglichte, Rechtfertigung und Heiligung in einem Simul zusammenzuhalten (142). Es folgen Beiträge zu Kierkegaard (Jakob Waldemar Olsen) sowie zu ethischen Fragen (Harald Jung, Bernd Wannenetsch), und am Ende drei bibelwissenschaftliche Beiträge zu Ex 34,6–7 (Tim Saleska), christologischen Hoheitstiteln (Daniel Johansson) und zu den Seligpreisungen (Timo Laato). Sie sollen offenbar deutlich machen, wie Luthers Bibelverständnis mit einem biblischen Verstehenshorizont zusammenklingt, sind aber als Beitrag zu der im Untertitel formulierten Frage nach Luthers Erfahrung allenfalls indirekt hilfreich.

Am Ende wird man sich fragen müssen, ob es bloßer Zufall ist, dass die Aufsätze dieses Bandes um so instruktiver sind, je näher sie am Ursprungskontext der Simul-Formel, der Rechtfertigungslehre, bleiben. Dessen Ausweitung ist zunächst einmal ein durchaus nachvollziehbares Anliegen, aber sie müsste wohl in einer Weise erfolgen, die den Begriffsgebrauch selbst schärfer in sich differenzierte, als dies hier erfolgt. Die Feststellung, dass es bei Luther an vielen Stellen ein Zugleich gibt, ist nicht unberechtigt. Aber überraschend ist sie auch nicht. Mir fiele es schwer, eine Theologie zu nennen, für welche dies nicht der Fall ist. So darf man gespannt sein, ob dieses Projekt, das ausweislich seiner biblischen Partien und mit seinem systematisch-kirchenhistorischen Fokus geeignet ist, unterschiedliche theologische Disziplinen zusammenzuhalten, weitergeführt und entsprechend spezifischer gefasst wird.